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Über psychiatrische Gewissheit

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Alternative Störungstheorien

Unheimliche Besendung

Unheimliche Besendung

Es gibt Menschen mit seelischen Problemen, die, trotz der Gehirnwäsche durch die Mainstream-Medien und trotz der seit früher Kindheit eingeflößten Glaubenslehre, mit den psychiatrischen Theorien der Ursachen ihrer Störungen nicht einverstanden sind. Sie fühlen sich auch nicht als psychisch krank, sondern als an sich normale, aber von fremden Gewalten beeinträchtigte Zeitgenossen.

Einige dieser Menschen entwickeln selbst alternative Theorien, die meisten aber suchen und finden sie im Internet. Das Netz ist ein Füllhorn alternativer Sichtweisen; und für jeden, der ernsthaft sucht, ist auch etwas dabei.

Die folgende Hitliste der beliebtesten alternativen Erklärungsversuche ist subjektiv. Sie beruht nicht auf statistischen Erhebungen, sondern auf meinen Erfahrungen, die ich im Laufe der Jahre mit den entsprechenden eMail-Schreibern, Anrufern, Briefschreibern und (mitunter ungebetenen) Besuchern gesammelt habe.

  1. Besendung. Diese Menschen glauben, dass ihre psychischen Störungen durch elektromagnetische Strahlungen hervorgerufen werden. Ihr Bewusstsein, so heißt es, würde absichtlich und gezielt mit Mikrowellen oder anderen Strahlungsformen beeinflusst. Die Täter  könnten nicht nur die Gedanken ihrer Opfer bestimmen, sondern auch lesen. Sie seien in der Lage, Stimmen ins Gehirn der Betroffenen zu senden, ihre Gefühle zu manipulieren, Schmerzen zu verursachen, visuelle Halluzinationen hervorzurufen und dies, via Satelliten, an jedem Ort der Welt.
  2. Hypnose. Diese Menschen sind davon überzeugt, dass sie gegen ihren Willen und ohne ihr Wissen hypnotisiert worden seien. Ihre psychischen Störungen seien das Ergebnis posthypnotischer Befehle. Die mutmaßlichen Täter sind oftmals verflossene Liebhaber oder Menschen, die man zunächst verehrte, von denen man sich dann aber enttäuscht sah.
  3. Telepathie. Diese Menschen behaupten, dass paranormal begabte Täter sie mit ihren mentalen Kräften unterjochen und zu Gedanken, Gefühlen und Handlungen zwingen würden, die ihnen von Natur aus fremd seien. Sie könnten natürlich auch die Gedanken ihrer Opfer lesen. Auch hier wird häufig derselbe Tätertyp verdächtigt wie im Fall der Hypnose.
  4. Ernährung. Diese Menschen glauben, dass ihnen ohne ihr Wissen und Einverständnis Schadstoffe ins Essen oder Trinken gemischt würden, die ihr Verhalten und Erleben negativ beeinflussen.
  5. Mikroben. Bei diesen Menschen treten Mikroben an die Stelle der anorganischen Schadstoffe, von denen sich die Menschen des Typs 4 beeinträchtigt fühlen. Auch diese Menschen sind davon überzeugt, dass sie absichtlich mit diesen Organismen infiziert würden.
  6. Schmutzige Tricks. Diese Menschen meinen, dass bestimmte Personen Bekannte oder Angehörige bestimmter Gruppen (Illuminaten, Juden, Außerirdische etc.) sie mit heimtückischen Manipulationsmethoden zu beherrschen und auszubeuten versuchten. Zumeist sind diese Menschen nicht in der Lage oder willens, die Art dieser Methoden nachvollziehbar zu erklären.
  7. Magische Kräfte. Diese Menschen glauben, dass irgendeine Form der Zauberei für ihre Misere verantwortlich sei, wobei die Täter meist angeblich mit Dämonen im Bunde stehen.
  8. Versteckte Botschaften. Aus Sicht dieser Menschen sind ihre Störungen das Resultat versteckter, unterschwelliger Botschaften, die in Fernsehsendungen, Filme, Musikstücke, aber auch Briefe, Mails und andere Kommunikationsmittel eingearbeitet wurden.
  9. Satanische Rituale. Diese Menschen glauben, sie seien in ihrer Kindheit von Satanisten mit Mind-Control-Methoden programmiert worden. Die entsprechenden Programme würden sie nunmehr immer noch aus dem Unbewussten steuern.
  10. Männer. Für diese Menschen, meist Frauen, steht fest, dass Männer generell durch ihre Art des Verhaltens sie zu Gedanken, Empfindungen und Handlungen zwingen würden, die ihnen im Grunde wesensfremd seien.

