Unter allen möglichen Perspektiven ist der moralische Blick auf die Geschichte die schlechteste. Sie führt zur Schwarz-Weiß-Malerei, zum krampfhaften Versuch, die Welt in Gute und Böse einzuteilen. Doch menschliche Geschichte findet überwiegend in Grauzonen statt. Das gilt für den Alltag der Massen gleichermaßen wie für die Großtaten der Elite. Daher führt die moralische Analyse geschichtlicher Abläufe in die Irre, zwangsläufig. Schiere Dämonen und pure Heilige sind eine seltene, eine sehr seltene Erscheinung. Und oft halten diese Charaktere dem kritischen Blick nicht stand.
Diese Einsicht gilt natürlich auch für die Vergangenheit und Gegenwart der Psychiatrie. Das Weltbild mancher Psychiatriekritiker ist bemerkenswert schlicht. Auf der einen Seite stehen die bösen Psychiater, Kriminelle, die aus Niedertracht und Gewinnsucht Menschen malträtieren. Auf der anderen Seite finden sich die guten Psychiatrieerfahrenen, die völlig unschuldig, ohne eigenes Fehlverhalten in die Mühlen der Psychiatrie geraten sind. Das ist Politik, die bekanntlich, so lernen wir bei Carl Schmitt, mit der Unterscheidung von Freund und Feind beginnt.
Diese Haltung mag politisch klug sein (oder auch nicht), doch der Raster ist zu grob, um die Wirklichkeit widerzuspiegeln. Nirgendwo in dieser unvollkommenen Welt gibt es Menschen, die nur gut oder nur böse sind. Warum sollte dies ausgerechnet im Bereich der Psychiatrie anders sein? Von Soldaten hört man mitunter, dass diese Fiktion, nämlich die, zu den unbedingt Guten zu gehören, die sich der unbedingt Schlechten erwehren müssen, die entscheidende mentale Voraussetzung zum Überleben an der Front sei. Doch bei Leuten, die den Krieg für überflüssig halten, erzeugt eine solche Einstellung auch physisch spürbares Unbehagen.
Wenn der moralische Blick auf die Menschheitsgeschichte Frucht bringend wäre, dann müssten moralische Eingriffe in deren Ablauf tatsächlich auch humane Fortschritte nach sich ziehen. Doch leider, leider, zeigt sich bei nüchterner Betrachtung, dass in freundlichen und feindlichen Lagern die Moral zwar gern im Munde geführt wird, die tatsächlichen Handlungen aber vom Eigeninteresse diktiert werden oder oftmals auch schierer Irrationalität unterliegen.
Also selbst jene, die von guter Tat beseelt dem moralischen Ziel entgegenstreben, werden in Momenten geistiger Klarheit erkennen, dass die Ergebnisse, die schlussendlich dabei herauskommen, in den Grauzonen zwischen Gut und Böse angesiedelt sind und keineswegs in den lichten Reichen der höheren Werte.
Und so empfehle ich auch den Psychiatriekritikern eine pragmatische Einstellung. Diese wurzelt nicht in Ideologien, sondern fußt auf empirischer Forschung, aus der sie ungeschönte Schlussfolgerungen zieht.
Eine Psychiatriekritik, die sich darin erschöpft, dem erschauernden Publikum haarsträubende Missstände zu schildern, Szenen mit satanischen Psychiatern, die die armen, unschuldigen Opfer schinden und quälen, nützt letztlich allenfalls jenen, die sie verbreiten. Im Internet bringen solche Geschichten viele Klicks und ihr Urheber darf sich als A-Blogger steigender Aufmerksamkeit erfreuen. Doch den Massen der Betroffenen hilft das nichts, gar nichts, im Gegenteil. Sie geraten noch mehr in Vergessenheit, weil sie das Interesse der Allgemeinheit auf die Star-Opfer konzentriert.
Der Fall Gustl Mollath. Dessen Chronik kann man in Gabriele Wolffs Blog nachlesen. Aufschlussreicher im vorliegenden Zusammenhang als die Einträge der Autorin sind die Kommentare. Die Einblicke in die Welt moralisierender Psychiatriekritik sind Schwindel erregend. Alle Platzhirsche eilen, sich balgend, zur Krippe. Jedes weitere Wort ist zu viel.
Man möge mich nicht falsch verstehen: Es ist legitim, und dies sowohl aus journalistischer, als auch aus fachlicher Perspektive, einen prominenten Fall als Anknüpfungspunkt zu wählen, um den Leser in eine Thematik einzustimmen. Doch wer dann an einem solchen Fall kleben bleibt, nicht willens oder in der Lage ist zu abstrahieren, der instrumentalisiert sein prominentes Opfer aus bewusstem oder unbewusstem Eigennutz.
Natürlich weiß ich, dass die Mainstream-Medien so funktionieren: Es wird auf “Teufel komm’ raus!” emotionalisiert und personalisiert. Die Menschen sind daran gewöhnt und reagieren auf nichts anderes mehr als auf dieses geistige Fastfood. Wer den schnellen Erfolg will, muss sich diesem Trend beugen. Da scheint jede weitere Diskussion überflüssig, solange man sich nicht fragt, wem damit eigentlich gedient ist.
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