An die Mitglieder des
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- Innenausschusses (Landtag Baden-Württemberg)
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- Gesundheitsausschusses (Hamburgische Bürgerschaft)
Sehr geehrte …,
Sie müssen sich u. a. mit der Zwangsbehandlung sog. psychisch Kranker auseinandersetzen. Die Rechtfertigung einer Zwangsbehandlung beruht u. a. auf einer psychiatrischen Diagnose. Die Validität dieser Diagnosen wird aktuell von einigen renommierten Experten und Organisationen auf Grundlage wissenschaftlicher Befunde massiv in Zweifel gezogen.
Das DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders), die so genannte Psychiater-Bibel, ist das offizielle Diagnose-Schema der American Psychiatric Association (APA). In Deutschland wird anstelle des DSM der psychiatrische Teil der ICD (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) verwendet; die Diagnosen („Krankheitsbilder“) stimmen aber weitgehend überein.
Der Direktor des „National Institute of Mental Health“ (NIMH), Thomas Insel bezeichnete am 29. April 2013 in seinem „Director’s Blog“1 das DSM als nicht valide.2 „Nicht valide“ bedeutet: Das DSM diagnostiziert nicht, was es zu diagnostizieren vorgibt. Insel schreibt:
“Das Ziel dieses neuen Handbuchs, wie aller vorherigen Ausgaben, ist es, eine gemeinsame Sprache zur Beschreibung der Psychopathologie bereitzustellen. Obwohl das DSM als “Bibel” für dieses Gebiet beschrieben wurde, ist es, bestenfalls, ein Lexikon, das eine Menge von Etiketten kreiert und sie definiert. Die Stärke jeder dieser Ausgaben des DSM war “Reliabilität” – jede Edition stellte sicher, dass Kliniker dieselben Begriffe in derselben Weise benutzten. Seine Schwäche ist sein Mangel an Validität. Anders als bei unseren Definitionen der Ischämischen Herzkrankheit, des Lymphoms oder von AIDS, beruhen die DSM-Diagnosen auf dem Konsens über Muster klinischer Symptome, nicht auf irgendwelchen objektiven Labor-Daten. In der übrigen Medizin entspräche dies dem Kreieren diagnostischer Systeme auf Basis der Natur von Brustschmerzen oder der Qualität des Fiebers. In der Tat, symptom-basierte Diagnosen, die einst in anderen Gebieten der Medizin üblich waren, wurden im letzten halben Jahrhundert weitgehend ersetzt, weil wir verstanden haben, dass Symptome selten die beste Wahl der Behandlung anzeigen. Patienten mit psychischen Störungen haben Besseres verdient.“
Insels Einschätzung, dass psychiatrische Diagnosen nicht valide seien, schlug in den USA wie eine Bombe ein; das NIMH untersteht schließlich dem US-Gesundheitsministerium und sein Direktor ist einer der einflussreichsten Psychiater der Vereinigten Staaten. Das NIMH ist das mit Abstand größte psychiatrische Forschungszentrum weltweit. Es kostet den amerikanischen Steuerzahler jährlich 1,5 Milliarden Dollar, also rund 1,16 Milliarden Euro.
Insels Statement stellt keineswegs eine Meinung unter Meinungen dar. Sein Urteil kann sich vielmehr auf den Stand der empirischen Forschung zu dieser Frage stützen. Trotz jahrzehntelanger Bemühungen scheiterte die psychiatrische Wissenschaft bisher bei ihrem Versuch, einen Zusammenhang zwischen psychiatrischen Diagnosen und Hirnprozessen und / oder Erbanlagen nachzuweisen. Wissenschaftler des psychiatrischen Instituts der Universität Basel und des Instituts für Psychose-Studien des King’s College in London stellen beispielsweise unmissverständlich fest:
„Mehr als drei Jahrzehnte nach Johnstones erster computerisierter, axialer Tomographie des Gehirns von Individuen mit Schizophrenie, wurden keine konsistenten oder reliablen anatomischen oder funktionellen Veränderungen eindeutig mit irgendeiner psychischen Störung assoziiert und keine neurobiologischen Veränderungen wurden in der psychiatrischen Forschung mit bildgebenden Verfahren endgültig bestätigt.3“
Der Psychologe und Psychotherapeut Jay Joseph zeigt darüber hinaus in einer Dokumentation des Forschungsstandes zur Erblichkeit der so genannten psychischen Krankheiten, dass bisher noch bei keiner dieser Störungen eine genetische Grundlage methodisch einwandfrei nachgewiesen werden konnte.4
Nicht nur kritische Psychiater, auch klinische Psychologen haben die psychiatrische Diagnostik aufs Korn genommen, weil sie ja ebenfalls mit diesen Klassifikationssystemen arbeiten müssen. Die „Division of Clinical Psychology“ der „British Psychological Society“, die 50.000 Psychologen vertritt, plädiert in einem „Position Statement“ (13. Mai 2013) dafür, das DSM sowie den psychiatrischen Teil der ICD zu verwerfen.5 Sie fordert eine Abkehr vom medizinischen Modell seelischen Leidens und vom „Krankheitskonstrukt“. Sie begründet dies u. a. mit der mangelnden Validität des DSM sowie der in Großbritannien wie auch in Deutschland üblichen ICD.
