In seiner Schrift “Regulierungspsychologie” (1) definiert Horst Sacher sechs Ebenen der Steuerung des Menschen durch seine Umwelt. Diese sechs Ebenen werde ich an Beispielen aus dem thematischen Feld der Psychiatrie illustrieren.
- Totalsteuerung: Völlige Kontrolle des Verhaltens und Erlebens durch die Umwelt. Beispiel: Ein Mensch wird gegen seinen Willen in eine geschlossene psychiatrische Anstalt eingewiesen, dort zwangsbehandelt und schließlich mit den Mitteln der Gehirnwäsche zur “Krankheitseinsicht” gezwungen.
- Übersteuerung: Weitgehende Kontrolle des Verhaltens und Erlebens durch die Umwelt. Beispiel: Ein Mensch steht unter Betreuung und das Damoklesschwert der Zwangseinweisung schwebt über ihm.
- Hochsteuerung: Das Verhalten und Erleben des Menschen unterliegen sowohl der Fremd-, als auch der Selbststeuerung, wobei allerdings die Fremdsteuerung dominiert. Beispiel: Ein Mensch unterzieht sich freiwillig einer medikamentösen oder psychotherapeutischen Behandlung, die nach dem Muster der klassischen Arzt-Patient-Beziehung abläuft: hier der wissende, aktive Arzt, dort der unwissende, passiv mitarbeitende Patient.
- Wenigsteuerung: Das Verhalten und Erleben des Menschen unterliegen sowohl der Fremd-, als auch der Selbststeuerung; die Selbststeuerung überwiegt. Beispiel: Ein Mensch schließt sich einer Selbsthilfegruppe an, die von einem “Fachmann” beratend begleitet wird.
- Untersteuerung: Weitgehendes Fehlen von Umweltsteuerungen. Beispiel: Ein Mensch ist arbeitslos und nimmt nach Lust und Laune hin und wieder an autonomen Selbsthilfegruppen teil.
- Nullsteuerung: Fehlende Fähigkeit oder Bereitschaft, auf Steuerungen aus der Umwelt zu reagieren. Beispiel: Ein Mensch ist in den “Generalstreik der Seele” getreten und lässt sich nicht mehr motivieren, weil er beispielsweise “depressiv” ist oder einem “Wahn” unterliegt.
In der Mitte zwischen diesen Steuerungseinstellungen, so schreibt Sacher, liege eine Ebene der “homöostatischen Befindlichkeit”; ein intaktes Persönlichkeitssystem ließe sich durch sinusförmige Schwingungen der Steuerungseinstellungen um den Sollwert der homöostatischen Befindlichkeit beschreiben. Die Wendepunkte der Verlaufskurve “sinusfunktional-optimaler” Steuerung lägen auf den Ebenen der Hoch- und Wenigsteuerung.
Die Lebenserfahrung lehrt, dass Menschen weder zu viel, noch zu wenig Fremdkontrolle vertragen. Bosse, die niemanden mehr über sich haben, neigen dazu, solange über die Stränge zu schlagen, bis es noch Mächtigeren zu bunt wird, und dies entspricht dann einer geheimen Sehnsucht der Bosse. Und andererseits wehren sich Menschen in untergeordneten Positionen nicht selten durch destruktive Akte (Sabotage, Dienst nach Vorschrift) gegen die totale Fremdbestimmung. Ein mittleres Maß der Kontrolle scheint also der “Natur” des Menschen zu entsprechen und die meisten empfinden dies auch als angemessen und gerecht.
Wer eine Gesellschaft anstrebt, in der die Steuerungen auf das Niveau der “homöostatischen Befindlichkeit” zugeschnitten sind, der muss die Psychiatrie aus kybernetischer Sicht also als kontraproduktiv, als Störfaktor einordnen. Das psychiatrische System ist darauf eingestellt, die Steuerung der Menschen in Richtung Totalsteuerung auszulenken. Es ist ein Trugschluss zu glauben, dass man ein chronisch unter- oder nullgesteuertes System durch Über- bzw. Totalsteuerung korrigieren könnte; diese “Holzhammermethode” führt nur zu einem total demolierten System – zu chronifizierten Jammergestalten, die an den irreversiblen Nebenwirkungen der Psychopharmaka laborieren.
Es trifft uneingeschränkt zu, dass die Psychiatrie nicht das einzige kybernetisch dysfunktionale gesellschaftliche System ist. Doch kein anderes System hat eine auch nur annähernd vergleichbare Macht, die menschliche Persönlichkeit dieser Dysfunktionalität zu unterwerfen. Die Zahl der psychiatrisch Fehlgesteuerten nimmt beständig zu; dies zeigen die Statistiken der so genannten “psychisch Kranken” sowie der Zwangseingewiesenen und Zwangsbehandelten.
Im Wirtschaftsleben beginnt man allmählich zu erkennen, dass Mitarbeiter mit extrem engen Handlungs- und Entscheidungsspielräumen alles andere als kreativ und innovativ sind. Ein Unternehmen, dass auf die Erfindungsgabe und Experimentierfreude seiner Mitarbeiter angewiesen ist, tut gut daran, ihnen Räume zur Entfaltung “homöostatischer Befindlichkeit” zu erschließen.
Von diesem Geist ist unsere Psychiatrie natürlich weit entfernt. Der dort vorherrschende Geist ist vielmehr von obsessiven Kontrollfantasien durchdrungen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, glauben Psychiater offenbar, ohne das Recht zur Zwangsbehandlung müsse, wenn nicht die Welt, so doch immerhin die Blüte der Evolution, die Psychiatrie untergehen. Der Zwang, bis hin zur Totalsteuerung, ist der Kerngedanke der vorherrschenden psychiatrischen Ideologie. Psychiatrische Maßnahmen reduzieren sich auf die Metapher der Daumenschraube.
