Ein Bundestagsabgeordneter lässt sich Fotos und Videos von nackten Kindern schicken. Das kommt raus. Die Empörung ist natürlich groß. Härtere Strafen werden gefordert. Und, klar, auch Therapie. Die Pädophilen seien Kranke, so heißt es, und deswegen gehörten sie in Behandlung, die ihnen das sexuelle Interesse an Kindern austreiben solle.
In Talkshows versammeln sich Politiker und Therapeuten. Die Politiker fordern mehr Therapien und die Therapeuten mehr Geld. Ich habe in der Pflasterritzenflora wiederholt darauf hingewiesen, dass die Psychiatrie über keine objektiven Verfahren zur Diagnose der so genannten psychischen Krankheiten verfügt. Dies gilt natürlich auch für die so genannten Paraphilien. Nun wäre es ja egal, ob einschlägige Therapien Krankheiten behandeln oder nicht, wenn sie nur die Rückfallquote bei den behandelten Sexualstraftätern senken würden.
Schaut man sich die Forschungsliteratur zu diesem Thema allerdings genauer an, so muss man leider feststellen, dass sie zur Therapie von Sexualstraftätern im Allgemeinen und zur so genannten Pädophilie im Besonderen eher spärlich ist. Ein gründliche Analyse vorliegender Übersichtsarbeiten zu diesem Thema kam beispielsweise zu dem Schluss, dass die Kognitiv-behaviorale Therapie bei einigen Tätergruppen einen allerdings eher mäßigen Erfolg zu haben scheine, dass aber die Primärarbeiten, auf die sich diese Übersichtsartikel beziehen, durch eine niedrige methodische Qualität gekennzeichnet seien: “Eight SRs met the inclusion criteria. Evidence from seven moderate-to-high quality SRs suggests that cognitive behavioural therapy (CBT) delivered within programs adhering to the risk/need/responsivity (RNR) model has the potential to reduce recidivism. These findings must be tempered as they are mostly based on poor quality primary research.” (1). (SR= systematic review)
Linda Grossman und Mitarbeiter gelangen in ihrer Übersichtarbeit zu einer vergleichbaren Einsicht: “Treatments for sex offenders do exist, and the outcome data are not uniformly discouraging. They are, however, complex, difficult to interpret, and cause for cautious optimism at best (3).
Unter dem Gesichtspunkt der mangelhaften methodischen Qualität einschlägiger Studien ist auch die Einschätzung Des Leiters der Kriminologischen Zentralstelle Wiesbaden, Rudolf Egg zu würdigen, der schreibt: “So zeigten Therapieansätze, die vor dem Jahr 1980 zum Einsatz kamen, kaum positive Effekte, während neuere Verfahren sowohl die allgemeine Rückfälligkeit wie die einschlägige Rückfälligkeit deutlich reduzierten (von 51% auf 32% bzw. 17% auf 10%). Besonders günstig schnitten dabei (bei erwachsenen Straftätern) so genannte kognitiv-behaviorale Verfahren ab (2).”
Gestern, im Fernsehen, bei Günther Jauch, sagte Familienministerin Manuela Schwesig über Pädophile mit Leidensdruck: “Wer den bei sich feststellt, kann gerne eine Therapie machen.” In einem Bericht der Süddeutschen wird diese Aussage mit den Worten kommentiert:
“Mit dieser Aussage offenbart die Ministerin, dass sie wenig weiß von der Realität in Deutschland. Einem Land, in dem Täter und Opfer auf erhebliche Hindernisse und lange Wartelisten stoßen, wenn sie Hilfe suchen. Pädophile, die auf einen Platz in dem Präventionsprogramm “Kein Täter werden” warten, dessen Finanzierung regelmäßig gefährdet und zumeist nur durch Unterstützung von privaten Stiftungen und gemeinnützigen Vereinen möglich wird. Opfer, die zumeist noch länger auf einen Platz in einer Therapieeinrichtung oder bei einem Psychotherapeuten warten und bei Krankenkassen häufig um Bewilligung und Verlängerung der Maßnahmen kämpfen müssen. Kurzum: Es fehlt Geld, viel Geld.“
Das Übliche also: Geld, mehr Geld. Geld für Therapie. Geld für Projekte, von denen niemand auch nur halbwegs sicher sagen kann, ob sie überhaupt etwas nützen. Der ebenfalls in die Runde geladene Journalist Sebastian Bellwinkel mahnt: “Die Politik gibt sich sehr aktiv, doch Maßnahmen wurden bisher kaum umgesetzt, Geld nicht zur Verfügung gestellt. Das rückt das Ganze in die Ecke von hochgradigem Populismus.”
