Manche fordern die Abschaffung der Zwangspsychiatrie, andere, Mutigere, die der Psychiatrie insgesamt. Dies sind Ziele, deren Verwirklichung ich vermutlich nicht mehr erleben werde, wenn sie überhaupt jemals realisiert werden sollten (im Rahmen des herrschenden Systems kann ich mir dies kaum vorstellen). Viele Betroffene, auch solche mit beträchtlichem Hass auf die Psychiatrie, fügen sich achselzuckend in ihr Schicksal, weil sie sich sagen, Widerstand gegen die Psychiatrie bringe ja doch nichts, diese Institution sei einfach zu mächtig, zu groß, um zu scheitern (to big to fail).
Diese weit verbreitete Haltung, die über Wut oder gelegentliche rationale Kritik an den Verhältnissen nicht hinauskommt, ist natürlich Wasser auf die Mühlen der Psychiatrie-Befürworter. Natürlich sei in der Psychiatrie nicht alles Gold, so heißt es, natürlich gäbe es Missstände, schlimme und schlimmste sogar, aber… Da die Unzufriedenen, die Kritiker eben auch nicht wüssten, wie man es besser machen könnte, da sie, sofern sie trotzdem Vorschläge vorbrächten, Ideen verträten, die sich nicht durchsetzen ließen (weil die Mehrheit dagegen sei), müsse man dann wohl doch mit der guten, alten Psychiatrie vorlieb nehmen, da wisse man zumindest, was man habe.
Der Charme des Alltags fasziniert mich, seitdem ich denken kann. Einer der Gründe dafür, dass ich mein Tagebuch “Pflasterritzenflora” taufte, ist darin zu sehen, dass in Pflasterritzen scheinbar nutzlose, oft unscheinbare, als hässlich, als Unkraut erachtete Pflanzen wachsen, die allerdings bei genauerer Betrachtung ein weites Feld vielfältiger und vielschichtiger Bedeutungen besiedeln. Vielleicht muss man ja auch einfach nur genauer hinschauen, um den Sinn der Phänomene zu verstehen, die von der Psychiatrie als nicht nachvollziehbar, als Ausdruck einer Pathologie des Hirns begriffen werden.
Statt Psychiatrie kann jeder mit kleinen einfachen Schritten beginnen, Licht ins Dunkel zu bringen, und zwar durch:
- Verwendung einer angemessenen Sprache. Die Psychiatrie gaukelt uns durch Begriffe wie “Depression”, “Schizophrenie”, “Neuroleptika” oder “Kognitiv-behaviorale Therapie” ein Wissen vor, das sie gar nicht besitzt. Sie kennt weder die Ursachen der angeblichen Krankheiten, die sie behandelt, noch verfügt sie über objektive Verfahren, sie zu diagnostizieren. Weder weiß sie, wie ihre Maßnahmen auf den einzelnen wirken, bei wem sie wirken, noch ist sie in der Lage, das zukünftige Verhalten von Menschen zu prognostizieren. Man kann also das psychiatrische Vokabular ersatzlos streichen, ohne dass man dadurch Informationen preisgibt. Der Kaiser ist definitiv nackt; sein Kleid ist eine Illusion aus hochtrabenden Worten. Demgegenüber ist unsere natürliche Sprache, die Sprache des Alltags reich an Begriffen, die sich auf Verhaltensweisen und Erlebnismuster beziehen, von denen die Psychiatrie behautet, sie seien Ausdruck einer “psychischen Krankheit”. Diese Begriffe zu verwenden, ist nicht etwa weniger wissenschaftlich als das Schwelgen in der psychiatrischen Nomenklatur. Im Gegenteil: Nur wenn wir die Phänomene beschreiben, anstatt sie durch das Verdikt “psychisch krank” aus der Reflexion auszublenden, haben wir eine Chance, uns ihre Bedeutung zu erschließen.
