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Die Geschichte der Candy Jones

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Eine bezaubernde Frau

Sie war ein Sex-Symbol, ein Pinup-Girl, ihre Fotos hingen im Spind vieler amerikanischer Soldaten im 2. Weltkrieg. Sie hieß Jessica Wilcox (1925-1990). Bekannt wurde sie unter ihrem Künstlernamen Candy Jones. Während des Kriegs gegen Nazi-Deutschland und gegen das brutale System des Tennos erwies sie sich als glühende amerikanische Patriotin. Sie unterhielt mit ihren Shows die Soldaten an der Front, in unmittelbarer Nähe der Schlachtfelder. Sie war 1,93 groß, schlank und wohlgeformt, hatte atemberaubend lange Beine; ihr Bild erschien in “Yank”, einem Magazin mit Millionenauflage, das von den US-Streitkräften herausgegeben wurde und das die Moral der Soldaten heben sollte. Besonders beliebt waren Fotos, die sie in einem Bikini mit Polka-Punkten zeigten. Sie wurde in die Streitkräfte aufgenommen und erhielt den Rang eines Leutnants.

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Pin-up-Foto von Candy Jones, gefunden in Wikipedia

Ihre Karriere begann 1941, nachdem sie den Wettbewerb “Miss Atlantic City” für sich entschieden hatte. John Powers, Gründer einer erfolgreichen Model-Agentur, engagierte sie sofort. Doch Powers gab ihr kaum Chancen, sich zu profilieren, bezahlte sie schlecht, und so wechselte sie wenig später zu Harry Conovers Agentur. Der Mann, früher selbst erfolgreicher Dressman, machte sie zum Star. 1943 wurde sie zum “Model of the Year” gewählt. Sie unterzog sich einer Schauspiel- und Gesangausbildung und erhielt eine Hauptrolle in einem Stück, dass mit großen Erfolg am Broadway aufgeführt wurde.

Während einer Tour, die sie an die Kriegsschauplätze im Pazifik führte und die von der USO (United Service Organisation) veranstaltet wurde, erkrankte sie an Malaria und einer weiteren Infektionskrankheit. Innerhalb kürzester Zeit fielen ihr die Haare aus, ihre Gesichtsfarbe verwandelte sich in ein krankes Gelb. In einem Militärkrankenhaus der philippinischen Hauptstadt Manila begegnete sie einem jungen Militärarzt, der ihr weiteres Schicksal entscheidend mitbestimmen sollte; in ihren späteren Erinnerungen an die nun folgenden Jahre verschweigt sie seinen Klarnamen und nennt ihn “Gilbert Jensen”.

Falsche Freunde

Nach dem Krieg eröffnete sie eine Schule für Models in New York. Nach einem Einbruch in ein Büro in demselben Haus, in dem sich auch ihre Schule befand, kontaktierte sie ein FBI-Agent und bat sie, eine Aufgabe für diese Polizeibehörde zu übernehmen. Ihr Büro sollte als fiktive Adresse für Briefe fungieren, die eigentlich für das FBI bestimmt waren. Da sie sich geehrt fühlte, ihrem Land dienen zu dürfen, und wohl auch, weil sie gerade knapp bei Kasse war, übernahm sie diese Aufgabe. In dieser Zeit begegnete sie auch “zufällig” einem General, den sie während des Krieges kennen gelernt hatte und der sie bat, einen Kurierdienst für ihn zu übernehmen. Sie hatte ihm erzählt, dass sie nach San Francisco müsse, um eine wichtige Modenschau zu besuchen, und da traf es sich gut, dass genau dorthin ein Brief zu expedieren war, der dem normalen Postweg aus Gründen der Geheimhaltung nicht anvertraut werden durfte. Und so wartete sie wenig später in einem Hotel in San Francisco auf ihre Kontaktperson. Sie erhielt schließlich einen entsprechenden Anruf; als Mittelsmann entpuppte sich – Gilbert Jensen.

