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Warum wird einer “psychisch krank”?

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1966 stellten sich Forscher die Frage nach Unterschieden im Geschick von Wunschkindern und “Betriebsunfällen”. Rund 11.000 Mütter in Nordfinnland wurden vor der Niederkunft befragt. Es ging darum, ob das Kind geplant war und ob sie eventuell eine Abtreibung erwogen hatten.

28 Jahre später analysierte ein Team aus britischen und finnischen Forschern den Entwicklungsweg der in die Untersuchung einbezogenen Kinder. Es zeigte sich, dass unerwünschte Schwangerschaften im Vergleich zu den gewollten eine vierfache Steigerung des “Psychose”-Risikos bei den betroffenen Kindern mit sich brachten.

Dieser Zusammenhang blieb auch nach Berücksichtigung verzerrender sozio-demographischer und medizinischer Faktoren erhalten (1). Ein nicht erwünschtes Kind zu sein wirkt sich im Übrigen auch negativ auf den Bildungsgang aus (3).

Dies ist ein Beispiel für eine größere Zahl von Studien, die den Zusammenhang zwischen Umweltfaktoren und den so genannten “psychischen Krankheiten” belegen. Demgegenüber ist uns die so genannte biologische Psychiatrie einen Beweis für genetische Determinanten “psychischer Krankheiten” bisher schuldig geblieben – auch wenn in den Medien immer wieder einmal zu lesen ist, dass etwa ein Schizophrenie- oder Depressions-Gen entdeckt worden sei. In Sachen “psychische Krankheiten”  ist die genetische Forschung grandios gescheitert (2).

Des medialen Lärms, den die biologische Psychiatrie und die mit ihr verbündete Pharmaindustrie veranstalten, zum Trotz, stellt sich die momentane Forschungssituation wie folgt dar: Im Vergleich zur Fülle von Studien zu den sozialen, ökonomischen und psychologischen Faktoren (4) nehmen sich die Untersuchungen zu den genetischen Determinanten “psychischer Krankheiten” kläglich aus.

Dies spricht eindeutig gegen die Grundthese der biologischen Psychiatrie, die der frühere Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde, Peter Falkai gegenüber der Apotheken-Umschau in folgende Worte goss:

„Ein Psychose-Kranker in der akuten Situation hat ein Problem mit dem Gehirnbotenstoff Dopamin. Diese Menschen brauchen dann ein Medikament, genauso wie ein Patient mit zu hohem Blutzucker Insulin braucht.“

Erstens ist die Dopamin-These im Licht der empirischen Forschung nicht mehr haltbar (5), und zweitens gibt es kein psychiatrisches Medikament, das eine dem Insulin vergleichbare Wirkung hätte.

Unter diesen Bedingungen liegt es natürlich nahe zu vermuten, dass die so genannten psychischen Krankheiten keine Gehirnerkrankungen, sondern durch Umweltfaktoren verursachte Störungen seien.

Wenngleich diese Vermutung verführerisch ist, kann ich mich ihr nicht anschließen.

  • Denn erstens ist die Korrelation zwischen Umweltfaktoren und den so genannten “psychischen Krankheiten” für sozialwissenschaftliche Verhältnisse zwar beeindruckend hoch, aber keineswegs perfekt: Es gibt also Menschen, die trotz schwierigster Bedingungen nicht “psychisch krank” werden und solche, die auch unter günstigsten Verhältnissen Phänomene ausprägen, die von der Psychiatrie als “psychische Krankheiten” gedeutet werden.
  • Und zweitens müssten Umweltfaktoren, die “psychische Krankheiten” verursachen, ebenfalls den Weg übers Gehirn einschlagen, lies: Sie müssten Veränderungen im Gehirn verursachen, die dann das pathologische Verhalten und Erleben hervorrufen. Derartiges konnte aber bisher noch nicht nachgewiesen werden (6). Daher sind die psychiatrischen Diagnosen nicht valide (7). Und weil sie nicht valide ist, bildet sie auch nur eine höchst unzulängliche Basis für empirische Forschungen (8).

Aus all dem folgt, dass auch die Studien zu den Zusammenhängen zwischen Umweltfaktoren und “psychischen Krankheiten” nicht eindeutig interpretierbar sind. Dies liegt grundsätzlich daran, dass der Begriff der “psychischen Krankheit” keine geeignete Grundlage für die empirische Forschung ist. Das so genannte medizinische Modell der psychischen Krankheiten taugt nichts in der Wissenschaft.

Böse Zungen behaupten sogar, es sei ein Marketinginstrument. Es habe einzig den Sinn, die Zuständigkeit von Ärzten für die Behandlung von Lebensproblemen aller Art zu begründen. Überdies diene es den ökonomischen Interessen der Pharmaindustrie.

Warum wird einer “psychisch krank”? Was sind die Ursachen “psychischer Krankheiten”? Wissenschaftlich können diese Fragen nicht beantwortet werden, denn “psychische Krankheit” (mit all ihren Spezifikationen wie “Depression” oder “Schizophrenie”) ist kein wissenschaftlicher Begriff.

Die Frage müsste also lauten: Warum prägt ein Mensch die Phänomene aus, die von Psychiatern willkürlich, nach Gutdünken als “Symptome einer psychischen Krankheit” gedeutet werden? Allein, welche Phänomene sind das? Die so genannten Syndrome, die im DSM bzw. im psychiatrischen Teil der ICD genannt werden, sind nicht nur invalide, weil sie mit nichts Realem korrelieren, sie sind es auch, weil es keine trennscharfen Abgrenzungen zwischen ihnen und zur Normalität gibt (9).

