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Daten

In seinem neuesten Blog-Eintrag (Director’s Blog) schreibt der Direktor des National Institute of Mental Health, Thomas Insel unter dem Titel “From My Data to Mined Data“, dass Daten nicht länger mehr, wie früher üblich, als Privatsache betrachtet werden dürften. Es genüge nicht, nur die Resultate zu veröffentlichen, der gesamte Rohdatensatz müsse der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt werden.

Als Gründe nennt er:

  • “Für Studien genomischer Variation in großen Maßstab ist die Zahl der untersuchten Variablen so groß, dass die statistische Signifikanz mehrere tausend Versuchspersonen erfordert. Die Kombination von Daten aus zahlreichen Projekten erlaubt es Wissenschaftlern, signifikante Assoziationen zu finden, die nicht von einem einzelnen Laboratorium entdeckt werden können.”
  • Die augenblicklichen Bedenken wegen des Mangels an Reproduzierbarkeit von Grundlagen- und klinischer Forschung gleichermaßen, die von den National Institutes of Health mitgetragen werden, betonen die Notwendigkeit größerer Transparenz. Das Teilen von Daten bringt nicht nur Transparenz, es stellt auch die Details zur Verfügung, die erforderlich sind, um Replikationsstudien zu verwirklichen.”
  • “Die Bedeutung, auf individuellen Niveau gewonnene Daten  zu teilen, wurde in einer neuen Veröffentlichung mit 37 Reanalysen publizierter klinischer Untersuchungen offenbar. In 35 Prozent der Fälle führe die Reanalyse zu  Interpretationen, die von den Originalarbeiten abwichen, mit Implikationen für die Art und die Zahl der Patienten, die behandelt werden sollten.”

Ein gutes Beispiel für die Zusammenarbeit bei der Bewältigung großer Datenmengen sei eine neuere Studie zur genetischen Grundlage der Schizophrenie:

Das “Psychiatric Genome Consortium” kombinierte genomische Assoziations-Resultate von mehr als 80 Laboratorien in 35 Ländern, um die DNA von 170000 Menschen zu untersuchen. Der Ertrag dieses Ansatzes wurde im August durch die Identifikation von 108 genetischen Loci, die mit dem Schizophrenie-Risiko assoziiert sind, offenkundig.”

Nun muss man aber wissen, dass dieser Ertrag, so beeindruckend er auch immer sein mag, im Licht der Zahlen eher bescheiden ist. In einem Beitrag, der in Mad in America erschien, schrieb Joanna Moncrieff dazu:

Diese 128 SNPs wurden dann zu 108 chromosomalen Regionen oder ‘Loci’ kartiert, wobei von den meisten niemals zuvor vermutet wurde, dass sie irgendetwas mit Schizophrenie zu tun hätten. Die Studie stellt keine “Odds Ratios” oder andere Maße der Stärke der Assoziationen zwischen den SNPs und einer Schizophrenie-Diagnose zur Verfügung, doch die führenden Forscher bestätigten, dass jeder genetische Locus mit einer Steigerung des Schizophrenie-Risikos um annähernd 0,1 Prozent assoziiert war. Unter Einsatz einer Methode, die mit mehreren Annahmen verbunden war (Risk Profile Scores), konnte die maximale Varianz, die durch eine Kombination der Gene erklärt wurde, mit 3,4 Prozent beziffert werden.”

0,1 und 3,4 Prozent sind wirklich bescheiden, verglichen mit den Befunden einer Studie, die am 15. September 2005 veröffentlicht wurde. Die Pflasterritzenflora berichtete. Die Autoren dieser Studie wollen herausgefunden haben, dass die Schizophrenie ein Sammelname für acht erbliche Krankheiten sei, dass jede dieser acht Klassen der Schizophrenie auf separaten genetischen Mustern beruhe und dass die Träger dieser Muster ein 70- bis 100-prozentiges Risiko hätten, an der jeweiligen Schizophrenie-Klasse zu erkranken.

Wenn dies wahr wäre, so handelte es sich bei diesem Befund um eine Sensation ersten Ranges. Sie wäre eindeutig nobelpreisverdächtig. Zahllose Zeitungen und Zeitschriften in den Vereinigten Staaten haben die Pressemeldungen der verantwortlichen Universität, meist nur leicht überarbeitet, abgedruckt. Stellungnahmen von Fachleuten sind bisher allerdings rar. Thomas Insel erwähnt diese Arbeit noch nicht einmal. Stattdessen bezieht er sich auf eine kaum ältere Studie, die zu weitaus bescheideneren Resultaten gelangt.

Insel schreibt über gewaltige Datenmengen und über die Kooperation zahlloser Forschungsinstitute. Er spricht über den Mangel an Replikationen und über Unstimmigkeiten bei der statistischen Auswertung von Studien. Kennt er die Studie mit den angeblich bahnbrechenden Ergebnissen etwa nicht? Kaum zu glauben, denn sie erschien im American Journal of Psychiatry und zu den Senior-Forschern zählte der überaus renommierte Robert Cloninger.

Das Schweigen Insels verblüfft auch, weil ja die Ergebnisse dieser Untersuchung eigentlich auf der Linie des NIMH im Allgemeinen und Thomas Insels im Besonderen liegen. In einem Beitrag namens Research Domain Criteria — RDoC zu einem gewaltigen Forschungsprojekt des NIMH zur Neuro-Psycho-Biologie psychischer Störungen, schreibt der Direktor:

“So wie bei Brustschmerzen und Fieber, könnten durch Hinzufügen weiterer Werkzeuge in unseren diagnostischen Werkzeugkasten die augenblicklichen Etiketten wie ‘Depression’ und ‘Schizophrenie’ präziseren Kategorien Platz machen. Diese Fortschritte könnten das Potenzial besitzen, die Art und Weise zu revolutionieren, wie wir psychische Störungen diagnostizieren und, bedeutender noch, behandeln.”

Hätte man nicht, angesichts solcher Worte und vieler anderer Stellungnahmen aus dem Hause NIMH, erwarten sollen, dass der Direktor die Forschung zu den acht Klassen der Schizophrenie mit separater genetischer Grundlage enthusiastisch begrüßt? Und sie nicht schweigend übergeht? Immerhin wurde diese Studie in erster Linie aus Mitteln des NIMH finanziert.

Genug der Spekulationen. Natürlich habe ich keine Ahnung, was Insel darüber denkt, dass es sich angeblich bei der Schizophrenie um ein Sammelsurium handelt, dass aus mindestens acht verschiedenen Erbkrankheiten besteht. Wenn dies zuträfe, so wäre nicht nur die psychiatrische Diagnostik veraltet, sondern dann wäre auch die gesamte Forschung, die mit einem einheitlichen Schizophrenie-Konstrukt arbeitet, mit einem Schlag entwertet. Mag sein, dass es für alle Seiten klüger ist, auf Replikationen dieser Befunde durch unabhängige Forscherteams warten, bevor man sich zu einer Stellungnahme durchringt. Zuvor wäre es vermutlich auch nicht verkehrt, wenn man die Rohdaten von Javier Arnedo und seiner Mitarbeiter einer statistischen Reanalyse unterzöge.

The post Daten appeared first on Pflasterritzenflora.


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