Jensen bot ihr an, nebenberuflich für die CIA zu arbeiten. Dieser Job sei, so sagte er, sehr lukrativ und sie könne zudem sich auch weiterhin ohne Einschränkungen um ihre Model-Schule kümmern. Da ihr Geschäft nicht besonders gut lief, stimmte sie nach einigem Bedenken schließlich zu. Sie wusste allerdings nicht, was sich tatsächlich hinter diesem Job verbarg. Dies sollte sie erst später, nach einem langen Leidensweg erfahren. Schenkt man ihren Erinnerungen Glauben, so war Jensen Mitarbeiter eines Projekts der CIA, dessen Aufgabe darin bestand, Menschen mit psychiatrischen Methoden in willenlose mentale Sklaven (“manchurian candidates”) zu verwandeln.

“Long John” Nebel

1973 heiratete Candy Jones den New Yorker Radio-Talkshow-Moderator “Long John” Nebel. Bereits in der Hochzeitsnacht bemerkte der Talkmaster, dass mit seiner Braut etwas nicht stimmte. Sie litt an spontanen, unerklärlichen Stimmungsschwankungen, die so fundamental waren, dass sie wie vollständige Persönlichkeitsveränderungen wirkten. Dieses Phänomen zeigte sich am folgenden Tag und Nebel begann, sich für ihre Psycho-Geschichte zu interessieren. Sie gestand ihm schließlich, dass sie für das FBI gearbeitet und auch sonst allerlei streng geheime Aufgaben für die Regierung übernommen habe.

In der folgenden Zeit klagte Candy häufig über Schlaflosigkeit. John, der sich seit Jahren mit Hypnose beschäftigte, schlug ihr vor, sie zu hypnotisieren, um ihre Schlaflosigkeit zu überwinden. Seine Frau behauptete, nicht hypnotisierbar zu sein, ließ sich jedoch auf einen Versuch ein. Wenig später schon befand sie sich in einem tiefen somnambulen Zustand. Die Behandlung zeigte Erfolg: Immer wenn John sie in Hypnose versetzte und ihr einen gesunden Schlaf suggerierte, war sie am folgenden Morgen gut ausgeschlafen und munter.

Daraufhin beschränkten sich die hypnotischen Sitzungen nicht mehr allein auf die Einleitung eines erholsamen Schlafes, sondern zudem wurden Erinnerungen an  ihre Kindheit, die spontan in ihr Bewusstsein traten, zum Gegenstand einer systematischen Analyse mit den Mitteln der Hypnose. Nebel wendete die Methode der Altersregression an, bei der dem Hypnotisanden suggeriert wird, er sei wieder ein Kind und erlebe seine frühe Vergangenheit aus kindlicher Sicht. Mit diesem Verfahren fand Nebel heraus, dass Candy Jones in ihrer Kindheit offenbar schwer traumatisiert worden war.

Es zeigte sich mit dem Fortschritt des hypnotischen Prozesses, dass Candy ein Alter Ego, ein zweites Ich entwickelt hatte. Diese Alternativpersönlichkeit namens Arlene war von den seelischen Verletzungen, die Candy in ihrer Kindheit erlitten hatte, subjektiv nicht betroffen. Nebel entschloss sich, die weiteren Hypnose-Sitzungen auf Tonband aufzuzeichnen. In langen Monologen berichtete Candy nun, dass sie von Gilbert Jensen, der nach ihrem Bekunden für die CIA arbeitete, hypnotisiert worden war. Der CIA-Psychiater setzte dabei vermutlich auch Drogen ein, durch die das Einleiten der Hypnose erleichtert und die Trance vertieft wurde.

