Alles psychisch?
Sie gehen zum Arzt, sie haben dies oder das. Der Doktor untersucht Sie. Er sagt, er könne so recht nichts finden, was für dies oder das verantwortlich sei. Doch so schnell gibt er sich nicht geschlagen. Wenn der Arzt nicht mit bloßem Auge sehen oder mit den Händen ertasten kann, was Ihnen fehlt, so ist er heutzutage noch lange nicht aufgeschmissen. Moderne medizinische Apparaturen und Labore helfen ihm herauszufinden, worunter sie leiden und woran es liegt.
Allein, nicht immer. Sie kommen zum zweiten Termin, um die Ergebnisse der aufwändigen Tests und Durchleuchtungen zu erfahren, doch der Doktor zuckt nur mit den Schultern, nichts gefunden! Sie schauen ihn ratlos an. So etwas hat der Arzt nicht gern. Niemand soll ratlos seine Praxis verlassen, unter dies und das leidend, nach wie vor, ohne eine Erklärung seines misslichen Befindens, auch wenn der Doktor mit seinem kleinen Mediziner-Latinum am Ende ist.
Also rückt sich der Mediziner hinter seinem Schreibtisch zurecht, nimmt eine aufrechte, stramme Positur ein, blickt Ihnen zugleich milde und streng ins Auge und spricht also: Es könnte etwas Psychisches sein. Dies wird und muss auch Ihnen einleuchten:
- Wenn weder Ihr erfahrener Arzt, noch die modernen Apparaturen und Labore Licht ins Dunkel von diesem oder jenem, was sie plagt, zu bringen vermochten,
- was denn, wenn nicht Sie selbst, also Ihre Psyche, sollten wohl dafür verantwortlich sein, dass es Ihnen schlecht geht.
Und der Doktor hat ja auch nicht ewig Zeit. Also, nehmen Sie den schwarzen Peter und geben Sie wenigstens bis zur Chronifizierung Ruhe! Danach sehen wir weiter.
Fakten und Fiktionen
Doch halt, wer wird denn gleich in sich gehen? Benutze lieber deinen Verstand und frage dich: Stimmt das denn auch? Der medizinische Fachbegriff für Fälle wie diese, so wissen Sie aus der Zeitung, dem Magazin oder dem Werbeblättchen aus der Apotheke, heißt: “psychosomatische Störung”. Die Frage lautet nunmehr also, gesetzt den Fall, Sie hätten sich zu kritischem Denken entschlossen, unter diesen für Sie günstigen Bedingungen also lautet die nunmehr naheliegende Frage: Gibt es so etwas wie “psychosomatische Störungen” überhaupt?
Ich weiß, ich weiß: Die Psychosomatik ist, aus unterschiedlichen Gründen, nicht nur bei den Medizinern, sondern auch in der Presse und natürlich bei den Frauen Kult. Diesen in Frage zu stellen, kommt einem schweren Sakrileg gleich. Trotzdem, liebe Leserin, lieber Leser, will ich diese Sünde auf mich nehmen, denn ich würde mich wirklich grämen, wenn Ihnen wegen eines Irrglaubens gesundheitlich etwas zustieße und ich hätte Sie nicht zuvor zumindest nachdrücklich gewarnt.
Wer meint, dass sich die Psychosomatische Medizin auf einen soliden Fundus empirischen Wissens stützen könnte, irrt gewaltig. Es gibt zwar eine nennenswerte Zahl von Studien, die sich dieser Thematik annehmen; sie alle jedoch leiden an diversen methodischen Problemen, die eine eindeutige Interpretation der Befunde ausschließen.
Methodische Probleme
Ich möchte dies an einem Beispiel verdeutlichen: Koronare Herzerkrankungen sind häufig und ebenso häufig werden psychosomatische Faktoren im Ursachenbündel dieser Krankheiten verortet. Dazu gibt es eine Reihe von Studien mit teilweise widersprüchlichen Ergebnissen. Ich greife nur eine Meta-Studie heraus, um an ihr die grundsätzliche Problematik möglichst anschaulich darzustellen.
Chida & Steptoe (1) gingen der Frage nach, ob ein Zusammenhang zwischen der Neigung zu Wut und Feindseligkeit einerseits und koronaren Herzerkrankungen andererseits bestehe. Sie recherchierten in den einschlägigen medizinischen Datenbanken und fanden 25 Studien, die sich empirisch mit dieser Fragestellung auseinandersetzten. Sie fassten die Befunde zusammen und entdeckten bei habitueller Feindseligkeit nicht besonders ausgeprägte, aber statistisch signifikante Zusammenhänge, nämlich:
- ein erhöhtes Erkrankungsrisiko in den gesunden Populationen sowie
- eine schlechtere Prognose in den zu Beginn der jeweiligen Studie bereits erkrankten Gruppen.
