Am 22. August 2012 veröffentliche die österreichische Zeitung der Standard eine Interview mit dem Kriminalpsychiater Hans-Ludwig Kröber zum Fall “Breivik.” Ich zitiere einen Auszug:
“Kröber: … In diesem Fall geht es um eine Person, die ein großes Interesse daran hat, als normal zu gelten. Das kommt bei Psychosekranken nicht selten vor, dass sie ihre Krankheit bestreiten. Sie erleben alles in einem für sie normalen Zustand, ihrer Meinung nach agieren die anderen ein bisschen schräg.
Wenn die Person also ein taktisches Interesse hat, sich dementsprechend zu äußern, kann es sehr schwer werden, die Informationen aus ihm herauszubekommen, wie denn sein subjektives Erleben aussieht. Und Psychiatrie befasst sich nun einmal in großem Umfang mit subjektivem Erleben, wenn jemand beispielsweise Stimmen hört oder Wahngedanken hat. All das findet im Inneren statt, und wir erfahren davon nur, wenn sich der Betreffende äußert.”
Kröber sagt also, kurz gefasst, Folgendes:
- Vom Stimmenhören und Wahngedanken erfahren wir nur, wenn sich die Person entsprechend äußert.
- Psychosekranke neigen dazu, ihre Krankheit zu bestreiten.
Wenn Kröber nur von einem Patienten selbst erfahren kann, dass er eine Psychose hat, wie will er dann wissen, dass er sie dennoch hat, obwohl er sie bestreitet?
Nehmen wir einmal an, ein Verbrechen sei geschehen. Keine Zeugen, keine Indizien, nichts. Allerdings auch kein Alibi. Nur der Angeklagte kann wissen, ob er die Tat begangen hat, das Opfer ist tot. Der Angeklagte betont, er sei unschuldig. Nun sagt der Richter: “Angeklagte neigen dazu, ihre Tat zu bestreiten. Deswegen verurteile ich Sie wegen Mordes.”
Um Kröbers Aussage angemessen würdigen zu können, muss man sich vor Augen halten, dass es keine objektiven medizinischen Verfahren gibt, um eine Psychose zu diagnostizieren. Keine Biomarker deuten auf eine “Krankheit” namens Psychose hin.
Niemand, niemand, lieber Leser, hat ein Alibi. Wir alle können für psychotisch erklärt werden. Was, sagen Sie, Sie verhielten sich völlig normal? Na und? Vielleicht dissimulieren Sie Ihre Krankheit ja nur, verstellen sich. Das kommt bei Leuten wie Ihnen nicht selten vor, dass Sie Ihre Krankheit bestreiten.
Kröber ist Professor für Forensische Psychiatrie und war in seiner Jugend, sofern man einem Wikipedia-Artikel Glauben schenken will, Mitglied in einer Organisation, in der – zumindest auf dem Papier – das dialektische Denken hoch im Kurs stand.
Aus dialektischer Sicht mag dies ja anders erscheinen, aber nach meinem Urteil ist die psychiatrische Diagnostik aufgrund des Begriffs der Dissimulation (Krankheitsverleugnung) eine Selbstimmunisierungsstrategie, die man mit Karl Popper als “doppelt verschanzten Dogmatismus” bezeichnen könnte.
- Sie ist erstens dogmatisch, weil sie nicht auf objektiv überprüfbaren Fakten beruht, sondern auf subjektiven Bewertungen.
- Sie ist zweitens dogmatisch, weil sie nicht anhand der angeblichen Kriterien des subjektiven Urteils widerlegt werden kann. Schließlich kann, wenn der Diagnostizierte die als Grundlage der subjektiven Bewertung dienenden, beobachtbaren Verhaltensmuster nicht zeigt, immer eine Dissimulation unterstellt werden. “Dass Sie so vernünftig reden, beweist doch, wie verrückt Sie sind, sonst hätten Sie es doch gar nicht nötig, so zu tun als ob.”
Dies zeigt, dass die psychiatrische Diagnostik, gemessen an gängigen wissenschaftstheoretischen Kriterien, nichts mit Wissenschaft oder gar mit Naturwissenschaft tun hat. Es handelt sich vielmehr um eine strategische Etikettierung, die politische und wirtschaftliche Ziele verfolgt.
Damit will ich nicht behaupten, dass dies jedem Psychiater auch bewusst ist. Es fällt mir zwar schwer, mir vorstellen, dass man so etwas nicht bemerken kann, aber es soll ja Leute geben, denen das einfach nicht gegeben ist.
Eine Diagnose, die sich gegen Kritik immunisiert, kann keine wissenschaftliche sein. Denn der Motor jeder Wissenschaft ist die Kritik. Damit aber eine Diagnose kritisierbar sein kann, muss sie in einer überprüfbaren Form vorgetragen werden. Es muss also Kriterien geben, die unabhängig von Diagnostiker festgestellt werden können. Ist dies nicht der Fall, dann ist die Diagnose nicht falsifizierbar und demgemäß ein Dogma.
Ich erinnere mich noch gut an meine Studentenzeit. Damals war der Kommunistische Bund Westdeutschlands sehr aktiv. Von Spöttern wurde er auch “KB Wichtig” genannt. Mitunter stritt ich mich mit seinen Anhängern. So warf ich einmal ein, Karl Marx habe gemeint, dass in der Übergangsphase zwischen Kapitalismus und Kommunismus der Staat absterben werde. Stalin aber habe behauptet, der Aufbau des Sozialismus würde durch die Stärkung der sozialistischen Staatsmacht gefördert. Dies sei doch ein Widerspruch. Mitnichten, hieß es. Nur: um dies zu verstehen, müsse man dialektisch denken können. Dies sei mir nicht gegeben.
