In meiner Jugend in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts begeisterten mich die Vorstellungen von Karl Marx und Sigmund Freud. Zwei wirklich große Ideen, die damals eher in den Kreisen liberaler und libertärer Denker Anklang fanden, beachtete ich kaum. Heute ist das anders.
Zunächst möchte ich die beiden Ideen, stark vergröbert, skizzieren, bevor ich mich ihrem Urhebern und dem Verhältnis der beiden Denker zueinander zuwende.
Die erste Idee: Krankheiten haben stets eine körperliche Ursache. Spricht man von Krankheiten ohne solche Ursachen, so verwendet man diesen Begriff in einem metaphorischen Sinn. Für keine der so genannten psychischen Krankheiten konnte bisher eine physische Ursache entdeckt werden. Würde aber eine solche für die Phänomene, die als Symptome einer psychischen Krankheit gedeutet werden, entdeckt, so handelte es sich eindeutig nicht um eine psychische, sondern um eine körperliche Erkrankung, beispielsweise des Gehirns. “Psychische Krankheiten” kann es daher aus logischen Gründen nicht geben.
Die zweite Idee: Es ist unmöglich, wissenschaftliche Theorien zu beweisen. Theorien haben die Form allgemeiner Aussagen. Beispielsweise: Alle Schwäne sind weiß. Um diese Theorie zu beweisen, müsste man alle Schwäne des Universums durchmustern und prüfen, ob sie weiß sind oder eine andere Farbe haben. Dies aber geht allein schon darum nicht, weil die Menge der Gegenstände im Universum nicht abzählbar ist. Man weiß niemals, ob man alle in Rede stehenden Gegenstände tatsächlich erfasst hat. Wohl aber kann man Theorien widerlegen. Findet man im obigen Beispiel auch nur einen Schwan, der nicht weiß ist, so ist die Theorie gescheitert.
Die erste dieser beiden großen Ideen wurde von Thomas Szasz, die zweite von Karl Popper vorgetragen. Popper forderte, dass Wissenschaftler nicht versuchen sollten, ihre Theorien zu belegen, was unmöglich sei, sondern zu widerlegen. Dazu müssten diese Theorien in einer Form vorgetragen werden, die sie im Prinzip widerlegbar macht. Aus diesem Grunde kritisierte Popper die Theorien von Karl Marx und Sigmund Freud, weil er meinte, sie hätten diese Form nicht. Dasselbe aber kann man nicht nur über die Theorien Freuds, sondern über alle psychiatrischen Theorien sagen. Wie soll man die These, psychische Störungen hätten eine körperliche Ursache, empirisch testen? Sie wäre aus logischen Gründen immer falsch. Fände man eine Ursache, so handelte es sich nicht um eine psychische Krankheit (sondern um eine somatische); fände man keine, so müsste man annehmen, dass es sich gar nicht um eine psychische Krankheit handele (sondern um etwas nicht Pathologisches).
Eine falsifizierbare Theorie einer so genannten psychischen Krankheit hätte die folgende Form: Einem Verhaltensmuster X liegt ein Hirnschaden Y zugrunde. Fände man nun auch nur einen Menschen mit X, bei dem Y nicht festgestellt werden kann, so wäre die Theorie falsifiziert. So geht die Psychiatrie bekanntlich nicht vor. Sie flutet das Universum mit Studien, die angeblich ihre Theorien belegen, obwohl dies erstens logisch unmöglich ist und obwohl zweitens die Studien sich im Allgemeinen nicht replizieren lassen, was die Voraussetzung für die Gültigkeit von Untersuchungen ist, aus denen statistische Schlussfolgerungen gezogen werden sollen.
Szasz und Popper waren bedeutende Verteidiger des liberalen Geistes und einer offenen Gesellschaft, die dem Dogmatismus von Betonköpfen widerstrebt. Es ist daher nicht weiter erstaunlich, dass sie einander wertschätzten.
“Thank you very much for sending me your truly admirable book, The Myth of Mental Illness. Although my eyesight makes reading difficult, I found it so fascinating that I read it at one go.
It is a most important book, and it marks a real revolution. Besides, it is written in that only too rare spirit of a man who wants to be understood rather than to impress.”
“I greatly appreciate the inscribed copy of your autobiography, which arrived a few days ago. I read it immediately–with the same pleasure and profit with which I have read your other books. I have for long counted you (and Hayek and Mill) as among my foremost teachers…”
Hier handelte es sich wohl nicht um den Austausch billiger Höflichkeitsfloskeln, denn beide Männer verband eine klare und konsequente Geisteshaltung sowie eine entschieden freiheitliche Gesinnung.
Während Szasz und Popper das Heil eher in einem Kapitalismus sahen, der auf den Prinzipien des klassischen Liberalismus beruhte, neige ich vielmehr dem Anarchismus zu, der dem sozialen Gedanken und der Verantwortung der Menschen füreinander größeres Gewicht beimisst. Dennoch sind mir die Überlegungen dieser beiden großen Denker heute wesentlich näher als die Thesen der Helden meiner Jugend: Karl Marx und Sigmund Freud.
Popper an Szasz: “Freedom: – yes. Psychiatry:- no!”
Auch wenn ich mich diesem Schlachtruf natürlich anschließen kann, so bedeutet dies doch nicht, dass ich die Auffassungen von Popper und Szasz in jeder Hinsicht teile. Weder wünsche ich mir eine Gesellschaft, die den Mechanismen des Marktes überlassen bleibt, noch kann ich folgender, von Szasz in seinem Buch “Grausames Mitleid” geäußerten Auffassung zustimmen: “Das SSI-Programm (vergleichbar mit Hartz bzw. Sozialhilfe, HUG)) stellte für Legionen chronischer Psychiatriepatienten geradezu eine ökonomische Unabhängigkeitserklärung dar. Existentiell gesehen ist das Dasein als stationärer Psychiatriepatient immer eine Art Beruf gewesen. Fortan wurde es auch zu einem wirtschaftlich lohnenden Beruf.”
Auch wenn ich also in vieler Hinsicht mit diesen Männern überkreuz liege, so kann ich ihren eingangs skizzierten großen Ideen doch meinen Respekt nicht versagen. Sie sind schlüssig. Alle Versuche, sie zu widerlegen, führen ganz schnell zu einem Wust von Gedanken, zu einem undurchdringlichen Gestrüpp, was ja so oft ein Anzeichen ideologischen Denkens ist.
Es bleibt mir schleierhaft, wie so kluge Leute wie Szasz und Popper übersehen konnten, dass die Idee der “Selbstheilungskräfte” des freien Marktes durch die dem Kapitalismus eingeborene und kaum zu zügelnde Tendenz zum Oligopol, zum Monopol gar, ad absurdum geführt, also falsifiziert wird. Aber das ist eine andere Frage, die nicht zum Themenkreis der Pflasterritzenflora gehört.
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