Solche Untersuchungen messen die Neigung zu Wut und Feindseligkeit in aller Regel mit psychologischen Tests bzw. Fragebögen und korrelieren die Befunde dann mit medizinischen Variablen wie beispielsweise Angina Pectoris oder Herzinfarkt. Statistische Laien setzen mitunter voraus, dass Korrelationen der Beweis für eine Kausalbeziehung seien, doch dies ist keineswegs der Fall. Korrelieren zwei Variablen (A und B) miteinander, so gibt es prinzipiell drei mögliche Erklärungen:
- A verursacht B
- B verursacht A
- der Zusammenhang ist auf eine Drittvariable zurückzuführen, die sowohl mit A, als auch mit B korreliert, nämlich C.
So könnte man beispielsweise argumentieren, es sei doch möglich, dass zornige und feindselige Menschen häufiger starker Raucher wären und dass Rauchen die Wahrscheinlichkeit einer koronaren Herzerkrankung erhöhe. Rauchen wäre bei dieser Argumentation also eine C-Variable. Der Zusammenhang zwischen Wut und Zorn sowie koronarer Herzerkrankung wäre dann also kein kausaler, sondern er wäre übers Rauchen vermittelt.
Das Rauchen will ich nicht weiter thematisieren, (außer vielleicht mit dem Hinweis, dass es grundsätzlich ratsam ist, nicht zu rauchen), denn einige Studien zeigen, dass der Zusammenhang zwischen A und B auch dann bestehen bleibt, wenn man den Einfluss des Rauchens statistisch aus den Daten herausrechnet (Partialkorrelationen). Vielmehr möchte ich auf einen Sachverhalt hinweisen, der selten bedacht wird, nämlich auf die soziale Klassenzugehörigkeit als C-Variable.
Der Zusammenhang zwischen Klassenzugehörigkeit und Herzerkrankungen ist empirisch erhärtet (Beispiele: 2,3). Meines Wissens wurde aber noch nicht versucht, Klassenzugehörigkeit als C-Variable aus dem Zusammenhang von Wut und Feindseligkeit auf der einen und koronaren Herzerkrankungen auf der anderen Seite statistisch herauszurechnen. Ich halte es aber für sehr wahrscheinlich, dass dieser Zusammenhang dann verschwinden würde, weil nämlich die Äußerung von Wut und Feindseligkeit vermutlich mit der Klassenlage korreliert. So deutet beispielsweise ein Experiment darauf hin, dass Menschen mit niedrigem sozio-ökonomischen Status dazu tendieren, sich feindselig (zumindest aber reserviert) gegenüber Menschen mit einem höheren sozialen Status zu geben, weil sie sich in solchen Situationen häufig bedroht fühlen.
“It is also possible that in situations where lower-class individuals perceive threat—such as the situations studied in the present investigation (e.g., teasing interactions)— these individuals may be less likely to behave prosocially because of their increased hostile reactivity in these contexts (4).”
Dies dürfte sich auch auf Menschen aus der Unterschicht übertragen lassen, die Teilnehmer einer Untersuchung sind, in der sie sich mit Wissenschaftlern konfrontiert sehen, die offensichtlich einen höheren sozio-ökonomischen Status besitzen. Das damit verbundene Bedrohungserleben könnte für Wut- und Feindseligkeitswerte, die über denen von Teilnehmers aus übergeordneten Schichten liegen, zumindest mitverantwortlich sein. Mit anderen Worten: Trifft diese Hypothese zu, dann könnte es sich bei dem Zusammenhang zwischen Wut und Feindseligkeit auf der einen und koronarer Herzerkrankung auf der anderen Seite um eine Scheinkorrelation handeln, die durch den Faktor “Klassenlage” hervorgerufen wird. (6)
Sie werden Unwägbarkeiten dieser Art bei jeder Studie zur Psychosomatik begegnen, die auf Korrelationen zwischen psychischen und körperlichen Faktoren beruht. Diese Studien beweisen mutmaßliche psychosomatische Zusammenhänge keineswegs, weil stets Drittvariablen denkbar, oft auch naheliegend sind, die eine Scheinkorrelation hervorgerufen haben könnten, so dass sich eine kausale Interpretation der Daten verbietet. Eine Scheinkorrelation verschwindet, wenn man die relevanten C-Variablen herausrechnet. Mit anderen Worten: in einer hinsichtlich C homogenen Gruppe würde man keine signifikante Korrelation zwischen A und B messen können.
Genauer hinschauen
Die Psychosomatik ist ein Sammelsurium von Hypothesen. Häufig sprechen die vorliegenden Studien zum Teil für, zum Teil gegen den vermuteten Zusammenhang. Myrtek (5) beispielsweise untersuchte ebenfalls u. a. den Zusammenhang zwischen Feindseligkeit und koronarer Herzkrankheit; auch er fasste eine größere Zahl von Studien zusammen und schrieb über den summarischen Befund, dieser sei zwar signifikant, der Zusammenhang aber so schwach, dass ihm keine praktische Bedeutung zukomme.