Nein, danke. Meine Großmutter sagte gern: “Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr!” Diese Art des dialektischen Denkens habe ich nie gelernt, und darum kann ich natürlich heute nicht mit jenen mithalten, die sie offenbar immer noch anwenden.
Karl Popper plädierte für eine freie Gesellschaft und meinte, Vertreter totalitärer Positionen hätten einen Hang zur Dialektik, die darin bestünde, logisch Widersprüchliches in einen Wust unverständlicher Sätze zu verpacken und diese mit ein paar Allgemeinplätzen zu würzen, damit der Leser den Eindruck habe, in einem so hochgeistigen Text auch einige Gedanken zu finden, die er auch schon einmal gedacht habe.
Nebenbei: Ich verhehle nicht, dass in Poppers Kritik viel Wahrheit steckt, aber dennoch schießt er hier übers Ziel hinaus. Dialektisches Denken hat seine Berechtigung, wenn es diszipliniert erfolgt. Hierzu empfehle ich die Werke Gotthard Günthers, z. B. “Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik”.
Wo war ich stehengeblieben, ach ja, Kröbers “Breivik”.
“Kröber: Als Psychiater kann ich mir überhaupt nicht erklären, wie jemand, der dem Prozess beigewohnt und ihn auch selbst erlebt hat, ihn nicht für krank erklären kann.
Ich habe Teile der Gerichtsverhandlung gesehen. Und das hat mir gereicht, um zu sagen, da muss jemand jetzt viele gute Argumente anführen, damit ich ihn nicht zum Psychotiker erkläre. Verrückt ist eigentlich ein veralteter Begriff, aber er trifft es hier sehr exakt.
Der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler hat als die drei Kernsymptome der Schizophrenie genannt: Autismus, Affekt- und Assoziationsstörung. Die ersten beiden Symptome sind bei Breivik frappierend ausgeprägt. Er lebt in einer anderen Welt, er ist wirklich verrückt. Er steckt hinter einer Glaswand, wir können ihn sehen, aber nicht erreichen. Und er uns auch nicht”
Kröber hat Teile der Gerichtsverhandlung gesehen – vermutlich eine Videoaufzeichnung. Er hat Breivik beobachtet. Aus seinen Beobachtungen hat er Schlussfolgerungen gezogen. Und zwar hat er aus seinen Beobachtungen auf ein überdauerndes Merkmal, eine Psychose geschlossen. Auf die Idee, dass Breivik Verhalten – zumindest zum Teil – auf seine besondere Situation und die Bedingungen einer Gerichtsverhandlung zurückzuführen sein könnte, also auf eine momentane Beeinflussung, ist er nicht gekommen. Es hat Kröber auch so gereicht.
Aber immerhin: Der Psychiater Eugen Bleuler hat drei Kernsymptome der Schizophrenie genannt. Zwei davon waren bei Breivik “frappierend ausgeprägt”.
Das National Institute of Mental Health (NIMH) ist das weltweit größte Forschungszentrum für psychische Störungen. Auf einer Web-Seite des NIMH heißt es:
“However, in antedating contemporary neuroscience research, the current diagnostic system is not informed by recent breakthroughs in genetics; and molecular, cellular and systems neuroscience. Indeed, it would have been surprising if the clusters of complex behaviors identified clinically were to map on a one-to-one basis onto specific genes or neurobiological systems. As it turns out, most genetic findings and neural circuit maps appear either to link to many different currently recognized syndromes or to distinct subgroups within syndromes.”
Kurz: Die Erkenntnisse der neueren neurowissenschaftlichen Forschung stimmen nicht im Geringsten mit den psychiatrischen Klassifikationssystemen wie ICD oder DSM überein. Punkt. Eugen Bleuler starb 1939.
Mit anderen Worten: Was auch immer das Verhalten Breiviks, das von Kröber beobachtet wurde, hervorgebracht haben mag: Es ist schon reichlich kühn, die Ursache dafür in einer Schizophrenie im Sinne der Beschreibung von Bleuler zu sehen.
Da ich Kröber nicht kenne, will ich ihm auch nichts unterstellen, weder dialektisches Denken, noch sonst irgendeine Form des Denkens oder gar irgendwelche Absichten bzw. das Fehlen derselben. Ich kann hier nur zu Protokoll geben, was mir bei seinem Interview sachlich bzw. fachlich auffällt und logisch nicht stimmig zu sein scheint.
Leser meines Tagebuchs haben vielleicht entdeckt, dass ich mich selbst an eine “Diagnose” der Seelenverfassung Breiviks gewagt habe. Dort komme ich zu dem Schluss, dass es sich bei ihn um einen voll verantwortlichen identitätsgestörten Psychopathen handelt. Besonders eifrige Leser der Pflasterritzenflora wissen natürlich auch, dass aus meiner Sicht Psychopathen keine “psychisch Kranken” sind.
Vielleicht hat Kröber ja recht und ich irre mich. Wir werden nie erfahren, was stimmt. Denn es gibt nun einmal keine objektiven Methoden, dies zu entscheiden.
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