- Exploration statt Konstruktion. Kritiker unterstellen, dass die psychiatrischen Diagnosen soziale Konstrukte seien. Es gäbe die so genannten psychischen Krankheiten gar nicht. Vielmehr hätten sich Psychiater in nationalen und internationalen Gremien angebliche “Krankheitsbilder” nur ausgedacht, nach denen nun Menschen beliebig in Schubladen eingeordnet werden. Dies ist zwar richtig, soweit das Argument trägt, aber es ist nur die halbe Wahrheit. Denn wenn wir die “Krankheitsbilder” dekonstruieren, so bleibt eine Fülle von Verhaltensweisen und Erlebnisformen übrig, die zwar nicht krankhaft, wohl aber für die Betroffenen und / oder ihr Umfeld problematisch sind. Menschen leiden unter Gemütsverstimmungen, sie sehen Dinge, die sonst niemand sieht, sie hören Stimmen, die sonst niemand hört, sie glauben unverrückbar an Ideen, bei denen sich andere fassungslos an den Kopf greifen, sie fürchten sich vor Situationen, Gegenständen und Menschen, die andere für harmlos halten, sie sind “himmelhoch jauchzend zu Tode betrübt”, sie handeln nach dem Motto “Ich hasse dich, verlass mich nicht!” und und und. All dies gibt es ja, durchaus. Darauf kann man sich einlassen. Man muss dies nicht durch eine psychiatrische Diagnose aus dem Bereich des Bewusstseins verbannen, in dem wir ergründen, abwägen, Hypothesen wagen und wieder verwerfen, wenn uns die Fakten dazu zwingen. Die vorschnelle Verwendung eines sozialen Konstrukts aus dem Warenhaus der psychiatrischen Diagnosen führt nicht etwa zu schnellerem und besseren Verständnis, sondern sie führt in die Irre. Eine achtsame Exploration dessen, was tatsächlich abläuft, ist zwar auch keine Garantie für höhere Einsichten, aber immerhin ist sie ein Versuch, der Sache gerecht zu werden.
- Aushalten des Rätsels. Menschen suchen fast zwanghaft nach Erklärungen. Dies scheint in unser Gehirn eingebaut zu sein. Im Grunde ist das ja auch nicht falsch und wir neigen vermutlich dazu, weil es unserer Gattung in grauer Vorzeit einmal einen Überlebensvorteil brachte und daher evolutionär verankert ist. Doch wie alle natürlich “programmierten” Tendenzen stößt auch diese an Grenzen und wird schädlich, wenn wir uns dann nicht zurücknehmen. Nicht jeder Erklärungsversuch nämlich, so plausibel er auch erscheinen mag, trifft auch zu. Gerade bei den Phänomenen, die von der Psychiatrie als “Symptome einer psychischen Krankheit” gedeutet werden, müssen wir lernen, das Rätsel auszuhalten. Nicht alles, was sich hartnäckig dem Rätsel lösenden Verstand widersetzt, ist deswegen auch unsinnig. Vielleicht beruht es auf einem Eigensinn, der nur dem Betroffenen zugänglich ist.
- Respekt vor dem Eigensinn. “Der ist ja verrückt!” Sprüche wie dieser gehen uns leicht von der Zunge. “Der soll mal zum Psychiater!” “Der hat wohl vergessen, seine Pillen zu nehmen!” Solche aus der Hüfte geschossenen Urteile lassen den Respekt vor dem Eigensinn des anderen vermissen. Der Eigensinn ist jener Sinn, den man nicht von der Stange kaufen kann. Er kann uns aus der Gemeinschaft herausreißen, aber nur dann, wenn die Gemeinschaft den Gleichsinn und damit den Gleichschritt über das Recht ihrer Mitglieder stellt, ihre Persönlichkeit frei zu entfalten. Das Recht auf Eigensinn ist aber ein Menschenrecht. Man darf es nur missachten, wenn durch seine Verwirklichung gleichrangige Rechte anderer gefährdet werden – und zwar nicht nur potenziell, sondern real.