Der Fall Gustl Mollath illustriert die Zusammenhänge in atemberaubender Klarheit. Der Mann, so heißt es, habe einen Wahn, auch wenn alle mutmaßlichen Indikatoren dafür sich in Luft aufgelöst haben. Der Mann sei gefährlich, heißt es, und wenn er friedlich scheine, so beweise dies nur, wie gefährlich er in Wirklichkeit sei. Stünde die Sicherheit auf dem Spiel, so heißt es, sei im Zweifelsfall für die Totalsteuerung zu optieren. Und wer zweifele, der sei ein Querulant, wie Mollath.
Ist es nicht schön, auf einer Wanderung hoch droben die Freiheit der Berge zu genießen? Bäche schießen zischend und glitzernd zu Tal – und vor dem gewaltigen Alpenpanorama nur blauer Himmel. Ein lindes Lüftchen kühlt die heiße Stirn, und dort in der Hütten, man sieht sie schon, wartet eine deftige Brotzeit und ein zünftiges Mineralwasser. Kaum hocke ich auf der Holzbank, kaum lacht mich der Brotzeitteller an, setzt sich doch tatsächlich so ein Individuum neben mich, behauptet, mein Gesicht aus dem Internet zu kennen und was mir eigentlich einfiele.
Der Mann trägt moderne, funktionelle Wanderkleidung, sehr edel, sehr teuer, sehr praktisch und sehr aufschneiderisch, sie ist neu, kein Stäubchen, kein Kratzer. Der Mann muss Psychiater sein, denke ich. Und richtig. Der Mann gehört zur Zunft. So etwas, wie das, was Sie da schreiben, im Internet, so etwas gehört verboten, sagt er. So einen Quatsch nehme natürlich kein Fachmann ernst, so etwas lese er nicht einmal, aber die Patienten würden dadurch verunsichert, und deswegen würden Leben gefährdet und…
Ob er mich denn die Felswand herabstürzen, oder, schlimmer, zwangseinweisen lassen wolle, frage ich ihn. Der Spott werde mir schon vergehen, da müsse man Maßnahmen ergreifen, und überhaupt. Zenzi eilt herbei, ob alles recht sei und ob die Herren noch etwas bestellen möchten. Der Empörte bezahlt und schreitet grußlos von dannen. Ob er mir wohl auflauern wird, hinter einem Felsvorsprung?, frage ich mich. Vielleicht hat er eine Spritze dabei und sticht zu.
Ein Telefonanruf schreckt mich aus meinen Gewaltfantasien auf. Die letzten Zeilen habe ich offenbar wie im Trance und ohne klares Bewusstsein geschrieben. In dieser Hinsicht ähnele ich vermutlich den meisten Mitbürgern, die in aller Regel die alltägliche Gefahr psychiatrischer Totalsteuerung zwar irgendwie vermerkt, sich darüber aber keine bewusste Rechenschaft abgelegt haben. Sonst hätten sie ja eine Patientenverfügung ausgefertigt, und dies ist nur zu oft nicht der Fall.
Wenn ein Mensch darauf verzichtet, einen Missstand in seinem Unternehmen öffentlich zu machen, weil er schließlich nicht so enden wolle wie Gustl Mollath, so unterliegt er bereits einer Fehlsteuerung. Dies mag im Interesse derjenigen liegen, denen dieses Unternehmen gehört, aber im Interesse einer freiheitlichen Gesellschaft, in der sich die Menschen durch durch sinusförmige Schwingungen der Steuerungseinstellungen um den Sollwert der homöostatischen Befindlichkeit auszeichnen, liegt es sicher nicht. Selbst dort droben, im Reich der Freiheit im Gebirg’, wo man eigentlich nur den Herrgott über sich wähnt, sind sie da, welch ein Wahn.
Ganz gleich, was mit Gustl Mollath geschieht, ganz gleich, ob er voll rehabilitiert wird oder nicht, die Tatsache allein, dass er bereits sieben Jahre und immer noch einsitzt, hinter psychiatrischen Gittern schmachtet, wird viele, wird viel zu viele einschüchtern. Davor ist niemand, bewusst oder unbewusst, gefeit. Denn selbst wenn man schlussendlich recht bekommt, was keineswegs sicher ist, so hat man doch unter Umständen viele Jahre wertvoller Lebenszeit verloren. Also hält man die Klappe, also passt man sich an, also ist man normal – und wenn normal sein bedeutet, dass die Reichen keine Steuern zahlen, dann passt das schon.
Nicht erst die Zwangseinweisung, bereits die psychiatrische Diagnose ist eine Daumenschraube, denn sie kann mit erheblichen negativen Folgewirkungen verbunden sein. Daher ist allein schon die Drohung, einem Psychiater oder Psychologen vorgestellt zu werden, eine erhebliche Einschüchterung. Der Aphoristiker Lichtenberg sagte, man spüre den Druck der Regierung ebenso wenig wie den Druck der Luft. Dies ist wahr, wenn man und solange man darüber nicht nachdenkt. Und dies gilt nicht nur für die Regierung, sondern auch für die Psychiatrie. Die Polizei sagt: Wer sich nichts zu schulden kommen lasse, habe sie auch nicht zu fürchten. Dies trifft auf die Psychiatrie nicht zu. Bei ihr spielt Schuld keine Rolle. Sie teilt ihre “Segnungen” nach dem Gießkannenprinzip aus.
Anmerkung
(1) Sacher, H. (1978). Regulierungspsychologie. Wien: Maudrich
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