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Psychiatrie, Erfolg

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Gefunden in Wikipedia, Fibonacci

Erfolg liegt im Auge des Betrachters. Dies gilt auch für die Psychiatrie. Zwar ist die psychiatrische Diagnostik nicht valide und die psychiatrische Prognostik nicht treffsicherer als die Glaskugelschau. Zwar sind die psychiatrischen Medikamente entweder nicht (nennenswert) effektiver als Placebos oder sie ersetzen eine angebliche Erkrankung durch eine tatsächliche neurologische Störung (Neuroleptika). Zwar ist die Elektrokrampftherapie nicht wirksamer als eine Scheinbehandlung und bei der Psychotherapie hängt der Erfolg weitgehend vom gemeinsamen Glauben der Patienten und Therapeuten an ihn ab. Dennoch fällt es nicht so leicht, die Psychiatrie als ein gescheitertes Projekt zu kennzeichnen. Ihre schiere Existenz, ja, ihr atemberaubendes Wachstum, ihr beständig steigender Einfluss und die erheblichen Kosten, die sie verschlingt, und dies weltweit, sprechen eine andere Sprache.

Wer Psychiatrie als erfolgloses Unterfangen einstuft, wer ihr ankreidet, dass es ihren Patienten – zumindest langfristig – schlechter ginge als Menschen in vergleichbaren Lebenslagen, die nicht von ihr behandelt wurden, der wählt unter Umständen einen falschen Maßstab zu ihrer Beurteilung. Aus Sicht der Pharmaindustrie beispielsweise hat sich die Psychiatrie als glänzende Agentur zur Vermarktung psychopharmazeutischer Produkte herausgestellt. Aus dem Blickwinkel des Staates stellt sich ihre Bereitschaft, schwierige und aufsässige Menschen ruhigzustellen, sicher als tadellos dar. Aus der Perspektive von Angehörigen, die sich eine Entlastung von störenden Familienmitgliedern ersehnen, ist an der Psychiatrie nichts Grundsätzliches auszusetzen. Richter, die suspekte Angeklagte wegen geringfügiger Vergehen für lange Zeit hinter psychiatrische Gitter bringen möchten, haben an der Psychiatrie eindeutig nichts zu kritisieren. Geheimdienste und militärische Spezialeinheiten, die nach Wegen zur Kreation mandschurischer Kandidaten suchten, konnten sich über die Kooperationsbereitschaft der Psychiatrie gewiss nicht beklagen.

Eindeutig also liegt der Erfolg auch hier im Auge des Betrachters. Wer die Psychiatrie beim Wort nimmt und sie als medizinische Veranstaltung auffasst, der kann selbstverständlich kein rosiges Bild von ihren Leistungen zeichnen. Dass sie als medizinische Wissenschaft der Kritik nicht standhält, wurde vielfach dokumentiert, beispielsweise in der Pflasterritzenflora oder in eine größeren Zahl von Büchern wie in der Schrift “Mad Science. Psychiatric Coercion, Diagnosis, and Drugs” von Kirk, Gomory und Cohen. Dass sie aber dennoch kein Meer der Verwüstung hinterlässt, dass sogar viele ihrer “Patienten” mit ihren Leistungen zufrieden sind, zumindest halbwegs, dies steht auf einem anderen Blatt.

Die Psychiatrie ist beileibe kein Fremdkörper in modernen Gesellschaften. Sie findet nicht mehr auf dem Lande, in Hintertupflingen oder gar am Arsch der Welt, verborgen vor den Augen der Öffentlichkeit, hinter hohen Mauern statt. Sie ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen; sie wurde in die Gemeinden integriert; und der Aufenthalt in den entsprechenden Krankenhäusern dauert oftmals nicht lang (auch wenn er alle Jahre wieder stattfindet). Sozialpsychiatrische Dienste kümmern sich um die Patienten und die ambulante Versorgung ist passabel ausgebaut. Selbstverständlich gibt es mitunter Wartezeiten; aber gerade dies zeigt doch, wie beliebt und notwendig die Psychiatrie ist. Es ist ganz in Ordnung so, wenn sich Menschen, die von gesellschaftlichen Normen oder den Erwartungen ihrer Mitmenschen signifikant abweichen und darunter leiden, in psychiatrische Hände begeben.

Man kennt es nicht anders. Es war vielleicht nicht immer so, aber solange man zurückdenken kann, wurde es so gehandhabt. In den Mainstream-Medien erfahren wir, dass dies die beste Lösung sei. Bereits bei den kleinsten Anzeichen einer psychischen Störung solle man den Psychiater aufsuchen, denn bei einer Früherkennung der Malaise habe man die besten Aussichten auf eine dauerhafte Linderung des Leidens. Und da die Psychiatrie die Hilfe für Menschen mit Lebensprobleme haushoch dominiert, fehlen den meisten Betroffenen auch die Vergleichsmöglichkeiten, wenn es um die Beurteilung des Erfolgs der ergriffenen psychiatrischen Maßnahmen geht. Also: Was bleibt einem da auch schon anderes übrig, als zufrieden zu sein?

