Neuro-Hype
Dank rasanter Entwicklung bei den Computern und den Tomographen können die Psychiater, Neurologen und Psychologen dem Hirn bei der Arbeit zuschauen und die Bilder werden immer präziser. Der Hype begann in den Vereinigten Staaten und schwappt nun auch nach Deutschland über: Die traditionellen Psycho-Wissenschaften mutieren zur Neuro-Psychiatrie, Neuro-Psychologie, Neuro-Psychotherapie und Neuro-Psychoanalyse.
Die Biologisten sonnen sich im Aufwind. Was ihre Vorväter Ende des 19. Jahrhunderts bereits verkündeten (z. B. Wilhelm Griesinger), bestätigt offensichtlich die moderne Wissenschaft: Psychische Störungen sind Hirnerkrankungen. Dies wird beispielsweise von Thomas Insel, dem Direktor des National Institute of Mental Health (NIMH), des weltweit größten psychiatrischen Forschungszentrums, als Mantra dieser dem amerikanischen Gesundheitsministerium unterstehenden Behörde bezeichnet.
Effekt des Nervensystems
Ist doch klar, oder? Können Brainscans lügen?
Natürlich nicht. Für Leute, die nicht an eine unsterbliche Seele glauben (und deren Zahl nimmt erfreulicherweise zu)… für diese Leute steht fest, dass unser Verhalten und Erleben ein Effekt unseres Nervensystems ist.
Und so ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass sich die Hirnaktivität von Menschen mit extremen Ängsten, abweichenden Gedanken, chronischer seelischer Verstimmung, Störungen der Aufmerksamkeit usw. systematisch von der Hirnaktivität der “Normalen” unterscheidet.
Wenn aber das Verhalten und Erleben grundsätzlich vom Nervensystem abhängt, dann sollte man erwarten, dass sich immer dann systematische Unterschiede der Aktivitätsmuster im Gehirn zeigen, wenn Personengruppen durch unterschiedliche Lebenspraxis gekennzeichnet sind.
Ein so genannter Schizophrener, der beispielsweise früh verrentet wurde und seine Tage vor dem TV-Gerät oder im Patienten-Club einer wohltätigen Organisation verbringt, beschäftigt sich zwangsläufig mit anderen Dingen als beispielsweise ein Architekt, der von morgens bis abends Häuser entwirft und zwischendurch den Ehefrauen seiner Kunden nachstellt. Ein Mensch mit Angst vor Menschen wird sich anders verhalten und etwas anderes erleben als eine Betriebsnudel.
Unterschiede der Hirnaktivität finden sich in der Tat nicht nur in Vergleichen zwischen den so genannten psychisch Kranken und den Normalen.
Taxifahren in London
Die britische Neuro-Wissenschaftlerin Eleanor A. Maguire und ihr Team (1) verglichen Gehirn-Scans von Londoner Taxi- und Busfahrern miteinander. Die Ergebnisse waren verblüffend: Bei den Taxifahrern fanden sich ein vergrößertes Volumen der grauen Zellen im mittleren Hinterteil des Hippocampus und ein verkleinertes Volumen im vorderen Hippocampus, verglichen mit den Busfahrern.
Die Dauer der Arbeit als professioneller Fahrer in London korrelierte nur bei den Taxifahrern mit den grauen Zellen im Hippocampus. Der rechte hintere Teil der grauen Zellen im Hippocampus vergrößerte sich bei ihnen mit zunehmender Fahrerfahrung, während sich das Volumen der grauen Zellen im vorderen Hippocampus verkleinerte.
Die Wissenschaftler testeten nun die kognitive Leistungsfähigkeit der beiden Berufsgruppen. Sie fanden heraus, dass die Fähigkeit, neue visuell-räumliche Informationen aufzunehmen, bei den Taxifahrern gegenüber den Busfahrern eingeschränkt war. Sie folgerten aus ihren Befunden, dass die Gehirne von Taxifahrern, verglichen mit Busfahrern
- zwar, aufgrund ihres vergrößerten hinteren Hippocampus, komplexe räumliche Strukturen besser zu repräsentieren in der Lage sind,
- aber wegen des verkleinerten Volumens grauer Zellen im vorderen Hippocampus schlechter neue räumliche räumliche Informationen verarbeiten können.
Eleanor A. Maguire und ihre Arbeitsgruppe führen die Unterschiede zwischen den beiden ansonsten vergleichbaren Berufsgruppen darauf zurück, dass die Busfahrer festgelegte Routen fahren, die Taxifahrer ihren Kurs jedoch entsprechend den Wünschen ihrer Kunden stets neu bestimmen müssen.
Die Funktionen des Hippocampus sind vielfältig und selbst die bescheidenste Skizze des gegenwärtigen Wissens über diese Struktur würden den Rahmen dieses Beitrages sprengen. Daher beschränke ich mich auf den im vorliegenden Zusammenhang wichtigsten Gesichtspunkt. Der Hippocampus spielt eine zentrale Rolle bei der Konsolidierung von neuem Gedächtnismaterial.