Erinnerungen

Candy konnte sich zunächst auch unter Hypnose durch Nebel nicht daran erinnern, was während der hypnotischen Sitzungen mit Jensen geschehen war. Später stellte sich heraus, dass der CIA-Psychiater eine posthypnotische Amnesie erzeugt hatte, die Candys Erinnerungen blockierte. Schon während der ersten Sitzung mit Candy hatte Jensen von der Spaltpersönlichkeit Arlene erfahren, und diese nahm er nun zum Anknüpfungspunkt, um systematisch eine ausgefeilte multiple Persönlichkeitsstruktur bei seinem Opfer zu entwickeln. Candy hatte, wie sich später unter Hypnose zeigen sollte, in ihrer Kindheit noch weitere Spaltpersönlichkeiten herausgebildet, doch der Militärpsychiater konzentrierte sich auf Arlene.

Candy wurde abgerichtet, Aufgaben für die CIA zu erledigen, ohne sich später daran erinnern zu können. Die Aufträge wurden ihr in Form so genannter posthypnotischer Befehle erteilt. Sie erhielt die Kommandos also, während sie sich in einem hypnotischen Trance-Zustand befand, und musste diese dann zu einem vereinbarten Zeitpunkt bzw. unter vorher festgelegten Bedingungen im “Wachzustand” verwirklichen. Sie wurde unter anderem als hynotische Kurierin eingesetzt, deren Nachrichten tief in ihrem Unbewussten eingegraben waren und an die sie sich nur erinnern konnte, wenn sie mit einem bestimmten Schlüsselsatz dazu aufgefordert wurde, um sie nach ihrem Report sofort wieder zu vergessen.

Während einer Kurierfahrt nach Taiwan wurde sie von angeblichen chinesischen Geschäftsleuten in ein Landhaus gebracht, dort an einen Stuhl gefesselt, mit elektrischen Kontakten verbunden und brutal gefoltert. Die Männer unterzogen sie einem Verhör; angeblich interessierten sie sich für den Inhalt eines Briefes, den sie, einem hypnotischen Befehl folgend, einem Unbekannten übergeben hatte. Auch bei späteren Kurierfahrten nach Asien wurde sie elektrisch gefoltert. Es liegt nahe zu vermuten, dass sich die Folterer nicht im geringsten für die Informationen interessierten, die sie angeblich verraten sollte, sondern dass sie mit Jensen kooperierten und dass die Folter Bestandteil der Gehirnwäsche war. Durch Folter kann die Empfänglichkeit für hypnotische Suggestionen erheblich intensiviert und die Zuverlässigkeit bei der Verwirklichung posthypnotischer Befehle extrem gesteigert werden.

Unter Nebels Hypnose erinnerte sich Candy daran, dass sie im Trainingszentrum der CIA, Camp Peary, mit den Techniken verdeckter Operationen vertraut gemacht wurde. Sie erlernte die Kunst gut getarnter Brandstiftung, den Einsatz von unauffälligen Mordinstrumenten, das Schießen mit diversen Feuerwaffen etc.

Jensen hatte sie, sofern die Erinnerungen Candys zutreffen, mit hypnotischen Mitteln programmiert, sich auf Kommando selbst zu töten. Da sie offenbar nicht mehr benötigt wurde, hatte ihr Jensen bereits den entsprechenden Suizidbefehl gegeben, aber die Heirat mit Nebel und dessen hypnotische Intervention durchkreuzten diesen Plan.

Donald Bain

Jones und Nebel entschlossen sich, ihre Geschichte zu veröffentlichen. Sie kontaktierten den Schriftsteller Donald Bain. Bain hatte bereits eine Biographie Nebels verfasst. Er begann 1974 mit seiner Arbeit an diesem Buch; er hörte sich die Tonbänder an, sprach stundenlang mit Jones und Nebel, recherchierte über Hypnose und Gehirnwäsche. Das Buch erschien 1976 unter dem Titel: “The Control of Candy Jones”. In einem Vorwort bezeichnet der namhafte Hypnose-Spezialist Herbert Spiegel das Buch als faszinierend und überzeugend; bestätigt, dass die beschriebenen hypnotischen Manipulationen durchaus möglich seien, weist aber darauf hin, dass eine Verifikation aus externen Quellen noch ausstehe und erforderlich sei.

