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Zwangsbehandlung: Alles Banane?

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Stellen Sie sich vor, im Staat Banania würde ein Teil der Bürger dazu gezwungen, die ungeliebten Produkte und Dienstleistungen einer bestimmten Gruppe von Anbietern zu konsumieren. Diese Bürger würden durch ein Losverfahren ausgewählt. Um keinen Unmut aufkommen zu lassen, würde diese Lotterie als “wissenschaftlich fundierte Diagnostik” getarnt und von hochkarätigen Experten verwirklicht. Diese Fachleute wären Mitarbeiter der Anbieter dieser Produkte und Dienstleistungen. Ihnen obläge es auch, die Zahl der Lose, die den betroffenen Bürger zum Zwangskonsum verpflichten, festzulegen.

Wenn Sie nun meinen, dass es sich bei dieser Geschichte um einen Kalauer handele oder um eine Episode aus einer schlechten Comedy-Serie, dann sollten Sie folgendes Dokument etwas genauer unter die Lupe nehmen.

Drucksache 15/3588

Um dieses Dokument in den Banania-Kontext einordnen zu können, muss man sich allerdings Folgendes vor Augen halten:

  1. Psychiatrische Diagnosen und Prognosen sind nicht valide; dies bedeutet, dass die damit verbundenen Trefferquoten in etwa zufälligen Resultaten entsprechen. Nehmen wir also einmal an, es gäbe tatsächlich psychisch Kranke, die für sich selbst oder andere gefährlich sind. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung sei 1 Prozent. Dann entspräche die psychiatrische Selektion solcher Personen der Ziehung aus einer Urne mit 99 weißen Kugeln und einer roten, wobei die rote den tatsächlich psychisch kranken Gefährlichen repräsentiert.
  2. Richter neigen dazu, den forensischen Gutachten zu entsprechen, die auf Basis solcher Diagnostik und Prognostik verfasst wurden.
  3. Grundlage psychiatrischer Diagnostik sind Diagnosemanuale, die von Psychiatern mit oft engen Beziehungen zur Pharma-Industrie entwickelt wurden.

Manche Leute, die einräumen, dass psychiatrisch forensische Gutachten mitunter sehr fragwürdig seien, wenden häufig jedoch ein, dass gut ausgebildete und erfahrene Gutachter zu deutlich über der Zufallswahrscheinlichkeit liegenden Diagnosen und Prognosen in der Lage seien. Doch dies ist, im Licht der empirischen Forschung betrachtet, leider ein Trugschluss. Es mag ja sein, dass Ausbildung und Erfahrung in anderen Bereichen eine Rolle spielen, doch im psychiatrischen und psychotherapeutischen Sektor ist dies nicht der Fall. Die entsprechenden Beweise dafür hat Robyn Dawes u. a. in seinem Buch “House of Cards” systematisch dokumentiert (1).

Das Einzige, was das Procedere in Banania und die Zwangsrekrutierung von Kunden im psychiatrischen Bereich voneinander unterscheidet, sind die guten Absichten aller Verantwortlichen. Gute Absichten allein sind zwar kein Garant für gute Taten, aber sie taugen immerhin als Entschuldigung. Dies trifft natürlich auch auf die Verfasser und Unterzeichner des Dokuments zu, das ich Ihnen oben zur kritischen Durchsicht empfohlen habe.

In diesem Dokument heißt es:

Zwangsbehandlungen sollten nur noch möglich sein, wenn eine Person erstens durch ihre Krankheit nicht einsichtsfähig sowie behandlungsbedürftig sei und ihr durch die Behandlung ermöglicht werde, künftig ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu führen, wenn zweitens eine Selbstgefährdung der Person bestehe oder drittens von der Person eine Gefahr für Dritte ausgehe.

Wir haben bereits gesehen, dass psychiatrische Diagnostik mangels Validität ihres Instrumentariums nicht in der Lage ist, Einsichtsfähigkeit, Behandlungsbedürftigkeit sowie Gefährlichkeit für sich selbst und andere festzustellen. Nun wäre es ja schön, wenn sie wenigstens vorherzusagen vermöchte, dass die Behandlung mit guten Erfolgsaussichten ein selbstbestimmtes Leben in Zukunft ermöglicht.

Doch leider auch hier: Fehlanzeige. Wie die Ärztezeitung berichtete, gibt es keine Daten zum Nutzen und Schaden der Zwangsbehandlung für Betroffenen (2). Ohne solche Daten aber kann es keine valide Prognose geben.

Fazit: Unter den gegebenen Bedingungen kann niemand mit hinlänglicher Gewissheit sagen, ob eine Person erstens durch ihre Krankheit nicht einsichtsfähig und behandlungsbedürftig ist und ob ihr durch eine Behandlung ermöglich wird, künftig ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu führen, und ob sie zweitens für sich selbst oder drittens für andere gefährlich ist. Im Grunde also dürfte deswegen niemand zwangsbehandelt werden, weil niemand mit hinlänglicher Gewissheit die genannten Kriterien erfüllt. Leider jedoch sieht alles danach aus, als sei es völlig egal, was im Grunde sein darf oder nicht. The show must go on.

Allein: Was auch immer man anstellt, um die Einrichtungen zur Zwangsbehandlung mit “Patienten” zu füllen – es läuft stets auf eine Lotterie hinaus. Und wenn es denn schon sein muss, dann sollten wir uns wenigstens in einer Hinsicht von Banania unterscheiden: keine Kaschierung des Procederes. Die Selektion der Zwangskundschaft könnte öffentlich im Anschluss an die Ziehung der Lottozahlen erfolgen. Dann winkt die Lottofee dem einen mit dem Millionen-Scheck und dem anderen mit der Zwangseinweisung.

Halt, wird mancher ausrufen: “Da stimmt doch was nicht. Dann hätte ja jeder die gleiche Chance, zum Zwangskunden von Psychiatrie und Psychopharmaka-Herstellern zu werden.”

Gut mitgedacht! Dies müssen wir noch korrigieren. Beispielsweise dadurch, dass wir die Personalausweisnummern von Leuten aus der Unterschicht gleich auf mehrere rote Kugeln drucken, also mehrfach in die Urne werfen. Schließlich wollen wir ja nicht, dass allzu viele Leute aus der Mittel- oder gar aus der Oberschicht hinter psychiatrischen Gittern landen und dass deswegen in gehobenen sozialen Schichten Unmut  entsteht, der den führenden politischen und wirtschaftlichen Kreisen tatsächlich gefährlich werden könnte. 

Anmerkungen

(1) Dawes, R. (1996). House of Cards. New York: Free Press
(2) Ärztezeitung, 1.10.2012: Regierung überfragt. Daten-Blackout um Zwangsbehandlungen

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