- Selektion der Einflüsse. Zum Recht auf Eigensinn gehört auch das Recht, sein Bewusstsein nach Gutdünken zu verändern. Daher sollten selbstverständlich auch alle bewusstseinsverändernden Drogen legal sein. Der Kampf dafür gehört aber nicht zu den kleinen einfachen Schritten und soll deswegen hier nicht weiter thematisiert werden. Weniger problematisch als der Konsum verbotener Drogen ist der Verzicht auf Einflüsse. Das Fernsehen beispielsweise ist heute eine Bewusstseinskontrollmaschine, die sich teilweise verheerend auf unseren Seelenfrieden auswirkt. Dabei meine ich nicht nur die Propaganda der psychiatrisch-pharmawirtschaftlichen Marketing-Apparatur, die uns suggeriert, wir alle seien “psychisch krank”. Sondern hier spreche ich vor allem von den Begehrlichkeiten, die sie weckt und die wir, trotz aller Anstrengungen, niemals befriedigen können. Wer sich an den Schönen und Reichen, an diesen Phantomen der schönen, neuen Welt des TV orientiert, der programmiert sich aufs Unglücklichsein. Weg damit. Ähnliches gilt auch für viele Angebote im Internet. Alles Schrott. Niemand wird mit vorgehaltener Knarre dazu gezwungen, sich dies anzutun. Klar, man will schließlich mitreden können. Bei all dem Geschwätz büßt man aber jeden Eigensinn ein. Und das ist nicht gut. Denn der Eigensinn ist der Sinn unseres Lebens.
- Dickes Fell. Wer sich auf den Weg der einfachen kleinen Schritte macht, muss hart im Nehmen sein. Unvermeidlich wird man in Konflikt mit Mitmenschen geraten, die nichts mehr fürchten, als dass jemand das Selbstverständliche in Frage stellt. Man muss sich also ein dickes Fell anschaffen. Auf die Reaktionen unserer Mitmenschen haben wir wenig Einfluss. Man sollte gar nicht versuchen, sie zu verändern; man ist schließlich kein Psychiater. Großen, ja, den alleinigen Einfluss haben wir auf unsere Reaktionen auf die Reaktionen unserer Mitmenschen. Wir selbst entscheiden, ob wir uns darüber ärgern, ob wir sie ernst nehmen wollen. Obwohl diese Einsicht bereits in der Antike von den Stoikern verkündet wurde, ist sie bis auf den heutigen Tag nicht sehr weit verbreitet. Viele Menschen reagieren beinahe automatisch auf Anwürfe anderer mit Scham oder Zorn, Angriff oder Zerknirschung, und nicht mit Gleichmut.
- Gelassenheit. Gelassenheit kann entwaffnend sein; aber selbst wenn wir uns wehren müssen, weil der Gegner uns keine Wahl lässt, dann sollten wir gelassen bleiben. Abwarten, zuschlagen, vernichten – aber so, als wäre ein anderer es, der unter dem Zwang der Verhältnisse das Notwendige tut – präzise wie ein Schweizer Uhrwerk.
Wie alle meine Listen erhebt auch diese keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Den ganzen Vormittag könnte ich damit vertändeln, über die kleinen einfachen Schritt statt Psychiatrie zu fabulieren. Als Erinnerung an das Selbstverständliche, was so leicht vergessen wird, an das Einfache, was so schwierig zu machen ist, mag dies für den mitdenkenden Leser ausreichen; bei den anderen ist ohnehin Hopfen und Malz verloren. Psychiatrie heißt Entmachtung, vor allem der kleinen Leute. Die allgegenwärtige Propaganda fordert, sich möglichst rasch bei den leichtesten Anzeichen von Lebensproblemen der Psychiatrie anzuvertrauen, um deren Säckel sowie die Schatulle der Pharmaindustrie zu füllen und die Politiker in Sicherheit zu wiegen. Das muss aber nicht sein. Empowerment. Mittlerweile hat sogar schon die Psychiatrie dieses Zauberwort für sich entdeckt, um ihre “modernen, zeitgemäßen Angebote” zu verklären. Die Fähigkeit zu selbstbestimmtem Handeln will sie fördern. Ach, der Einzige, der diese Fähigkeit fördern kann, ist das Individuum selbst. Es muss sich selbst die Krone aufs Haupt drücken. Empowerment ist immer Selbstermächtigung.
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