Rätsel
Wir leben in einer rätselhaften Welt. Daran ist prinzipiell nichts zu ändern. Je mehr wir über die Welt herausfinden, desto mehr neue Fragen stellen sich. Menschen suchen nach Erklärungen, mitunter verzweifelt, denn ohne Erklärung für ein Phänomen fühlen sie sich unsicher oder gar bedroht. Manche Menschen neigen dazu, vorschnell fragwürdige Erklärungen zu akzeptieren, um ihre Furcht vor dem Unerklärlichen zu beschwichtigen.
Dabei unterlaufen ihnen Denkfehler. Mitunter sind diese Denkfehler offensichtlich, springen förmlich ins Auge. Dennoch werden sie nicht erkannt oder missachtet, auch von Leuten, deren Intelligenz ausgeprägt genug wäre, um die Denkfehler als solche zu durchschauen. Das psychiatrische Feld ist ein sprudelnder Quellgrund für derartige Absonderlichkeiten des menschlichen Denkens.
Spötter meinen, dass die Mehrheit der Menschen Irre seien – und sofern man unter einem Irren im eigentlichen Wortsinn einen Menschen versteht, der von seinem Irrtum nicht lassen will; dann in der Tat erweisen sich viele Zeitgenossen beim Thema “Psychiatrie” als Irre sondergleichen.
Schon lange habe ich es aufgegeben, mit solchen Irren zu diskutieren, weil deren einschlägige Argumente derart irrational sind, dass man sich die Mühe, vernünftige Gegenargumente vorzutragen, unbesorgt ersparen kann und unbedingt ersparen sollte.
Kluge Leute, die bemerken, mit welcher Sorte von Irren sie es hier zu tun haben, zucken mit den Achseln und wenden sich nach Möglichkeit unverfänglicheren Themen zu oder ziehen ihrer Wege, um die erfreulichere Gesellschaft klarerer Gemüter zu suchen.
Argumente und Gegenargumente
Wer aber nicht ganz so klug oder unheilbar optimistisch ist, sieht sich schnell in Wortwechsel der folgenden Art verstrickt:
- Argument: “Wer krank ist, leidet. Menschen mit seelischen Schwierigkeiten leiden. Also sind sie krank und ein Fall für den Arzt.”
Gegenargument: “Nicht alle, die krank sind, leiden. Nicht alle, die leiden, sind krank. Für Leiden sind nicht allein Ärzte zuständig. Trost können beispielsweise alle Menschen einem Leidenden zusprechen.”
Typische Replik der Irren: “Das ist doch ganz etwas anderes, so habe ich es nicht gemeint. Ich spreche doch hier nicht von allen Menschen, sondern von den psychisch Kranken, und die gehören zum Arzt. Das sagt dir aber auch jeder!” - Argument: “Mein verstorbener Schwiegervater war schizophren. Wenn der seine tollen Tage hatte, war der nicht zu bändigen, bis seine Medikamente Wirkung zeigten. Ein Arbeitskollege von mir hat Ähnliches mit seinem Nachbar erlebt und neulich haben sie im Fernsehen einen Fall gezeigt, wo’s auch so war. Ergo: Man kann gegen diese Pillen sagen, was man will, helfen tun sie aber schon.”
Gegenargument: “Wenn das bei den Personen A, B und C so war, so heißt das doch noch lange nicht, dass es bei allen Betroffenen so ist.”
Typische Replik der Irren: “Glaube mir, mit etwas mehr Lebenserfahrung würdest du wissen, dass dies immer so ist. Das liegt doch auf die Hand. Das steht in jeder Zeitung und die Ärzte sagen es auch. Also: rein logisch hast du natürlich recht, aber das Leben ist nun einmal nicht logisch.” - Argument: “Bei den psychisch Kranken stimmt was im Dachstübchen nicht. Die ticken aus, weil was im Hirn nicht richtig funktioniert. So einfach ist das.”
Gegenargument: “Bisher hat man noch keine Hirnstörungen gefunden, die für psychische Krankheiten verantwortlich sind. Es handelt sich hier also nur um eine Hypothese.”
