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Krankheitseinsicht

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Aus Sicht der Psychiatrie zeichnet sich ein krankheitseinsichtiger Patient durch folgende Merkmale aus:

  • Er ist davon überzeugt, an einer psychischen Krankheit zu leiden.
  • Er ist bereit, sich den Anweisungen seines Arztes zur Überwindung seiner psychischen Krankheit zu beugen.

Neun Zehntel aller Psychiatrie-Patienten sind mehr oder weniger krankheitseinsichtig; nur eine Minderheit von rund 10 Prozent wird zur Behandlung gezwungen. Hier handelt es sich um eine Schätzung; genaue Zahlen sind mir nicht bekannt (es gibt sie meines Wissens auch nicht).

Ganz gleich, wie hoch die Zahl der Zwangseingewiesenen und Zwangsbehandelten auch immer sein mag; die Zahl der Freiwilligen übersteigt sie um ein Vielfaches. Dies ist eine erstaunliche Leistung der Psychiatrie. Man bedenke:

Man sollte also meinen, dass es angesichts dieser Sachverhalte wenig Grund gibt, sich im psychiatrischen Sinne krankheitseinsichtig zu zeigen. Dennoch zweifeln viele Patienten ihre “Krankheit” und die ihnen verordneten ärztlichen Maßnahmen nicht an; manche verteidigen sie sogar mit atemberaubendem Fanatismus. Wieso?

Fast alle psychiatrischen Patienten gehen ja auch zu anderen Ärzten und es ist beim besten Willen nicht zu übersehen, dass sich die Diagnostik und Therapie in anderen Bereichen der Medizin auf einem wesentlich höheren Niveau abspielt. Dies sollte eigentlich auch für den medizinischen Laien erkennbar sein. Man denke beispielsweise an die Laboruntersuchungen, die außerhalb der Psychiatrie routinemäßig zur Identifizierung von Krankheiten, in der Psychiatrie aber allenfalls der Ausschlussdiagnose dienen.

Angesichts der Tatsache, dass Diagnose, Ursachenlehre und Behandlung nicht auf einen soliden empirischen Fundament, sondern weitgehend auf Spekulation beruhen, kann man nun wirklich nicht behaupten, dass sich psychiatrisches Handeln von Einsicht leiten lassen könnte; es fußt vielfach auf dem Prinzip von Versuch und Irrtum. Es lässt sich zum Beispiel nicht vorhersagen, wie ein Patient auf die Maßnahmen reagieren wird, die zur Behandlung seiner “Erkrankung” ergriffen werden.

Generell kann gesagt werden, dass höchstens 30 Prozent der Menschen, die an irgendeiner der wichtigsten so genannten psychischen Krankheiten leiden (Depressionen, Bipolare Störungen, Schizophrenien) eine dauerhafte Verbesserung ihres Zustandes durch psychiatrische Drogen gleich welcher Art zeigen (2). Es ist aber nicht möglich, zu prognostizieren, ob ein bestimmter Patient zu diesen 30 Prozent gehören wird. Die Verbesserung ist, sofern sie sich überhaupt einstellt, eher geringfügig und beruht zu großen Teilen auf dem Placebo-Effekt.

Unter diesen Bedingungen fällt es schwer, die mangelnde Krankheitseinsicht als “Symptom” einer “psychischen Krankheit” zu deuten; vielmehr sprechen die Befunde der Forschung dafür, dass sie als Ausdruck eines “gesunden” Realitätssinns verstanden werden muss.

Dass es der Psychiatrie dennoch gelingt, eine so große Zahl von Krankheitseinsichtigen hervorzubringen, kann nur als große Leistung eingestuft werden, die Respekt abnötigt.

Da Krankheitseinsicht die Voraussetzung für den freiwilligen Konsum psychiatrischer bzw. psychopharmazeutischer Dienstleistungen bzw. Produkte ist, darf man diese Leistung sicher auch unter dem Gesichtspunkt des Marketings würdigen.