Die Validität ist die entscheidende Größe zur Berechnung der Trefferquote eines diagnostischen Verfahrens. Diese ist umso niedriger, je weniger valide die Diagnose ist. Ist die Validität gering, dann wird die Diagnose überwiegend vom Zufall bestimmt. Der Arzt könnte dann auch auslosen, ab der Patient eine “psychische Krankheit” hat oder nicht. Folgendes Beispiel veranschaulicht die praktische Bedeutung der Validität diagnostischer Verfahren:
In einer Einrichtung zur Behandlung der Krankheit X seien zehn Plätze frei. Es gilt, aus einem Kollektiv von 100 Leuten mit Verdacht auf X zehn Patienten auszuwählen, die diese Krankheit tatsächlich haben. Unser diagnostisches Verfahren sei leider nicht sehr valide; der Validitätskoeffizient betrage r= .15. Nun wissen wir aus Erfahrung, dass unter hundert Verdachtsfällen dreißig Prozent an X erkrankt sind.
- Unter diesen Bedingungen werden vier Patienten aufgenommen, die tatsächlich an X erkrankt sind.
- Sechs Patienten werden behandelt, obwohl sie X nicht haben.
- 64 werden zu recht nicht behandelt, weil sie gesund sind.
- 26 Patienten, die krank sind, werden nicht behandelt.
- Die Trefferquote beziffert sich in diesem Fall auf ca. vierzig Prozent.
- Wäre die Validität gleich null6, dann wären drei Probanden wahr positiv, sieben falsch positiv, 63 wahr negativ und 27 falsch negativ. Die Trefferquote entspräche somit der Zufallswahrscheinlichkeit von dreißig Prozent.
- Bei guter Validität mit einem Koeffizienten in Höhe von r= .7 würde die Trefferquote in diesem Beispiel auf 82 Prozent steigen.(Der statistische Hintergrund dieses Beispiels wird in einem Aufsatz von Taylor und Russell erläutert.7)
Der Streit um das DSM-5 offenbart eine tiefe Krise der Psychiatrie, denn die Validität der Diagnosen ist keine rein akademische Frage. Mit welchen Recht werden eigentlich Menschen zwangsbehandelt, wenn das Gesetz dies nur bei “psychisch Kranken” mit Neigung zur Selbst- bzw. Fremdgefährdung zulässt, die Psychiatrie aber die Validität der entsprechenden Diagnosen nicht zu gewährleisten vermag? Angesichts fehlender Validität der Diagnostik kann niemand mit hinlänglicher Sicherheit garantieren, dass Zwangsbehandelte tatsächlich „psychisch krank“ und für sich selbst oder andere gefährlich sind.
Ich bitte Sie, die genannten Gesichtspunkte bei Ihrer Entscheidung zur Zwangsbehandlung „psychisch Kranker“ zu berücksichtigen.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Hans Ulrich Gresch
1 Thomas Insel, Director’s Blog: Transforming Diagnosis
2 „The goal of this new manual, as with all previous editions, is to provide a common language for describing psychopathology. While DSM has been described as a “Bible” for the field, it is, at best, a dictionary, creating a set of labels and defining each. The strength of each of the editions of DSM has been “reliability” – each edition has ensured that clinicians use the same terms in the same ways. The weakness is its lack of validity. Unlike our definitions of ischemic heart disease, lymphoma, or AIDS, the DSM diagnoses are based on a consensus about clusters of clinical symptoms, not any objective laboratory measure. In the rest of medicine, this would be equivalent to creating diagnostic systems based on the nature of chest pain or the quality of fever. Indeed, symptom-based diagnosis, once common in other areas of medicine, has been largely replaced in the past half century as we have understood that symptoms alone rarely indicate the best choice of treatment. Patients with mental disorders deserve better.“
3 ”More than three decades after Johnstone’s first computerised axial tomography of the brain of individuals with schizophrenia, no consistent or reliable anatomical or functional alterations have been univocally associated with any mental disorder and no neurobiological alterations have been ultimately confirmed in psychiatric neuroimaging.” Borgwardt, S. et al. (2012). Why are psychiatric imaging methods clinically unreliable? Conclusions and practical guidelines for authors, editors and reviewers. Behavioral and Brain Functions, 8:46
4 Joseph, J. (2012). The “Missing Heritability” of Psychiatric Disorders: Elusive Genes or Non-Existent Genes? Applied Developmental Science, 16, 65-83,
6 Diesen Wert müsste man annehmen, wenn man Insels Verdikt folgt.
7 Taylor, H. C. & Russell, J. T. (1939). The relationship of validity coefficients to the practical effectiveness of tests in selection: Discussion and tables. In: Journal of Applied Psychology, 23, 565–578
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