Das Buch erregte zunächst großes Aufsehen; Bain und Jones starteten eine Publicity-Tour durch die Vereinigten Staaten; doch nach einiger Zeit verstummten sie. Candy Jones hatte einen Vertrag mit einem Filmstudio unterzeichnet, der sie dazu verpflichtete, bis zum Erscheinen des Films keine Publicity mehr für das Buch zu machen; der Film wurde jedoch nie gedreht.

Schon bald nach Veröffentlichung des Buches wurden Zweifel an Candys Geschichte laut. John Nebel, so hieß es, sei ein notorischer Schwindler, der schon öfter versucht habe, derartige Fantasiegeschichten zu lancieren. Dass Bains Werk, die Arbeit eines Unterhaltungsschriftstellers, im Playboy-Verlag erschienen sei, spräche ohnedies Bände.

Dass die CIA jedoch versucht hat, mit den Mittel der Hypnose – unterstützt durch Drogen, sensorische Deprivation, Elektroschocks und physischen Zwang – künstliche multiple Persönlichkeiten zu erzeugen, steht außer Zweifel. Die entsprechenden Beweise hat der amerikanische Psychotherapeut Colin A. Ross in seinem Buch “Bluebird” akribisch zusammengetragen. Er äußert sich in diesem Buch auch zum Fall Candy Jones, und zwar ähnlich wie Herbert Spiegel. Es sei denkbar, dass die Geschichte wahr sei, aber dies sei keineswegs bewiesen.

Nicht neu

Die Methoden, mit denen angeblich Jensen und seine Spießgesellen in Taiwan arbeiteten, waren allerdings damals schon nicht neu. Bereits im letzten Drittel des 19. und insbesondere Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte die Psychiatrie Methoden, um mit den Mittel der Hypnose multiple Persönlichkeiten zu erzeugen und das Verhalten von Menschen systematisch durch Elektrofolter zu formen.

Charles Robert Richet (1850 – 1935) war einer der bedeutendsten Wissenschaftler seiner Zeit. Der französische Arzt war Professor für Physiologie in Paris; 1913 erhielt er den Nobelpreis für seine Studien zum menschlichen Immunsystem. Doch Richets Interessen beschränkten sich keineswegs auf sein medizinisches Fachgebiet. Er schrieb Bücher über geschichtliche Themen, Soziologie, Philosophie und Psychologie, sogar Theaterstücke und Lyrik. Seine besondere Leidenschaft aber galt Themen, die heute tendenziell als fragwürdig oder gar abseitig betrachtet werden, zumindest in naturwissenschaftlichen Kreisen. Zu diesen Themen zählten die Parapsychologie und die experimentelle Hypnose (1).

Bei seinen hypnotischen Experimenten (2) entdeckte er mehr oder weniger durch Zufall die Flüchtigkeit des menschlichen Selbsts. Nachdem er seine Versuchspersonen in Hypnose versetzt hatte, gehorchten sie seinem Befehl, ihre Identität, ihr Alter, ihre Kleidung, ihr Geschlecht, ihre soziale Stellung, ihre Nationalität und das Zeitalter, in dem sie lebten, vollständig zu vergessen. All diese Eckpunkte eines normalen Selbst waren ausgelöscht. Ihr Identitätsbewusstsein hatte sich in eine blank geputzte Schiefertafel verwandelt. Nun konnte Richet seinen Versuchspersonen eine Idee suggerieren, die an die Stelle des hypnotisch ausradierten Selbstbewusstseins trat: die Idee einer neuen Identität, die sich, genährt durch die Kraft der Phantasie, in ihrer Vorstellungswelt ausbreitete. Die Versuchspersonen agierten und reagierten nun so wie der Charakter, der ihnen suggeriert worden war. Ihre Handlungen, ihre unwillkürlichen Bewegungen, ihr Denken und ihre Äußerungen hatten sich perfekt der hypnotisch eingepflanzten Identität anverwandelt. Richet konnte nicht nur eine, sondern eine nahezu beliebige Zahl alternativer Persönlichkeiten in seinen Versuchspersonen hervorrufen. Eine Frau beispielsweise verwandelte er nacheinander in einen Bauern, eine Schauspielerin, einen General, einen Priester und eine Nonne.