Diese Liste kann keinen Anspruch auf Vollzähligkeit erheben, denn eine große Zahl von Störungstheorien, die mir mitgeteilt wurden, ist sehr individuell und lässt sich keiner übergeordneten Kategorie zuordnen. Rund neunzig Prozent der Menschen, die mit mir wegen seelischer Befindlichkeiten Kontakt aufnehmen, tragen eine dieser nicht-psychiatrischen Ätiologien vor. Dies ist natürlich nicht repräsentativ, da ich als Psychiatriekritiker gelte und ein Buch über Bewusstseinskontrolle und den Missbrauch der Hypnose geschrieben habe. Diese mit der Psychiatrie unzufriedenen Menschen fühlen sich also oftmals zu mir hingezogen.

Auch wenn ich gern einräume, dass ich diese alternativen Störungstheorien  für weniger abenteuerlich halte als die Krankheitslehren der Psychiatrie, so will ich doch nicht verhehlen, dass es mir häufig schwerfällt, ein Lächeln zu unterdrücken, wenn mir zugemutet wird, solche Stories ernst zu nehmen. Was mich zum Lachen reizt und weswegen mir gleichzeitig das Lachen im Halse steckenbleibt, sind zwei charakteristische Merkmale der Menschen, die sie mir erzählen: Sie haben erstens keinerlei Zweifel an der Wahrheit ihrer Theorie und zweitens auch keinerlei Beweise. Sie sehen dies aber nicht als Manko, sondern nehmen es als Selbstverständlichkeit hin.

Oft haben diese Menschen eine Odyssee durch psychiatrische Praxen und Kliniken hinter sich und es mag sein, dass diese Reflexionslosigkeit das Ergebnis der sekundären Sozialisation in psychiatrischen Subkulturen darstellt. Denn auch in der Psychiatrie zweifelt man nicht, hat man keine Beweise und nimmt dies als Selbstverständlichkeit hin. Doch sogar wenn dies eine Erklärung sein mag; eine Entschuldigung ist dies noch lange nicht.

Rätsel

Die so genannten psychischen Krankheiten erscheinen rätselhaft. Menschen tun Dinge, die andere nicht verstehen, mitunter verstehen die Betroffenen sich selbst nicht mehr. Es scheint keinen vernünftigen Grund zu geben, der ein geheimnisvolles Muster des Verhaltens oder Erlebens rechtfertigt.

Natürlich:

  • Wenn ein Künstler sich verrückt benimmt, dann, so glauben wir zu wissen, tut er dies, um Aufmerksamkeit zu erregen, um seine Werke oder auch nur seine Person gut zu verkaufen. Unter diesen Umständen würden wir nicht annehmen, dass er tatsächlich verrückt sei.
  • Wenn ein Student, der sich vor einer Prüfung fürchtet, weil er faul war oder für sein Fach nicht begabt ist, und wenn uns dieser Sachstand bekannt ist, dann wissen wir, was wir davon zu halten haben, wenn er sich vom Arzt wegen einer Depression krankschreiben lässt.
  • Doch wenn wir es drehen und wenden können, wie wir wollen, wenn wir die Zitrone quetschen und quetschen, aber kein Tröpfchen einer plausiblen Erklärung will hervorquellen, dann muss der Mensch wohl psychisch krank sein. Muss er das?

Menschen hätten gern für Dinge, die sie nicht verstehen, eine Erklärung, vor allem dann, wenn sie möglicherweise bedrohlich sind. Menschen, deren Verhalten und Erleben wir nicht begreifen, stehen immer unter Verdacht, bedrohlich zu sein, denn Menschen sind grundsätzlich potenziell gefährlich, und nur die Berechenbarkeit ihres Handelns kann das Bedrohungserleben mildern. Es mag ja sein, dass dies nicht immer so war, dass Menschen einstmals im Paradies friedlich und schiedlich zusammenlebten und einander tief greifend vertrauten, doch heute, in den Massengesellschaften, in denen die Menschen einander entfremdet sind, ist dies leider, leider nicht mehr der Fall. Der Mensch ist des Menschen Wolf und die Menschen fürchten sich voreinander.