Typische Replik der Irren: “Na, da sagen die Ärzte, die’s schließlich wissen müssen, weil sie’s ja studiert haben, aber etwas ganz, ganz anderes. Wahrscheinlich hast du selber ‘nen Defekt in der Birne und willst es einfach nur nicht wahrhaben. Außer dir denkt jedenfalls keiner so. Das weiß doch jeder: Menschen sind psychisch krank, weil ihr Gehirn nicht richtig tickt. Du willst wohl, dass alle Irren frei herumlaufen und harmlosen Passanten die Bäuche aufschlitzen dürfen.” - Argument: “Schizophrene glauben an verrücktes Zeug, vertreten Ansichten, die überhaupt nicht stimmen können. Fritz hat neulich behauptet, sein Computer würde von Geheimdiensten überwacht. Der ist auch sonst so seltsam. Wenn der mal nicht schizophren ist.”
Gegenargument: “Nicht jeder, der an etwas glaubt, was scheinbar nicht stimmen kann, ist deswegen schizophren. Manches, was angeblich nicht stimmt, hat sich später als wahr herausgestellt.”
Typische Replik der Irren: “Ja, ja. Alles Theorie. Wer so einen Blödsinn behauptet, wie der Fritz, der hat sie nicht alle. Wie kämen wir denn da hin, wenn wir jedem Blödmann jeden Scheiß abkaufen würden. Du bist wohl auch Verschwörungstheoretiker?” - Argument: “Wenn Fritz bei klarem Verstand wäre, dann würde er nicht halluzinieren. Da er aber halluziniert hat, ist er schizophren.”
Gegenargument: “Es haben auch schon Menschen halluziniert, bei denen keinerlei Anzeichen einer psychischen Erkrankung festgestellt wurden.”
Typische Replik der Irren: “Ausnahmen bestätigen bekanntlich die Regel. Normalerweise ist jemand mit Halluzinationen schizophren oder meinetwegen drogensüchtig. Warum kommst du immer mit so weit hergeholten Beispielen?” - Argument: „Manche Leute haben dauernd Schwierigkeiten mit Kollegen. Da ist es doch wohl sehr wahrscheinlich, dass die psychisch krank sind, denn psychisch Kranke kommen bekanntlich sehr häufig mit Menschen nicht klar.“
Gegenargument: “Papier brennt, weil Papier brennbar ist. Das sagt doch gar nichts aus.”
Typische Replik der Irren: “Du, ich habe schon eine ganze Menschen Kollegen mit einem Dachschaden gehabt. Mit denen kommst du nicht klar, weil die einen Schlag schräg haben. Da kann du dich so viel bemühen, wie du willst. Hab’ ich nicht recht?” - Argument: “Die Martina ist als Kind sexuell missbraucht worden und heute geht sie auf den Strich, ist depressiv und nimmt Drogen. Da ist es doch wohl klar, wo das herkommt.”
Gegenargument: “Wenn das Ereignis B dem Ereignis A folgt, so bedeutet dies doch nicht zwangsläufig, dass B durch A verursacht wurde. Wenn ich in die Hände klatsche und es beginnt zu regnen, heißt dies doch auch nicht, dass ich ein Wettermacher bin.”
Typische Replik der Irren: “Klar, dass du als Mann das so sehen musst. Kannst du dir eigentlich nicht vorstellen, was es für ein Mädchen emotional bedeutet, wenn es vom eigenen Vater sexuell missbraucht wird. Hör’ mir bloß auf mit deinen Spitzfindigkeiten. Ihr Männer haltet sowieso alle zusammen und solltet euch was schämen.” - Argument: “Man hat festgestellt, dass bei der psychischen Krankheit X häufig der Hirnprozess Y gestört ist. Damit ist bewiesen, dass die Störung von Y die Krankheit X hervorruft.”
Gegenargument: “Es könnte doch auch umgekehrt sein: Beispiel: Leute mit der Diagnose X bekommen das Medikament Z und dieses Medikament ruft als Nebenwirkung die Störung von Y hervor.”
Typische Replik der Irren: “Das kann ja wohl nicht sein. Wenn Z solchen Schäden hervorrufen würde, dann hätte es nie eine Zulassung bekommen. Wie dumm, meinst du, sind die Forscher wohl, dass sie nicht selbst an diese Möglichkeit gedacht und sie natürlich ausgeschlossen haben? Du glaubst wohl an die ‘Big-Pharma-Verschwörung’”.