Die Experimente Richets inspirierten auch andere Wissenschaftler im späten 19. Jahrhundert, z. B. den bedeutenden Sexualwissenschaftler und Hypnoseforscher Albert Moll (1862 – 1939). Einer männlichen Versuchsperson (3) z. B. suggerierte der Arzt, sie sei Moll und er, also der Arzt, sei diese Versuchsperson (genannt X). X verwandelte sich in „Dr. Moll“ und bat Moll, nunmehr also „X“, Platz zu nehmen und begann, seinen „Patienten“ in genau derselben Weise zu hypnotisieren, wie ihn zuvor der Arzt schon viele Male in Trance versetzt hatte. Moll betont, dass seine Versuchspersonen keineswegs immer konsequent waren, sondern mitunter aus der Rolle fielen; beispielsweise sei eine in Friedrich den Großen verwandelte Versuchsperson in einem imaginären Eisenbahnwagen gefahren (obwohl es zur Zeit des Preußenkönigs natürlich noch keine Eisenbahnen gab). Derartige Fehler könnten aber durch hypnotische Dressur meist verhindert werden.

Während des 1. Weltkriegs wurden Militärpsychiater mit einer wachsenden Zahl so genannter Kriegsneurotiker konfrontiert. Unter Kriegsneurotikern, die auch als “Kriegszitterer” bezeichnet wurden, verstand man Menschen, die “im Stahlgewitter” psychiatrisch dekompensiert und kampfunfähig geworden waren. Sie zeigten Symptome, die man damals als “hysterisch” diagnostizierte. Zu den typischen Beschwerden zählten psychisch bedingte Blindheit und Taubheit, Stummheit bei intaktem Sprechorgan, Lähmungen und Zittern ohne erkennbare körperliche Ursache. 27,7 % der Frontkämpfer wurden während des I. Weltkriegs wegen eines psychiatrischen Zusammenbruchs aus der Kampfzone evakuiert, weitere 16,6 % wurden vorübergehend in psychiatrische Einrichtungen gebracht, schreibt der Historiker Richard A. Gabriel in einem Buch über die psychiatrische Dimension des modernen Kriegs.

Unabhängig voneinander kamen Militärpsychiater in verschiedenen Ländern auf die Idee, diese traumatisierten Frontkämpfer in einer hoch suggestiven Atmosphäre durch starke elektrische Ströme zu kurieren. Die Patienten wurden an den Körperteilen, die ohne physische Ursachen erkrankt waren, äußerst schmerzhaft elektrisiert. Wenn dies nichts half, wurden besonders empfindliche Zielgebiete ausgewählt, wie beispielsweise die Lippen oder die Hoden. Im Militärjargon hieß diese Behandlung “Kaufmanns Kur” – nach dem deutschen Psychiater Fritz Kaufmann, der 1916 einen wissenschaftlichen Artikel über diese Form der Behandlung in einer medizinischen Zeitschrift veröffentlichte und irrtümlich als ihr Erfinder galt. In Wirklichkeit wurde die schmerzhafte Elektrotherapie bereits im 19. Jahrhundert praktiziert.

Nach heutigen Maßstäben handelte es sich dabei um eine Form der Folter-Gehirnwäsche. In jenen Tagen aber sah man darin eine durchaus legitime Behandlungsmethode, wenngleich sich auch Opposition bei Ärzten und sogar auf den Führungsebenen der Streitkräfte regte. In Frankreich wurde diese Methode beispielsweise von Clovis Vincent sowie von Gustave Roussy eingesetzt, in Österreich von Wilhelm Neutra und Wagner-Jauregg, in Deutschland von Fritz Kaufmann, in Großbritannien von Yealland sowie von Hunderten weiterer Ärzte.