Die Psychiatrie inszeniert die Bewältigung von Lebensproblemen als Krankenbehandlung. Das ist ein grandioses Schauspiel. Da es sich um Theater, da es sich um therapeutisches Theater im Geiste Jean-Martin Charcots handelt, spielt es recht eigentlich keine Rolle, dass die mutmaßlich Kranken nichts Pathologisches auszeichnet und dass die therapeutischen Maßnahmen in Wirklichkeit Mittel zur Disziplinierung der Devianten sind. Die Kritiker in den Medien sind im Allgemeinen voll des Lobes und die psychiatrischen Show-Stars in den Talkshows machen ihre Sache meist ja auch wirklich gut. Klar: Nörgler wird es immer geben. Der Massengeschmack wird nicht von jedermann geteilt. Manche finden in den Kirchen Zuflucht oder suchen Bestand in esoterischen Zirkeln.

Doch die Karawane zieht weiter. Die “Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde” schreibt: “Neben dem Leid der Betroffenen weisen die Daten auch auf die volkswirtschaftliche Dimension psychischer Erkrankungen hin. In Deutschland sind ca. 40 Mio. Arbeitsunfähigkeitstage auf psychische Erkrankungen zurückzuführen. Die Kosten für die Volkswirtschaft belaufen sich auf etwa 7 Mrd. Euro im Jahr.” Und beklagt: “Die DGPPN als wissenschaftliche Fachgesellschaft sieht den in den letzten 20 Jahren errungenen Fortschritt in der Versorgung psychisch erkrankter Menschen gefährdet, denn niedergelassenen Psychiater erhalten heute weniger Honorar für jeden Patienten als noch im Jahr 2007 und das neue Abrechnungssystem benachteiligt chronisch Kranke in den psychiatrischen Kliniken.”

Hier geht es also um richtig viel Geld und um dessen Verteilung. Und mehr noch: Es geht um noch mehr Geld in der Zukunft und dessen angemessene Verteilung in die richtigen Taschen. Wer wird sich da mit kleinlichen Fragen nach dem Erfolg derartiger Veranstaltungen aufhalten. Wo so viel Geld ausgegeben wird, wo noch mehr Geld ausgegeben werden soll und und vermutlich, trotz aller Sparbemühungen, auch ausgegeben wird, da ist auch Erfolg. Das steht fest. Wer wollte daran zweifeln?

Die Psychiatrie ist notwendig. Sie ist ein Wirtschaftsfaktor mit vielfältigen Verflechtungen in den volkswirtschaftlichen Gesamtzusammenhang. Die 7 Milliarden beziehen sich ja nur auf die Kosten in den Unternehmen. Insgesamt sieht die Sache noch weniger erfreulich aus: “Die volkswirtschaftlichen Kosten aufgrund von psychischen Störungen steigen weiter an. Derzeit liegen die direkten Kosten (Versorgungskosten) bei etwa 28,6 Mrd. Euro”, heißt es im BKK-Faktenspiegel (5/2012, Seite 3). Alles in allem: “Der Ausfall an Bruttowertschöpfung aufgrund von Krankheitskosten durch psychische Störungen beträgt für 2011 rund 45,4 Mrd. Euro.”

Die Psychiatrie ist notwendig. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass ihre Diagnosen nicht valide, ihre Prognosen nicht besser als die Glakugelschau sind und ihre Therapien entweder nur eine Placebowirkung haben oder den Teufel mit Beelzebub austreiben. Die Psychiatrie ist notwendig, weil sie als politisch-ökonomischer Komplex in unsere Gesamtwirtschaft im Besonderen und in unsere Gesellschaft im Allgemeinen unlöslich integriert ist. Die Psychiatrie ist notwendig, weil sich niemand, niemand auch nur vorstellen kann, wie die Gesellschaft funktionieren und der Rubel rollen soll ohne sie.

Und die Psychiatrie wird im Laufe der Zeit immer, immer notwendiger. In den Vereinigten Staaten, die in dieser Angelegenheit Vorreiter und Gradmesser sind, wurde 1956 für “Mental Health Services” $ 1 Milliarde ausgegeben; heute sind es $ 113 Milliarden (siehe Kirk et al.). Es ist müßig, sich mit der Frage aufzuhalten, wodurch diese Kostensteigerung begründet ist. Veränderungen im medizinischen Bereich (mehr Kranke, bessere Diagnosemethoden o. ä.) reichen als Erklärung beim besten Willen nicht aus. Es sind vielmehr ökonomische Prozesse, die dieser finanziellen Explosion zugrunde liegen.

In Deutschland: 28,6 Milliarden Versorgungskosten allein. Im BKK-Faktenspiegel heißt es: “Diese könnten laut Berechnungen des Statistischen Bundesamtes bis 2030 auf rund 32 Mrd. Euro anwachsen.”Es ist müßig, sich zu fragen, wer dies bezahlen soll. Wir alle: Steuerzahler, Mitglieder der Solidargemeinschaft der Versicherten. Theoretisch, rein theoretisch aber auch nur, gibt es kostengünstigere, kosteneffizientere Formen der Hilfe für Menschen mit Lebensproblemen, durchaus. Menschliche Nähe, Zuspruch, ein offenes Ohr wirken mitunter Wunder und Hilfe zur Selbsthilfe ist allemal billiger als medizinische Maßnahmen für Leute, die in Wirklichkeit gar nicht krank sind, sondern unter Lebensproblemen leiden. Doch grau ist alle Theorie – und der goldene Baum muss grünen, im Garten derjenigen, die immer schon profitiert haben und auch weiterhin absahnen wollen.

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