Diese Furcht ist uns zwar nicht immer bewusst, aber sie nagt in unserem Unbewussten an uns, stets bereit, aufzuflammen, wenn irgendetwas nicht stimmt. Schön ist das nicht, zum Teufel, nein, das ist nicht schön. Aber so ist es. Und darum werden die so genannten psychisch Kranken stigmatisiert, weil ihr Verhalten bzw. die Bekundungen ihres Erlebens rätselhaft erscheinen.

Nun, so glauben viele, sei die Psychiatrie dazu da, den Schleier zu lüften. Sie könne ergründen, was an einem Menschen nicht stimme und wisse, was dagegen zu tun sei. Nicht immer, so weiß man, gelingt ihr dies; doch sie biete, davon ist man dennoch überzeugt, den größtmöglichen Schutz vor den Gefahren, die im Rätsel der Seele lauern.

Schaut man genauer hin, und dies habe ich in zahlreichen Einträgen in mein Tagebuch getan, so muss man leider feststellen, dass die Psychiatrie, entgegen diesem Vorurteil, weder die Ursachen der so genannten psychischen Krankheiten kennt, noch zufrieden stellende Behandlungsmethoden entwickelt hat, ja, verschiedene Psychiater sind sich bei ein und derselben Person oft noch nicht einmal einig, ob sie überhaupt psychisch krank sei, und wenn ja, wie die “richtige” Diagnose lautet.

Dennoch aber erzeugt sie mit hochtrabenden Begriffen und undurchsichtigen Theorien den Anschein des Wissens und der Handlungsfähigkeit. Somit lüftet sie nicht den Schleier, sondern sie mystifiziert das ohnehin Rätselhafte zusätzlich (und macht uns letztlich noch mehr Angst).

Kein Rätsel?

Was wäre aber, wenn es das Geheimnis gar nicht gäbe? Wenn das scheinbar Rätselhafte nur darum rätselhaft wäre, weil wir nicht erkennen wollen, was offen auf dem Tisch liegt? Was hindert uns daran, Menschen mit außergewöhnlichen oder krass von der Norm abweichenden Mustern des Verhaltens und Erlebens ernst zu nehmen? Recht eigentlich, Hand aufs Herz: Haben Sie eine bessere Erklärung für das Verhalten und Erleben eines Betroffenen, der Ihnen Rätsel aufgibt, als diese selbst? Dass die Psychiatrie sie im Stich lässt, zeigt die einschlägige empirische Forschung. Die Psychiatrie ist wissenschaftliche Hochstapelei. Und Sie, lieber Leser, können doch auch nur unbewiesene Vermutungen aufstellen. Wäre es da nicht klüger, sich an das Greifbare zu halten?

  • Wenn ein Mensch sich beispielsweise von Außerirdischen verfolgt fühlt, dann will es mir nicht unvernünftig erscheinen anzunehmen, dass er tatsächlich von irgendetwas verfolgt wird, was er für außerirdisch hält. Er verhält sich also, wie ein Mensch, der verfolgt wird, und aus diesem Blickwinkel betrachtet ist sein Verhalten keineswegs rätselhaft.
  • Wenn ein Mensch sich unendlich traurig und leer fühlt, wenn ihm nichts mehr Freude macht, wenn er keinen Antrieb mehr in sich spürt, seine Lage zu verändern, dann will es mir nicht unvernünftig erscheinen anzunehmen, dass er ein trostloses Dasein unter erschreckenden Lebensbedingungen führt und sich in einer schier aussichtslosen Situation befindet. Und dies ist aus meiner Sicht auch dann noch vernünftig gedacht, wenn ich seine Lage dem Augenschein nach ganz anders beurteile, denn schließlich stecke ich nicht in seinen Schuhen. So betrachtet ist sein Verhalten und Erleben keineswegs rätselhaft.
  • Wenn ein Mensch von fürchterlichen Ängsten gequält wird und mir diese Ängste irrational vorkommen, dann will es mir dennoch nicht unvernünftig erscheinen anzunehmen, dass diesem Menschen tatsächlich eine Gefahr droht, von der ich nur nichts weiß oder in deren reale Bedrohlichkeit ich mich nicht hineinzudenken oder einzufühlen vermag. Aus dieser Perspektive wahrgenommen ist sein Verhalten und Erleben keineswegs rätselhaft.

Sie können diese Logik auf jedes Symptom einer so genannten psychischen Krankheit anwenden und sie werden stets eine Sichtweise finden, die nicht mit hinlänglicher Gewissheit ausschließt, dass den Handlungsweisen des jeweils betroffenen Menschen ein nachvollziehbarer Sinn zugeschrieben werden kann.