Der kanadische Psychiater Lewis Yealland behandelte Kriegsneurotiker nach einem beeindruckenden Konzept. Er verband Elektrofolter mit einfachen, unmissverständlichen Suggestionen. Diese Suggestionen waren Variationen eines Grundthemas, das der Psychiater seinen Patienten bereits zu Beginn der Tortur nahelegte: “Die Therapie wird solange fortgesetzt, bis Sie geheilt sind.” Klartext: “Sie werden solange gefoltert, bis Sie das gewünschte Verhalten zeigen”

Wilhelm Neutra fühlte sich in seiner Schrift “Seelenmechanik und Hysterie” (1920) genötigt, den Leser durch ausführliche, wenn nicht ausschweifende philosophische und psychologische Betrachtungen auf sein eigentliches Thema hinzuführen. Doch sobald er dann zur Sache kommt, schildert er seine Methode sehr drastisch, unmissverständlich und beinahe lustvoll. Er lässt keinen Zweifel daran, dass es sich dabei um eine Form der Folter handele und bekennt sich auch dazu. Sie sei leider nur im militärischen Rahmen anwendbar, weil allein hier der notwendige Zwang ausgeübt werden könne; in diesem Rahmen aber feiere sie Triumphe. Er schreibt:

“Dergestalt sind viele Funktionsstörungen als paradoxe Erfolge der Selbstheilungstendenz zu deuten. Erst wenn der Zustand ein andauernd qualvoller ist und sich nicht als erträglich zu gestalten erweist, dann entschließt sich die  Heilbereitschaft, ich möchte beinahe sagen wehmutsvoll, zur Preisgabe der Hysterie. Die Heilbereitschaft wächst mit der Qual.
In der Anwendung der schmerzhaften Pinselfaradisation können wir dies sozusagen experimentell erkennen. Betrachten wir irgendein Beispiel. Ein hysterisch Gelähmter mit kompletter Astasie-Abasie möchte zwar seinem präsidialbewussten Willen entsprechend wieder gesund sein; seine innere Heilbereitschaft sei aber, nehmen wir an, viel zu gering, um durch irgendein Suggestivmittel zur Gesundheit zu führen. Der Kranke wird deshalb der Schmerzbehandlung unterzogen, um seine Qualen zu vermehren, die eben an sich absolut nicht ausreichen, um eine genügende Expansion des Gesundungstriebes zu erzeugen. Seine Beine werden also mit dem sadistischen Pinsel bearbeitet. Zunächst liegt der Patient dabei ganz ruhig und außer den durch den elektrischen Strom ausgelösten Muskelzuckungen tritt keine aktive Bewegung in die Erscheinung. Die Heilbereitschaft besteht noch nicht. Würde man in diesem Stadium den Patienten auf die Beine stellen, so wäre er immer noch vollkommen unfähig, auch nur einen Augenblick zu stehen.
Wir verstärken den Strom und damit die Schmerzempfindung. Der Patient zeigt nun mimische Schmerzäußerungen, verzieht das Gesicht und beginnt ev. zu weinen. Gleichzeitig krampft er aktiv irgendwelche Muskeln der Beine zusammen, auch solche, die, nicht vom elektrischen Strome getroffen, sich nicht passiv kontrahieren. Die Heilbereitschaft wird rege und erzeugt immer wieder aktive Beinbewegungen, sobald der Schmerz durch den elektrischen Pinsel einsetzt. Aus der Tiefe der völlig unbewussten Schmerzreaktion taucht die Bewegungsmöglichkeit ins Halbbewusstsein empor. Aber dieser Grad reicht noch immer nicht aus und es wäre verfehlt, es dabei bewenden zu lassen. In diesem Stadium würde das Maximum des Erfolges darin bestehen, dass schon die Angst vor dem neuerlichen Elektrisieren die Beinbewegungen ermöglicht, aber ein Stehen oder sogar Gehen wäre noch vollkommen ausgeschlossen. Um den Erfolg rasch zu komplettieren, wird der Strom neuerdings verstärkt.
Die mimischen Schmerzäußerungen oder das Weinen verwandelt sich in Zorn und Raserei. Der Patient wehrt sich aus Leibeskräften,  um sich der Qual zu entziehen. Die Kaltblütigkeit des Arztes, der sine ira zielbewusst weiterarbeitet, und die Handfestigkeit seiner Gehilfen, die dem Patienten die Unzulänglichkeit seiner Fluchtversuche beweist, steigert endlich die Heilbereitschaft bis zu einer solchen Expansion, dass die Steh- und Gehfähigkeit eintritt. Aber noch ist das therapeutische Martyrium gewöhnlich nicht zu Ende. Während früher nur die Befreiung von der Qual erstrebt wurde, ist in diesem Zeitpunkte oft nur die grobe Funktionsstörung gewichen, die volle Heilung jedoch noch nicht erzielt.
Der Patient kann jetzt wohl stehen und gehen, aber sein Gang ist ungelenk, unelastisch, unkoordiniert. Die Heilbereitschaft der Hysterie begnügt sich damit nicht bloß, sondern strebt geradezu nur eine derartige Besserung des Zustandes an, als notwendig ist, um die Lustbilanz aktiv zu machen. Wir müssen uns eben nur daran erinnern, dass die Hysterie psychenergetisch ein Ziel des Lusttriebes und ein Werk der in seinem Dienste stehenden Krankheitsbereitschaft sei. Um nicht auf halbem Wege stehen zu bleiben, setzt nun der Arzt seine Folterarbeit fort, bis endlich der Lusttrieb, diesmal aber in seiner Verkleidung als Heilbereitschaft sich in die Gesundheit flüchtet, die unter den gegebenen Umständen einzig und allein die Qualfreiheit verbürgt. “