Man stelle sich vor, es gelänge einem Unternehmen, bei neun Zehntel der potenziellen Kunden die Überzeugung hervorzurufen, dass man ein Produkt von zweifelhaftem Nutzen unbedingt benötige – gar ein Produkt, durch das man mit nicht geringer Wahrscheinlichkeit Schaden nehmen wird.

Dieses Risiko besteht im Übrigen nicht nur bei den Psychopharmaka, die auf dem Beipackzettel vor Schadwirkungen warnen, sondern auch bei Psychotherapien, bei denen entsprechende Warnhinweise fehlen (3, 4). All dies könnte den Konsumenten psychiatrischer Dienstleistungen und psychopharmazeutischer Produkte durchaus bekannt sein. Dennoch: Krankheitseinsicht allerorten!

Aus kaufmännischer  Sicht entfacht die Psychiatrie seit Jahrzehnten ein fortwährendes Feuerwerk aus Glanzlichtern des Marketings, das wohl beispiellos in der neueren Wirtschaftsgeschichte ist. Marketing würde nicht funktionieren, wenn es die geförderten Produkte und Dienstleistungen nicht mit einem Zusatznutzen für die Konsumenten ausrüsten würde. Dies wird häufig von Kritikern der Werbung und der Public Relations übersehen.

Wird ein Produkt beispielsweise wirkungsvoll als Ausdruck von Männlichkeit und Erfolg beworben, so hat sein Konsument den Zusatznutzen, sich im Vollgefühl der Männlichkeit und des Erfolges zu sonnen und ggf. von anderen auch als männlich und erfolgreich gesehen zu werden. Wer darüber nachdenkt, zerstört diese Illusion zwar im Allgemeinen; aber wer denkt schon darüber nach?

Für den Konsumenten psychiatrischer und psychopharmazeutischer Leistungen und Produkte schafft das einschlägige Marketing beispielsweise den Zusatznutzen, dass er in den Augen der Mehrheit seiner Mitmenschen das Richtige tut und sich behandeln lässt, um wieder leistungsfähig und ein verträglicher Zeitgenosse zu werden.

Nutzen ist hier natürlich als subjektive Kategorie zu verstehen, die teilweise oder sogar vollständig unabhängig von einer objektiven Einschätzung des als nützlich empfundenen Gutes sein kann.

Dieser Zusatznutzen wird durch das Marketing erzeugt, indem die öffentliche Meinung in diesem Sinne beeinflusst wird. Auch die so genannten Anti-Stigma-Kampagnen sind Bestandteil des Marketings. Böse Zungen behaupten, dass dieser Zusatznutzen der einzige Nutzen psychiatrischer Dienstleistungen und psychopharmazeutischer Produkte sei.

Dies halte ich allerdings für nicht gerechtfertigt. Selbst wenn beispielsweise die Wirkung von Psychotherapien und vieler Psychopharmaka nur aus dem Placeboeffekt bestünde, so wäre dieser Effekt dennoch eine reale Wirkung, also ein authentischer Nutzen für die Konsumenten. Zwar wird der Placeboeffekt durch Marketing-Maßnahmen verstärkt, aber er ist dennoch eine eigenständige Größe.

Im Bereich der Psychiatrie Krankheitseinsicht zu zeigen, hat also durchaus einen Nutzen für die Einsichtigen, auch wenn sich diese Einsicht objektiv betrachtet nicht rechtfertigen lässt, da die Existenz von “psychischen Krankheiten” höchst zweifelhaft ist. Insofern und insoweit dieser Nutzen aber auf einer Täuschung beruht, auf sachlich nicht gerechtfertigten Werbebotschaften und PR-Kampagnen, kann man hier durchaus von Bewusstseinskontrolle sprechen.