Mitunter hilft es auch, sich zu fragen, unter welchen Lebensbedingungen man selbst in dieser Weise reagieren würde. Wer da behauptet, er könne sich überhaupt keine Lebenslage vorstellen, in der er “depressiv”, “wahnsinnig” oder “angstgestört” werden könne, der hat vielleicht nur nicht gründlich genug nachgedacht oder es fehlt ihm dieses kleine Quäntchen Fantasie, das einen Menschen von einem Affen oder einem Schwein unterscheidet.

Doch rätselhaft?

Es bliebe aber, so heißt es, dennoch das Rätselhafte letztlich bestehen, auch wenn wir zugunsten des “psychisch Kranken” anzunehmen bereit wären, seinem Verhalten einen mutmaßlichen Sinn zuzuschreiben – es sei schließlich nicht sicher, dass uns unsere wohlmeinende Fantasie hier nicht einen Streich gespielt habe.

Dies will ich einräumen. Allein: Diese Einsicht gilt gleichermaßen für das Verhalten und bekundete Erleben, das auf uns nicht rätselhaft wirkt. Vielleicht erscheint uns dieses Verhalten und Erleben nur darum nicht rätselhaft und nachvollziehbar, weil wir nicht genug darüber wissen. Vielleicht ist der Mensch, der begütigend und verständnisvoll den rasenden Irren zu besänftigen trachtet, in Wirklichkeit viel gefährlicher als der Verrückte, vor dem wir uns fürchten, weil er außer sich zu sein scheint. Eingestandene Unsicherheit ist weitaus weniger bedrohlich als falsche Sicherheit.

Wenn wir einen Grund brauchen, warum wir einem Menschen, der uns gegen den Strich geht, aus dem Weg haben wollen, dann ist das Argument, er sei schließlich psychisch krank, da wisse man nicht so genau, auf den ersten Blick zwar ganz brauchbar, aber wenn man genauer hinschaut, so hat es dennoch seine Tücken. Der so Etikettierte kann zwar das Gegenteil nicht beweisen, aber gerade deswegen könnte er sich berufen fühlen, grausame Rache zu nehmen, sobald sich eine Gelegenheit dazu bietet. Sie müssen sich also klarmachen, dass sich, lieber Leser, Ihre persönliche Sicherheit nicht unbedingt erhöht, wenn Sie auf diesem Wege einen Menschen loszuwerden versuchen, dessen Nase Ihnen nicht gefällt.

Bessere alternative Störungstheorien

Eine Störungstheorie, die eine Alternative zur psychiatrischen Krankheitslehre zu sein beansprucht, sollte nicht den Grundmangel psychiatrischen Denkens mitschleppen, der darin besteht, nicht stringent zwischen Hypothesen und Beweisen zu unterscheiden. Dass dies keine lässliche Sünde ist, zeigen Unterbringung und Zwangsbehandlung wegen angeblicher psychischer Krankheit und Selbst- bzw. Fremdgefährdung. Diese Menschen sitzen wegen einer wissenschaftlich unhaltbaren Mutmaßung hinter psychiatrischen Gittern – und nicht etwa, weil ihre Einkerkerung erwiesenermaßen gerechtfertigt wäre. Das ist eine Schande für einen demokratischen Rechtsstaat.

Menschen haben offenbar ein starkes Bedürfnis, sich Erklärungen für Unstimmigkeiten in ihrer Außen- oder Innenwelt zurechtzulegen. Sie neigen dazu, diese Erklärungsversuche für zutreffend zu halten, auch wenn es ihnen nicht gelingt, auf Grundlage dieser Theorien die Unstimmigkeiten zu überwinden. Sobald sie erst einmal von der Wahrheit ihres Hypothesengeflechts durchdrungen sind, werden sie nur noch nach Bestätigungen dafür suchen und dazu tendieren, widersprechende Gesichtspunkte unter den Teppich zu kehren. In dieser Hinsicht unterscheiden sich im Übrigen die Menschen mit psychiatrischer Diagnose in der Regel nicht von denen ohne.

Demgegenüber zeichnet sich die wissenschaftliche Haltung gerade dadurch aus, sich des hypothetischen Charakters unseres “Wissens” stets bewusst zu sein. Selbstverständlich nehmen auch Wissenschaftler nicht immer diese Haltung ein und erliegen mitunter der Verlockung des Dogmatismus. Natürlich wird übertriebener Zweifel zur Untugend, wenn er beibehalten wird, obwohl er nach menschlichem Ermessen nicht gerechtfertigt ist. Doch Auffassungen, an denen nicht aus vernünftigen Gründen gezweifelt werden kann, sind relativ selten. Dies gilt besonders für Auffassungen zu den Merk- und Denkwürdigkeiten des menschlichen Verhaltens und Erlebens.