Neutra führte die kriegsbedingte Hysterie auf einen unterbewussten Konflikt zwischen Selbsterhaltungstrieb und Kampfmoral (Patriotismus, soldatische Ehre) zurück. Die hysterischen Symptome stellten also einen Kompromiss dar, seien eine Flucht in die Krankheit, durch die der Erkrankte das Gesicht wahren und gleichermaßen auch strafrechtliche Konsequenzen vermeiden könne. Es handele sich bei der Kriegsneurose nicht um eine Simulation, da der Patient diese Konfliktlösung nicht mit bewusstem Willen anstrebe.

Während des 2. Weltkriegs entwickelte der Psychiater Friedrich Panse eine verschärfte Form der Elektrobehandlung von Kriegsneurotikern. Er kombinierte sie mit einen ausgeklügelten System von Suggestionen. Sein Verfahren ging unter dem Begriff “Pansen” in die Medizingeschichte ein. Diese Behandlung war so grausam, dass die Führung der Reichswehr sie zunächst nur bei “Freiwilligen” gestattete. Doch als sich ab 1943 die militärische Situation erheblich verschlechterte, wurde sie auch als Zwangsmaßnahme zugelassen.

Wir sehen also, dass die Waffen, mit denen Jensen und Kollegen die Seele von Candy Jones eroberten und kolonisierten, bereits lange zuvor von der Psychiatrie und insbesondere der Militärpsychiatrie geschmiedet worden waren. Auch wenn heutige Psychiater über diese “vergessenen” Kapitel aus der Geschichte ihrer Zunft überrascht sein mögen, so waren die Methoden zur künstlichen Erzeugung multipler Persönlichkeiten und zur Verhaltensformung durch “Faradisierung” zu Zeiten der “Control of Candy Jones” jedem nicht mehr ganz jungen Psychiater durchaus geläufig.