Selbst bei der extremsten Variante der Bewusstseinskontrolle, nämlich der Erzeugung mandschurischer Kandidaten, bringt die Unterwerfung unter den Willen des Kontrolleurs dem Betroffenen einen Nutzen, nämlich die Illusion, sich dadurch weitere Folter zu ersparen.

Dies dürfe ja auch der Mechanismus sein, der die “Heilwirkung” der Suggestiv-Therapie durch schmerzhafte Ströme zu Grunde lag, mit der Militärpsychiater in den beiden Weltkriegen “Kriegshysteriker” wieder fronttauglich machten. Die “Geheilten” gelangten zu der Einsicht, dass die Front immer noch weniger qualvoll sei als die “Therapie” (5, 6).

Die “Kriegshysteriker”, die durch schmerzhafte Ströme “geheilt” wurden, waren in aller Regel “krankheitseinsichtig”. Es wird berichtet, dass manche ihre Psychiater regelrecht anflehten, sie durch die Elektrotherapie von ihren Leiden zu erlösen. Objektiv betrachtet, litten sie weder an einer Krankheit, sondern unter einer nachvollziehbaren Reaktion auf das Grauen an der Front, noch stellte die “Suggestiv-Therapie” durch Elektrofolter die Behandlung einer Krankheit dar, sondern sie war eine Strafe, der man nur durch “Heilung” entkommen konnte.

Was könnte die Macht der Bewusstseinskontrolle deutlicher machen als diese “Krankheitseinsicht”?

Etwaiger Kritik vorbeugend, möchte ich betonen, dass die Psychiatrie ein weites Feld ist und dass nicht alle ihre Erscheinungsformen mit gewissen Spielarten der Militärpsychiatrie des vergangenen Jahrhunderts gleichgesetzt werden dürfen. Zwar wird auch heute noch  mit schmerzhaften Elektroschocks gearbeitet, und zwar im Judge Rotenberg Educational Center, doch dies darf nicht als typisch für die Psychiatrie in unserer Zeit betrachtet werden.

Und so sind auch die Mittel und Wege, mit und auf denen die Psychiatrie Krankheitseinsicht verstärkt oder hervorruft, sehr unterschiedlich und keineswegs stets mit der Androhung oder Anwendung von Zwang verbunden. Zwar werden den Patienten mitunter die Instrumente gezeigt, indem man ihnen mit einem richterlichen Beschluss droht, wenn sie sich nicht einsichtig werden und sich behandeln lassen; doch in der überwiegenden Mehrheit aller Fälle sind derartige Maßnahmen nicht erforderlich.

Krankheitseinsicht stellt sich in aller Regel freiwillig ein, warum auch immer. Dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass eine solche Einsicht, objektiv betrachtet, immer trügerisch ist. Denn wenn Einsicht Erwerb von Wissen darstellt, und Wissen eine wahre, gerechtfertigte Meinung ist, dann kann man in diesem Sinne im Bereich der so genannten psychischen Krankheiten keine Krankheitseinsicht zeigen, ohne einer Täuschung zu erliegen.

Anmerkungen

(1) Die in Klammern gesetzten Artikel stehen beispielhaft für viele vergleichbare Einträge, in denen ich Studien zum Beleg dieser Thesen zitiere.

(2) Kirk, S. A. et al. (2013). Mad Science: Psychiatric Coercion, Diagnosis, and Drugs. Piscataway, N. J.: Transaction

(3) Hemminger, H. & Becker, V. (1985). Wenn Therapien schaden. Reinbek: Rowohlt

(4) Masson, J. (1988). Against Therapy: Emotional Tyranny and the Myth of Psychological Healing.  Monroe: Common Courage Press

(5) Riedesser, P. & Verderber, A. (1996). “Maschinengewehre hinter der Front”. Zur Geschichte der deutschen Militärpsychiatrie. Frankfurt am Main: Fischer

(6) Siemen, H.-L. (1982). Das Grauen ist vorprogrammiert. Psychiatrie zwischen Faschismus und Atomkrieg. Gießen: Focus

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