Alle, alle fordern, versprechen Geld, geben Geld aus. Wenn es um ein verteufelt brisantes, hoch emotionales Thema wie Sexualstraftaten, wie insbesondere Pädosexualität geht, dann scheint die Rationalität des Geldausgebens keine Rolle mehr zu spielen. Es wäre allerdings nicht nur aus finanziellen, sondern auch aus Gründen politischer Vernunft wünschenswert, sich diesem Thema mit sachlicher Distanz zu nähern. Straftaten, schwere zumal, sind immer verwerflich, nicht nur sexuelle.
Was bleibt denn, bei nüchterner Betrachtung, anderes übrig, als Sexualstraftäter, wie andere Kriminelle auch, entsprechend der Schwere ihrer Tat zu bestrafen, sie ihre Strafe absitzen zu lassen und sie dann, manchmal mit mulmigem Gefühl, wieder freizulassen? Angesichts der arg begrenzten Möglichkeiten psychiatrischer Diagnostik, Prognostik, Therapie und Nachsorge, um es milde zu formulieren, sind medizinische Maßnahmen und die damit verbundenen Kosten für Sexualstraftäter letztlich nicht zu rechtfertigen.
Solche Maßnahmen mögen das Sicherheitsgefühl in der Bevölkerung verstärken, aber selbst das ist fraglich. Und gerechtfertigt wäre diese Wirkung überdies keineswegs. Solche Maßnahmen mögen die Taschen von Therapeuten füllen, aber wo bleibt die Gegenleistung? Politiker sind fein raus, wenn sie Therapie fordern, denn schließlich erweist man sich so als humaner Zeitgenosse, der die schuldlos schuldig gewordenen Kranken schonen oder gar heilen und gleichzeitig den Schutz von Kindern und Frauen vor sexuellen Übergriffen gewährleisten möchte.
Die vorhandenen therapeutischen Ansätze können jedoch allenfalls als experimentell bezeichnet werden und ihre Ergebnisse wurden bisher noch nicht in einer methodisch sauberen und eindeutig interpretierbaren Form evaluiert.
Angesichts der Bedeutung dieses Problems, angesichts auch der Aufwallungen, die es periodisch auslöst, wenn wieder einmal ein Prominenter verstrickt zu sein scheint, ist es schon verwunderlich, dass die Behandlung von angeblich psychisch kranken Sexualstraftätern sich immer noch in einer experimentellen Phase befindet und bisher noch nicht methodisch einwandfrei bewertet wurde. Zyniker, zu denen auch ich mich mitunter zählen muss, könnten auf die Idee kommen, dies spräche wohl nur dafür, dass man lieber gar nicht so genau wissen wolle, was bei diesen wundersamen Therapien für Pädophile und andere Sexualstraftäter tatsächlich herauskomme. Der Zyniker vergisst hier allerdings zu erwähnen, dass es erhebliche methodische Probleme gibt, die sich der Erforschung solcher Therapien in den Weg stellen. Dies ändern allerdings auch nichts an der Tatsache, dass die Daten fehlen, mit denen man Therapie für Sexualstraftäter als Standardangebot legitimieren könnte.
Bei nüchterner Betrachtung wird man die Pädophilen wohl in Ruhe lassen müssen, solange sie sich nicht passiv (durch Betrachtung einschlägigen, verbotenen Materials) oder aktiv (durch Kinderschändung) strafbar machen. Nach Verbüßung ihrer Strafe sollte man sie ebenfalls nicht mehr behelligen. Mir ist bewusst, dass die erforderliche Gelassenheit bei diesem Thema schwer zu erreichen und durchzuhalten ist. Aber ich sehe keinen anderen gangbaren Weg in einem demokratischen Rechtsstaat.
Anmerkungen
(1)Corabian, P. et al. (2011). Treatment for convicted adult male sex offenders: an overview of systematic reviews. Sexual Offender Treatment, Volume 6, Issue 1
(2) Egg, R. (2003). Einen Königsweg zur Verhinderung gibt es nicht. Kriminalität mit sexuellem Hintergrund. Sicherheit und Kriminalität, Heft 1
(3) Grossman, L. S. (1999). Are Sex Offenders Treatable? A Research Overview. Psychiatric Services, VOL. 50, No. 3
The post Therapie für Sexualstraftäter? appeared first on Pflasterritzenflora.