Es kann also kein Zweifel daran bestehen, dass “Mind Control” schon lange vor den einschlägigen Verschwörungstheorien und den entsprechenden Hollywood-Filmen gang und gäbe, nämlich psychiatrischer Alltag war. In diesem Licht betrachtet, gewinnt die Geschichte der Candy Jones erheblich an Plausibilität.

Fragen

Auf seiner Website schreibt der Autor des Buches über Candy Jones Martyrium, Donald Bain anlässlich einer Neuausgabe seines Werks:

“Questions about the original book continue to surface. 20th Century Fox paid significant money for it as a film vehicle for Jane Fonda, yet has never made the movie, despite screenplays by three of Hollywood’s best, and refuses to sell it to dozens of producers who’ve expressed interest in making the film. Why? The CIA attempted to surpress the book, as did one of the doctors, a physician to the stars, who spearheaded the intelligence agency’s mind control experimentation.”

Warum wurde der Film nicht gedreht, obwohl er damals wie heute beste Erfolgsaussichten gehabt hätte bzw. haben würde? Das Buch unterscheidet sich von vielen heutigen “Erfahrungsberichten” angeblicher  Mind-Control-Opfer vor allem dadurch, dass die geschilderten Methoden weitgehend den Verfahren entsprechen, deren Effektivität bereits im letzten Drittel des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts solide dokumentiert wurde. Vielleicht macht gerade dies das Buch so gefährlich, immer noch.

Candy Jones starb 1990 im Alter von 64 Jahren an Krebs. In einem Nachruf rühmte die New York Times ihre Verdienste als Model, Lehrerin und Autorin. Ihr Schicksal als mutmaßliches Opfer eines Gehirnwäscheprogramms wird ebenso wenig erwähnt wie das Buch von Donald Bain: The Control of Candy Jones. Es ist immer noch uneingeschränkt lesenswert.

Literatur

Bain, D. (1976). The Control of Candy Jones. Chicago, Ill.: Playboy Press Book

Binet, A. (1886). Alterations of Personality. New York: Appleton

Bowart, W. H. (1994). Operation Mind Control. Revised and expanded researchers Edition. Fort Bragg, Ca.: Flatland Editions, Kapitel 8, Seite 115 ff.

Emery, C. (1997). Secret, Don’t Tell. The Encyclopedia of Hypnotism, Pahrump, NV: Acorn Hill Publishing

Gabriel, R. A. (1988). The Painful Field. The Psychiatric Dimension of Modern War. New York, Westport, Con., London: Greenwood Press

Moll, A. (1890). Der Hypnotismus. Zweite vermehrte und umgearbeitete Auflage. Berlin: Fischer’s Medicinische Buchhandlung. H. Kornfeld

Neutra, W. (1920). Seelenmechanik und Hysterie. Leipzig: F. C. W. Vogel

Nobel Lectures, Physiology or Medicine 1901-1921, Elsevier Publishing Company, Amsterdam, 1967

Richet, C. R. (1884). L’homme et l’intelligence: fragments de physiologie et de psychologie. Paris: F. Alcan

Riedesser, P. & Verderber, A. (1996). “Maschinengewehre hinter der Front”. Zur Geschichte der deutschen Militärpsychiatrie. Frankfurt am Main: Fischer

Ross, C. A. (2000). Bluebird. Deliberate Creation of Multiple Personality By Psychiatrists. Richardson, TX: Manitou Communications

Siemen, H.-L. (1982). Das Grauen ist vorprogrammiert. Psychiatrie zwischen Faschismus und Atomkrieg. Gießen: Focus

Yealland, L. (1918). “The Hysterical Disorders of Warfare”. London: McMillan

Anmerkungen

(1) Nobel Lectures (1967)
(2) Eine exzellente Zusammenfassung der Experimente Richets findet sich in Binet (1896, 249), ausführlich Richet (1884)
(3) Moll (1890, 104 f.)

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