Dies bedeutet, dass die so genannten psychisch Kranken noch nicht einmal auf der beschreibenden Ebene zuverlässig erfasst, also greifbar werden. Sie gleichen Einhörnern, bei denen noch nicht einmal gewiss ist, dass sie ein Horn auf der Stirn haben. Auch ist ein Pferdekörper nicht unbedingt erforderlich, um sie als Einhörner zu klassifizieren, wenn sie irgendwo zwischen Pferd und Elefant oszillieren würden, wäre das auch in Ordnung.

Müssten dann nicht eher die Frage lauten: Warum übernimmt einer die Rolle des “psychisch Kranken” – unabhängig von der Frage betrachtet, welche Phänomene er ausgeprägt hat oder nicht?

Vor einiger Zeit habe ich mir, nicht ganz ernst gemeinte, Gedanken zu einer alternativen psychiatrischen Diagnostik gemacht. Hier wird deutlich, dass die Übernahme der Rolle des “psychisch Kranken” eine Lebensstrategie ist, die vielfältige Wurzeln haben kann. Außer dem sehr allgemeinen Merkmal des rätselhaften Normverstoßes gibt es keinen kleinsten gemeinsamen Nenner, der die so genannten “psychisch Kranken” miteinander verbindet.

Im Zuge der Kritik an der neuesten Version des DSM, der amerikanischen Diagnose-Bibel, ist es in Kreisen aufgeklärter Intellektueller Mode geworden, zwischen den echten und den von Psychiatern erfundenen “psychischen Krankheiten” zu unterscheiden. Das Problem dabei ist nur, dass es kein Abgrenzungskriterium gibt, das der kritischen Überprüfung im Licht der empirischen Forschung standhält.

Auf einem wissenschaftlichen Niveau ist es nicht möglich, unsere Mitmenschen in Normale bzw. “psychisch Gesunde” und echte oder unechte “psychisch Kranke” einzuteilen. Solche Selektionen sind haarsträubend willkürlich. Und weil dies so ist, kann auch die Frage, warum einer “psychisch krank” sei, nicht vernünftig begründbar beantwortet werden.

Wir haben ja immer nur den einzelnen Menschen vor uns, dessen Verhalten und Erleben uns Rätsel aufgibt. Wir können ihn nicht als Mitglied einer Klasse von Menschen mit vergleichbaren Phänomenen betrachten, weil es das dazu erforderliche, empirisch erhärtete Klassifikationssystem nicht gibt. Die vorhandenen diagnostischen Systeme DSM und der psychiatrische Teil der ICD sind nutzlos, weil man aus ihnen keine Antworten auf Fragen nach Ursachen oder eines angemessenen Umgangs mit den Betroffenen ableiten kann.

Was also tun, wenn uns ein “psychisch Kranker” begegnet? Ratlosigkeit einräumen und, ausdrücklich ohne Gewähr, helfen, wenn Hilfe gewünscht und erforderlich ist. Was sonst könnte man tun? Was also tun, wenn wir uns selbst als “psychisch krank” empfinden? Hilfe, falls gewünscht und erforderlich, erbitten, aber keine Erklärungen oder gar Erfolgsgarantien vom Helfer verlangen. Was sonst könnte man tun.

Wenn all dies zu wenig ist, der kann sich seinen Fantasien hingeben. Das Ergebnis solcher Fantasien ist die heutige Psychiatrie. Sie ist gekennzeichnet durch die Allgegenwart des Zwangs. Sie ist gekennzeichnet durch angemaßtes, vorgetäuschtes Wissen. Sie ist gekennzeichnet durch nicht nachweisbare, aber proklamierte “Erfolge”. Sie ist gekennzeichnet durch offenkundiges, aber nicht zugestandenes Scheitern.

Anmerkungen

(1) Myhrman, A. et al. (1996). Unwantedness of pregnancy an schizophrenia in the child. British Journal of Psychiatry, 169: 637-40

(2) Joseph, J. (2012). The “Missing Heritability” of Psychiatric Disorders: Elusive Genes or Non-Existent Genes? Applied Developmental Science, 16, 65-83

(3) Myhrman, A. et al. (1995). Does the Wantedness of a Pregnancy Predict a Child’s Educational Attainment? Family Planning Perspectives, 27: 116–119

(4) Bentall, R. P. (2003) Madness Explained: Psychosis and Human Nature. London: Penguin Books Ltd.

(5) Gøtzsche, Peter (2013). Deadly Medicines and Organised Crime: How Big Pharma has Corrupted Healthcare. Radcliffe, Kapitel: “The chemical imbalance hoax”

(6) Borgwardt, S. et al. (2012). Why are psychiatric imaging methods clinically unreliable? Conclusions and practical guidelines for authors, editors and reviewers. Behavioral and Brain Functions, 8:46

(7) Pflasterritzenflora: Die psychiatrische Diagnostik

(8) Pflasterritzenflora: Warum psychiatrische Therapieforschung irrelevant ist

(9) Kendell, R. & Jablensky, A. (2003). Distinguishing Between the Validity and Utility of Psychiatric Diagnoses, Am J Psychiatry; 160:4–12

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