Betrug und Selbstbetrug
Man könnte mühelos den gesamten Vormittag damit zubringen, derartige Beispiele aufzulisten. Das Schockierende dabei: Man muss nicht lange nachdenken, um sie zu finden. Sie sind allgegenwärtig. Noch schockierender: Das Marketing des psychiatrisch-pharmaökonomischen Komplexes beutet solche Denkfehler schamlos aus, um den Verkauf von Psychopharmaka und psychiatrischen Dienstleistungen anzukurbeln.
Man mag einwenden, dass Marketing generell versucht, die Wässerchen der menschlichen Dummheit zu großen Strömen zu kanalisieren und dann auf seine Mühlen zu leiten; allein: Hier geht es um Denkfehler, die u. U. Menschenleben ruinieren.
Doch nicht nur das Marketing macht sich die beschriebene Neigung zu charakteristischen Denkfehlern zu nutze; auch in der psychiatrischen Behandlung spielt sie eine entscheidende Rolle. Die so genannte Krankheitseinsicht beispielsweise besteht aus nichts anderem. Gleichermaßen sind die angeblichen Behandlungserfolge eine Ausgeburt derartiger Denkfehler.
Betrug und Selbstbetrug sind das Lebenselixier eines Gewerbes, dem die Kontrolle fehlt, weil es keine objektiven Maßstäbe zu seiner Beurteilung gibt. Denkfehler beherrschen im Übrigen auch die Auseinandersetzung der Psychiatrie-Fans mit den Psychiatriekritikern. Das prominenteste Beispiel: “Scientology kritisiert die Psychiatrie. X kritisiert die Psychiatrie. Also ist X ein Scientologe.”
Seriöse Psychiatriekritik hat aber nichts mit Sekten zu tun und auch nichts mit versteckten eigennützigen oder abseitigen Motiven. Jeder, der sich mit der Psychiatrie wissenschaftlich auseinandersetzt, gelangt zwangsläufig zu einem vernichtenden Urteil – solange er nicht vergisst, was er einmal über die Grundregeln wissenschaftlichen Arbeitens gelernt hat.
Dies klingt apodiktisch, aber es handelt sich in Wirklichkeit um eine Tatsachenfeststellung. Die so genannte Wissenschaft der Psychiatrie erfüllt alle Kriterien einer Para- bzw. Pseudowissenschaft.
Skeptiker, die alternativmedizinische Ansätze, oft mit vollem Recht!, in der Luft zerreißen, aber zur Psychiatrie schweigen, geben mir Rätsel auf. Warum nur auf einem Auge blind? Wir leben in einer rätselhaften Welt. Ich möchte bei der Suche nach Erklärungen für dieses weit verbreitete Skeptiker-Phänomen nicht in Denkfehler verfallen.
Logik
Man kann den Begriff der „psychischen Krankheit“ auf zwei grundsätzliche Weisen auf ein Verhaltensmuster beziehen, und zwar so:
- (a) Ein Mensch ist „psychisch krank“, wenn er die Verhaltensweisen a, b, c… zeigt.
- (b) Ein Mensch ist „psychisch krank“, weil er die Verhaltensweisen a, b, c… zeigt.
Im Fall (a) handelt es sich bei dem Begriff „psychisch krank“ um ein Kürzel für die Verhaltensweisen a, b, c… In diesem Fall ist „psychisch krank“ eine beliebige, austauschbare Zeichenkette. Man könnte genauso gut „marsmenschlich“ statt „psychisch krank“ schreiben, was auch immer.
Im Fall (b) jedoch handelt es sich um ein Hypothese, um eine Tatsachenbehauptung, die natürlich bewiesen werden muss.
Ein Beweis setzt voraus, dass man einen von a, b, c… unabhängigen Faktor F findet und dass man zeigt, dass dieser unabhängige Faktor F diese Verhaltensweisen verursacht.
Folgendes Beispiel soll die Logik verdeutlichen:
Peter stürzt. Die Hypothese lautet: Peter stürzte, weil er von Paul gestoßen wurde. Um diese Hypothese zu beweisen, müssen wir zunächst einen Paul identifizieren. Dieser Paul kann nicht Peter selbst sein, sonst wäre Peter ja nicht gestoßen worden, sondern aufgrund anderer Ursachen gefallen. Wenn es uns nun gelingt, diesen Paul zu identifizieren, dann können und müssen wir nachweisen, dass er der Stoßende war.