Wenn Ihr Arzt, lieber Leser, bei Ihnen also einen “psychischen Faktor” als Ursache oder Teilursache von diesem oder jenem unterstellt, was er sich anders nicht erklären kann, dann dürfen sie getrost vermuten, dass er das Blaue vom Himmel herunterfantasiert (7). Sie müssen ihm nicht unbedingt massiv widersprechen, zumal er dies dann wahrscheinlich als Bestätigung seiner Psychodiagnose empfinden würde, sondern sie dürfen ihn durchaus mit großen Augen dankbar anschauen. Nur eins sollten sie nicht: Sie sollten sich diesen Psycho-Quatsch nicht zu eigen machen.
Denn wenn sie sich die psychosomatische Diagnose anverwandeln, dann beginnen Sie folgerichtig auch, darüber nachzudenken, was denn in Ihrer Psyche falsch läuft und krank macht. Ich garantiere Ihnen, ich gebe Ihnen Brief und Siegel darauf, dass es nicht lange dauert, bis Sie auch irgendetwas Derartiges in den dunklen Ecken ihrer Seelenkammer hervorgekramt haben. Sie haben zwar keine Möglichkeit zu überprüfen, ob dieses oder jenes in den Kellerräumen Ihrer Innenwelt für diese oder jene körperliche Störung tatsächlich verantwortlich ist – aber wenn Sie erst einmal auf diesem falschen Dampfer sitzen, dann werden Sie schnell das sichere Land der Vernunft hinter sich lassen und unter einer iatrogenen Denkstörung leiden. Wer aber vermöchte dann noch, Ihnen zu helfen?
Nehmen wir einmal an, Sie hätten Rückenschmerzen. Eine körperliche Ursache ist nicht auszumachen. Sie sind, wegen der heftigen Schmerzen, ziemlich zermürbt und am Ende Ihrer seelischen Kräfte. Der Onkel Doktor meint, die Schmerzen seien psychisch verursacht, womöglich eine “somatisierte Depression”. Gemach! Schauen Sie genauer hin. Eventuell ist beispielsweise Ihr Arbeitsplatz eine ergonomische und ihr Chef eine menschliche Katastrophe und vielleicht sind genau dies die Faktoren, die einerseits für die Rückenschmerzen und andererseits für ihre notorisch miese Stimmung verantwortlich sind. Dagegen aber helfen weder Antidepressiva, noch Psychotherapien – nicht wirklich, allenfalls scheinbar.
Anmerkungen
(1) Chida Y, Steptoe A. (2009). The association of anger and hostility with future coronary heart disease: a meta-analytic review of prospective evidence.J Am Coll Cardiol. 2009 Mar 17;53(11):936-46
(2) Lammintausta A, Immonen-Räihä P, Airaksinen JK, Torppa J, Harald K, Ketonen M, Lehto S, Koukkunen H, Kesäniemi AY, Kärjä-Koskenkari P, Salomaa V; FINAMI Study Group (2012). Socioeconomic inequalities in the morbidity and mortality of acute coronary events in Finland: 1988 to 2002. Ann Epidemiol. 2012 Feb;22(2):87-93
(3) Hawkins NM, Jhund PS, McMurray JJ, Capewell S. (2012). Heart failure and socioeconomic status: accumulating evidence of inequality. Eur J Heart Fail. 2012 Feb;14(2):138-46
(4) Kraus, M. W., Horberg, E. J., Goetz, J. L. & Keltner, D. (2011). Social Class Rank, Threat Vigilance, and Hostile Reactivity. Personality and Social Psychology Bulletin, 37(10) 1376–1388
(5) Myrtek M. (2001). Meta-analyses of prospective studies on coronary heart disease, type A personality, and hostility. Int J Cardiol. 2001 Jul;79(2-3):245-51
(6) Es ist im Übrigen auch denkbar, dass die Neigung, empfundene Feindseligkeit zu verschweigen, sich mit zunehmendem sozialen Status verstärkt, weil dies von den “gebildeten Ständen” so erwartet wird. Auch dies kann zu einer scheinbaren Korrelation zwischen Wut und Feindseligkeit einerseits und koronarer Herzerkrankung andererseits beitragen.
(7) Eine umfassende, allgemein verständliche Auseinandersetzung mit den Ideen der Psychosomatik findet sich in Rolf Degens Buch: Lexikon der Psycho-Irrtümer (2000, Frankfurt a. M.:Eichborn). Bei keiner der so genannten psychosomatischen Krankheiten lassen sich psychische Faktoren im Ursachenbündel empirisch nachweisen.
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