Eine alternative Störungstheorie, die diesen Namen auch verdient, müsste nicht auf unserem angeblichen Wissen, sondern auf unserem tatsächlichen Nicht-Wissen aufbauen. Sie würde nicht fragwürdige Gewissheiten vermitteln, sondern das Ungewisse, das Rätsel unseres Daseins thematisieren.

Eine alternative Störungstheorie ist keine Theorie von und für Experten, die Bescheid zu wissen vorgeben. Sie ist vielmehr eine individuelle Theorie zum Navigieren in einer unaufhebbar rätselhaften Welt. Psychiatrische und psychologische Gewissheiten gleichen nur zu oft Luftspiegelungen, die, wie eine Fata Morgana den Verdurstenden in der Wüste, in die Irre führen. Sie erscheinen gewiss, aber nur, weil wir uns so sehr danach sehnen.

Wer ernstlich der Psychofalle entkommen will, muss lernen, mit Ungewissheit zu leben. Vielleicht ist dazu die Einsicht ein Ansporn, dass Ungewissheit die Voraussetzung der Freiheit ist. Die Psychiatrie versucht, eine falsche Gewissheit (beispielsweise “Besendung”) durch eine andere falsche Gewissheit (beispielsweise “Dopamin-These”) zu ersetzen; dabei entfaltet sich dann oftmals ein geistiger Ringkampf, in dem im Allgemeinen der Stärkere siegt, nämlich die Psychiatrie, ggf. auch mit Gewalt.

Das ist nicht schön mitanzusehen, weil es unsportlich ist. In der Gewissheitsfrage verstehen Psychiater keinen Spaß und Sportsgeist ist ihnen fremd. Wen wundert es da, dass auch die Patienten oft so verbissen sind, denn schließlich gilt: Wie der Herr, so sein Gescherr.

Viele Psychiatriekritiker sind schon der Gefahr erlegen, auf Basis alternativer Störungstheorien eine neue, eine bessere Psychiatrie zu kreieren. Dies ist verständlich, denn der bohrenden Frage: “Wo bleibt das Positive?” können nur wenige Menschen auf Dauer ohne Antwort widerstehen. Doch eine wie auch immer geartete neue, angeblich bessere Psychiatrie entspricht auf kollektiver Ebene dem falschen Spiel auf der individuellen: Eine falsche Gewissheit soll durch die andere ersetzt werden, es entspinnt sich ein geistiger Ringkampf, in dem schlussendlich der Stärkere siegt, nämlich die gesellschaftliche Elite, deren Dienstmagd auch die neue, keinesfalls aber bessere Psychiatrie sein wird.

Institutionalisierte Gewissheit

Psychiatrie schafft durchaus echte, nämlich institutionalisierte Gewissheit, denn sie ist schließlich ein geregelter und daher vorhersehbarer Ablauf. In dieser Hinsicht gleicht sie eher einem Gefängnis oder gar einem Konzentrationslager als einem Krankenhaus, obwohl sie dessen äußere Form imitiert.

Rund 200.000 Deutschen wird jährlich wider Willen diese Form der Gewissheit nahegebracht. Sie haust auch in dem Motto: “Es wurde schließlich immer schon so gemacht!” Viele, viel zu viele Zeitgenossen verwechseln diese Gewissheit mit der (oft fragilen) Gewissheit, die echte wissenschaftliche Erkenntnis zu vermitteln vermag.

Gegenüber solcherlei Gewissheit des psychiatrisch-juristischen Komplexes sind die alternativen Gewissheiten, die aus den eingangs erwähnten eMails, Briefen und Gesprächen sprechen, selbstverständlich in einer schwachen Position.

Und dies nicht etwa, weil diese Position intellektuell inferior wäre. Ein Mensch, der sich als Opfer von Besendung, Telepathie oder schmutzigen Tricks sieht, versteht nicht weniger von der Problematik als sein Psychiater, der ihn als “schizophren” einstuft. Er hat nur weniger Macht. That’s all.

Bildmaterial

Das Foto wurde in Wikipedia gefunden (Herbertweidner).

The post Über psychiatrische Gewissheit appeared first on Pflasterritzenflora.


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