“Der Hippocampus und der darüberliegende entorhinale Cortex müssen die verschiedenen Repräsentationen der gesamten Umgebung, die während des Lernens präsent sind, zeitlich wie örtlich miteinander verketten. Die Herstellung eines solchen Kontexts ist vor allem dann notwendig, wenn neue Situationen und neues Lernmaterial eingeprägt werden müssen, da in einer solchen Situation neue Wahrnehmungen und neue Gedanken, die bisher nicht assoziativ miteinander verbunden waren, miteinander verbunden werden müssen.” (5)
Bedeutet dies, dass diese Normabweichung pathologisch ist, dass es sich beim Taxifahren in London um eine “psychische Krankheit” handelt?
Neurophysiologische Normabweichungen berechtigen also nicht an sich zu einer psychopathologischen Diagnose. Vor allem aber ist keineswegs klar, ob neuronale Normabweichungen die Ursache oder die Folge des von der Norm abweichenden Verhaltens sind.
Es wäre jedenfalls kaum plausibel anzunehmen, dass Menschen mit einem angeboren vergrößerten Hippocampus nicht eher ruhen, bis sie Taxifahrer in London geworden sind. Plausibel aber ist es, dass z. B. “pathologische” Normabweichungen der Hirnaktivität bei Schizophrenen durch die Vielzahl der Psychopharmaka hervorgerufen werden, die sie einnehmen müssen (6).
Sind wir nicht alle ein bisschen Bluna?
Die Marketing-Experten der Pharma-Industrie sollten sich durch solche rationalen Erwägungen aber nicht vom Kurs abbringen lassen. Schließlich zeigen die Befunde der Neuro-Marketing-Forschung eindeutig, dass der Konsument bei seiner Kaufentscheidung von seinen Emotionen beherrscht wird.
Die fürs Emotionale zuständigen Hirnareale leuchten beim Brain-Scan auf wie Weihnachtsbäume, wenn Konsumenten in der Röhre zwischen Waren wählen sollen.
Allein die Erwähnung einer Marke wirkt da Wunder. Falls man auf Coca Cola steht, “schmeckt”dem Gehirn die braune Brause gleich deutlich besser – gemessen an den Reaktionen der für diese Empfindung zuständigen Hirnregionen – wenn der Versuchsperson zuvor mitgeteilt wird, es handele bei dem zu Test-Getränk um ein Produkt dieser Firma. Ohne diesen Hinweis ist das Gehirn weitaus weniger entzückt (2).
Happy Pills
Was für Coca-Cola gilt, sollte doch auch auf Psychopharmaka zutreffen. Zwar haben beispielsweise die Forschungen von Kirsch und Sapirstein (3) gezeigt, dass Antidepressiva kaum wirksamer sind als Placebos – aber warum sollte man sich wegen fehlender echter pharmakologischer Wirkungen übermäßige Gedanken machen, wenn die gefühlsmäßig schlichte Botschaft, ein Medikament entstöre zuverlässig das Gehirn, seine Placebo-Wirkung nicht verfehlt, also wahre Wunder wirkt im angeblich kranken Gehirn?
Dass die teilweise verheerenden körperlichen Nebenwirkungen dieser Psycho-Drogen keineswegs suggeriert, sondern verdammt real sind, steht auf einem anderen Blatt (4).
PS
Brainscans können zwar nicht lügen, aber täuschen. Sie täuschen vor allem jene, die sich mit den statistischen Methoden zu ihrer Auswertung nicht auskennen und sich nicht klar vor Augen führen, dass beim gegenwärtigen Entwicklungsstand der bildgebenden Verfahren die Möglichkeit eindeutiger Aussagen eher die Ausnahme als die Regel ist (7).
Mit anderen Worten: Die These, dass unser Verhalten und Erleben ein Effekt der Arbeit unseres Nervensystems sei und sonst nichts, ist zwar aus meiner Sicht die plausibelste aller seriösen Erklärungsalternativen – bewiesen, hieb- und stichfest empirisch abgesichert ist sie aber noch nicht.
Anmerkungen
(1) Maguire, E. A. et al. (2006). London Taxi Drivers and Bus Drivers: A Structural MRI and Neuropsychological Analysis. HIPPOCAMPUS 16:1091–1101; Maguire, E. A. et al. (2000). Navigation-related structural change in the hippocampi of taxi drivers. In: PNAS, April 11, 2000, vol. 97, no. 8, 4398 – 4403
(2) Hans-Georg Häusel(2010). Think Limbic! – Die Macht des Unbewussten verstehen und nutzen für Motivation, Marketing und Management (4. Auflage). Freiburg: Haufe-Verlag
(3) )Kirsch I, Sapirstein G (1998) Listening to Pr-zac but hearing placebo: A meta-analysis of antidepressant medication. In: Prevention and Treatment, No. 1
(4) Antonuccio, D. & Healy, D. (2012). Review Article. Relabeling the Medications We Call Antidepressants. Scientifica, Volume 2012 (2012), Article ID 965908, 6 pages
(5) Schmidt, R. F. (1998). Neuro- und Sinnesphysiologie. Berlin, Heidelberg, New York: Springer, Seite 418 f.
(6) Moncrieff, J. (2013). Antipsychotics and Brain Shrinkage: An Update. Mad in America
(7) Hasler, F. (2013). Neuromythologie. Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung. Bielefeld: transcript. Verlag für Kommunikation, Kultur und soziale Praxis; Interview mit Hasler im Spiegel: Kritik an Neuroscans: “Hirnforscher sollten nicht überreizen”
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