Genauso verhält es sich auch mit den “psychischen Krankheiten”: Wenn wir nachweisen wollen, dass die Verhaltensweisen a, b, c… durch eine “psychische Krankheit” verursacht wurden, dass sie also „Symptome“ einer psychischen Krankheit sind, dann müssen wir einen Faktor F finden, der logisch unabhängig von diesen Verhaltensweisen ist.
Der Begriff „psychische Krankheit“ legt nun nahe, diesen Faktor F in der „Psyche“ zu suchen. Doch was ist die Psyche? Wir haben hier offensichtlich dasselbe Problem wie mit der „psychischen Krankheit“.
Entweder wir verwenden den Begriff der Psyche als Kürzel oder als Hypothese. Verwenden wir ihn als Kürzel, dann ist er nichts weiter als eine beliebige Zeichenkette. Ansonsten brauchen wir wieder einen unabhängigen Faktor F.
Dem Zeitgeist entsprechend, wird heutzutage im Allgemeinen angenommen, der Faktor F sei sowohl im Falle der Psyche, als auch im Falle der „psychischen Krankheiten“ das Nervensystem.
Hirnstörungen?
Hinsichtlich der „psychischen Krankheiten“ sieht die Situation wie folgt aus:
- Es wird versucht, die neuronalen Grundlagen der als „psychisch krank“ bezeichneten Verhaltensweisen durch Korrelationsstudien zu belegen. Korreliert werden psychiatrische Diagnosen mit neurologischen Parametern.
Es ist aber logisch unmöglich, aus Korrelationen Kausalität abzuleiten. Eine Korrelation lässt immer drei Möglichkeiten offen:
- A verursachte B;
- B verursachte A;
- ein dritter Faktor C verursachte A und B.Daher sind diese Studien zum Beweis der Hypothese, dass die Verhaltensweisen a, b, c … durch eine „psychische Krankheit“ verursacht seien, nicht geeignet.
- Die Befunde der einschlägigen empirischen Studien sind zudem uneinheitlich, widersprüchlich. Es gibt häufig genauso viele Studien, die für eine Hypothese, wie Untersuchungen, die gegen sie sprechen. Seriöse Wissenschaftler sind sich bei dieser Forschungssituation einig, dass für keine der so genannten psychischen Krankheiten Hirnstörungen eindeutig als Ursache identifiziert werden konnten.
- Im Jahr 2004 veröffentlichten elf führende Neuro-Wissenschaftler (Monyer, Rösler, Roth, Scheich, Singer, Eiger, Friederici, Koch, Luhmann, van der Malsberg, Menzel) ein Manifest in der Zeitschrift Gehirn & Geist (Heft 6):
„Nach welchen Regeln das Gehirn arbeitet; wie es die Welt so abbildet, dass unmittelbare Wahrnehmung und frühere Erfahrung miteinander verschmelzen; wie das innere Tun als „seine“ Tätigkeit erlebt wird und wie es zukünftige Aktionen plant, all dies verstehen wir nach wie vor nicht einmal in Ansätzen. Mehr noch: Es ist überhaupt nicht klar, wie man dies mit den heutigen Mitteln erforschen könnte. In dieser Hinsicht befinden wir uns gewissermaßen noch auf dem Stand von Jägern und Sammlern.“
Dieser Befund ist auch heute noch zutreffend.
Aus all dem folgt, dass die Psychiatrie den Beweis für die Behauptung, es gäbe „psychische Krankheiten“, bisher noch nicht erbracht hat. Es ist überhaupt nicht klar, wie man die angeblichen biologischen Ursachen “psychischer Krankheiten” mit heutigen Mitteln erforschen könnte.
Nun fühlt sich die Psychiatrie berechtigt, Abweichungen von Normen und Erwartungen als Krankheiten zu behandeln – und zwar mit dem Argument, dass man dereinst die pathologische Natur dieser Abweichungen schon werde beweisen können. Diese Legitimation beruht auf einem Denkfehler.
Das ist in etwa so, als würde man heute schon geliehenes Geld ausgeben in der Gewissheit, die Schulden schon bald dank eines Lottogewinns zurückzahlen zu können.
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