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Sind Psychiater böse?

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In den geschlossenen Abteilungen psychiatrischer Anstalten werden Menschen gegen ihren Willen festgehalten und mit so genannten Medikamenten behandelt, die erwiesenermaßen die Lebenszeit verkürzen und schwere körperliche Schädigungen hervorrufen können. Im Grunde impliziert jede psychiatrische Behandlung, auch außerhalb eines geschlossenen Rahmens, die Drohung mit einer Zwangsunterbringung und Zwangsbehandlung. Sind Psychiater böse?

Psychiater rechtfertigen die Zwangspsychiatrie im Allgemeinen damit, dass sie dadurch Menschen vor Schaden bewahren. Kritiker halten ihnen entgegen, dass die Psychiatrie “psychische Krankheit” nicht valide diagnostizieren und Gefährlichkeit bzw. Suizidalität nicht treffsicher prognostizieren könne und dass sie außerdem bisher den Beweis dafür schuldig geblieben sei, durch ihre Maßnahmen Menschen vor Schaden zu bewahren, da durchaus nicht ausgeschlossen werden könne, dass psychiatrische Zwangsmaßnahmen die Gefährlichkeit und Suizidalität der Betroffenen sogar steigerten. Sind Psychiater also böse?

Ein psychiatrische Diagnose ist stets ein entschuldigendes moralisches Urteil. Ein Mensch verstößt gegen berechtigte Erwartungen seiner Mitmenschen, aber er ist nicht (uneingeschränkt) schuldig, weil er durch eine “psychische Krankheit” dazu getrieben oder zumindest verleitet wurde. Würden also Psychiater durch eine “psychische Krankheit” zu ihren Taten veranlasst, so könnte man sie auch nicht als böse bezeichnen. Für einen Psychiatriekritiker, der die Existenz psychischer Krankheiten bestreitet, scheidet diese Interpretation psychiatrischen Handelns jedoch aus.

Allerdings gibt es nicht nur innere, sondern auch äußere Zwänge. Wir werden einen Menschen nicht als böse verurteilen, wenn er gar nicht anders handeln konnte, weil ihn die Verhältnisse dazu zwangen. Die Freiheit der Berufswahl spricht allerdings gegen diese Erklärung.

Als böse wird auch nicht gelten, wer zwar Verwerfliches tut, dies aber in der Zuversicht, Gutes zu verrichten. Um Psychiater durch diese Sichtweise zu exkulpieren, müsste man voraussetzen, dass sie an ihre Lehren und die segensreichen Wirkungen ihrer Maßnahmen tatsächlich glauben. Allein, wovon einer aus tiefstem Empfinden überzeugt ist – das wissen wir nicht. Der Wohlwollende wird allerdings geneigt sein, die Bekundung einer Überzeugung für glaubwürdig zu halten, solange keine gewichtigen Gründe dagegen erkennbar sind.

Überzeugungen speisen sich aus vielen Quellen, und so kann eine Überzeugung auch dann genuin sein, wenn die Tatsachen gegen sie sprechen. Fakten vermögen Zweifel an der Echtheit psychiatrischer Überzeugung also nicht zu begründen. Man könnte Psychiatern natürlich unterstellen, nicht der Glaube an die segensreichen Wirkungen ihres Handelns motiviere sie zu ihren Taten, sondern weniger ehrenvolle Motive wie Gewinnsicht, Machtgier oder Eitelkeit. Allein, auch für derartige Unterstellungen müssten wir die Beweise letztlich schuldig bleiben.

Sind Psychiater böse? Was für eine Frage! Für einen großen, vielleicht für den größten Teil der Psychiatriekritiker stellt sich diese Frage gar nicht, weil die Antwort darauf bereits die Voraussetzung ihres Meinens ist: Die Psychiater, so denkt man, sind unsere Feinde und weil sie unsere Feinde sind, weil wir die Guten sind, müssen sie zwangsläufig die Bösen sein. Das ist die Grundlage jeder Politik, das ist ihr offenbares Geheimnis.

Neben der politischen gibt es allerdings auch noch die wissenschaftliche Psychiatriekritik. Wissenschaft ist, dem Anspruch nach, wertfrei, der Objektivität verpflichtet. Nicht immer wird sie diesem Anspruch gerecht, aber dies bedeutet nicht, dass der Anspruch verfehlt wäre. Nur in dem Maße, wie sie objektiv ist, kann Wissenschaft beanspruchen, die überlegene Form des Denkens zu sein. Wissenschaft maßt sich nicht an, beantworten zu können, ob Psychiater böse seien, denn es gibt keine objektiven Maßstäbe für das Böse.

Wenn nicht die Wissenschaft, wer dann könnte die Frage beantworten, ob Psychiater böse seien? Die Philosophen? Laut Kant ist das Böse eine anthropologische Konstante, nämlich die dem Menschen innewohnende Neigung, dem Sittengesetz zuwiderzuhandeln. Das Sittengesetz allerdings ist Ausdruck dessen, was die Allgemeinheit für sittlich bzw. anstößig hält – und das Verwahren und Behandeln von “psychisch Kranken” in Anstalten wird nun einmal von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung gutgeheißen.

Dies bedeutet allerdings nicht, dass damit die Frage, ob Psychiater böse seien, aus Sicht der Philosophie schon beantwortet wäre. Denker, die dem Menschen ein natürliches Recht einräumen, sich seiner Freiheit zu erfreuen, werden den Psychiater nicht leichten Herzens exkulpieren. Wie in den anderen Bereichen des Daseins ja auch, dürfen wir bei dieser Frage von Philosophen keine eindeutigen Antworten erwarten.

Es gibt Theologen, die Schwerter zu Pflugscharen umschmieden wollen und solche, die Waffen segnen. Auch was die Frage betrifft, ob Psychiater böse seien, werden wir sie diesseits und jenseits der Front antreffen. Sie sind also in dieser Hinsicht keine Hilfe.

Letztlich bleiben nur die so genannten Betroffenen selbst, also jene, die psychiatrisch behandelt wurden. Unter diesen Menschen finden sich solche, die voll des Lobes sind und solche, die von Höllenqualen sprechen. Zwischen diesen Extremen siedeln jede Menge gemischte Gefühle.

Nur Hugo weiß, ob Psychiater böse sind. Doch wo steckt Hugo?

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