Marsmenschen
Ob ich denn, so werde ich gelegentlich gefragt, die psychisch Kranken überhaupt nicht leiden könne. Wieso? Weil ich mich so abfällig, so geringschätzig über sie äußere. Weil ich ihnen unterstellte, selbst schuld an ihrem Unglück zu sein.
Sind Ihnen Marsmenschen sympathisch? So lautet meine Gegenfrage. Da ich nicht an die Existenz “psychisch Kranker” glaube, sollte es doch eigentlich keine Rolle spielen, ob ich sie sympathisch finde oder nicht. Ein Marsmensch ist eine Fantasiegestalt; der eine hat diese, der andere jene Vorstellung von ihm. Der eine meint, er sei grün und groß, der andere hält ihn für grau und klein. Manche meinen, er sei weise, seine Intelligenz erschließe ihm geistige Räume weit jenseits unseres Fassungsvermögens; andere aber sind davon überzeugt, dass es sich bei den Marsmenschen um teuflische Aliens handele, die in menschlicher Gestalt seit Jahrhunderten auf Erden wohnen und für alle Kriege, Finanzkrisen, Erdbeben, atmosphärischen Störungen sowie das miserable Fernsehprogramm verantwortlich seien.
Die Psychiater betrachten die “psychisch Kranken” offenbar als Außerirdische, die mit der Gabe des Gestaltwandels ausgestattet als Michel Deutscher oder Petra Mustermann in ihrem Behandlungszimmer auftauchen. Sie haben allerdings nur sehr vage Vorstellungen davon, woran man einen solchen Gestaltwandler erkennen kann, und daher sind sie sich häufig hinsichtlich ein und derselben Person nicht einig. Zudem verfügen sie natürlich nicht über objektive Tests, um “psychisch Kranke” zu identifizieren und von “psychisch Gesunden” zu unterscheiden.
Es sollte also wirklich gleichgültig sein, ob ich solche Schimären sympathisch finde. Man könnte mich genauso gut fragen, ob ich Harry Potter leiden kann. Nein, die Geschichten finde ich ziemlich ätzend und den Schauspieler, der Harry Potter verkörpert, den kenne ich nicht. Aber, und nun kommen wir zum entscheidenden Punkt, natürlich gibt es Menschen, die als “psychisch Kranke” bezeichnet werden. Und natürlich ist es legitim zu fragen, was ich von diesen Menschen halte. Sie bevölkern schließlich die Bühne der Pflasterritzenflora. Von diesen handelt, direkt oder indirekt, ein großer Teil der Notizen in diesem Blog.
“Psychisch Kranke”
Vor der Beantwortung dieser Frage will ich mich nicht drücken, obwohl ich sie letztlich für ziemlich bedeutungslos halte. Die Wahrheit meiner Aussagen zu den so genannten psychischen Krankheiten und zur Psychiatrie hängt nicht von meinen persönlichen Einstellungen, von meinen Emotionen und Stimmungen ab. Wer den Wahrheitsgehalt dieser Aussagen überprüfen möchte, muss die empirischen Studien zur Hand nehmen, auf die ich mich beziehe. Hier zählt letztlich nur, was im Licht der Forschung erhärtet werden konnte. Die persönlichen Befindlichkeiten des Autors solcher Äußerungen spielen keine Rolle, absolut nicht.
Und dennoch weiß ich natürlich, dass sich unter meinen Lesern, und hier vor allem den weiblichen, eine ganze Reihe von Leuten findet, die gern wissen möchten, wie ich die Dinge mit dem Herzen sehe. Nüchtern betrachtet ist dies zwar unerheblich, aber wer könnte dieses Thema schon ausschließlich kühlen Blutes auffassen. Zwar hoffe ich, dass mir dies gelingt, aber ganz sicher bin ich mir dabei nun doch wieder nicht.
Auch wenn es, zumindest aus meiner Sicht, keine “psychisch Kranken” gibt, so existieren ohne Zweifel Menschen, die als solche betrachtet werden bzw. sich selbst so einstufen. Und diese Menschen kann man natürlich mögen oder nicht mögen. Nur, sie bilden keine homogene Gruppe, man kann diese Menschen nicht an Merkmalen, die alle teilen, leicht erkennen. Manche haben eine psychiatrische Diagnose, manche nicht. Manche benehmen sich auffällig, anderen merkt man gar nicht an, dass sie als “psychisch Kranke” aussortiert worden sind. Daher kann man Leute, die als “psychisch krank” etikettiert wurden oder sich selbst so bezeichnen, nicht pauschal sympathisch oder unsympathisch finden.
An der ersten Stelle meiner Hitliste stehen Menschen, die als “psychisch krank” diagnostiziert wurden, die aber nicht “krankheitseinsichtig” sind und die den Wahrheitsgehalt ihrer Diagnose bestreiten. Unter diesen auf den ersten Platz gesetzten Menschen sind jene mir die Allerliebsten, die grundsätzlich die Existenz psychischer Krankheiten in Zweifel ziehen. Weniger sympathisch, aber immer noch sympathischer als alle anderen, sind mir jene, die sich, trotz widersprechender Diagnose, nicht als “psychisch Kranke” sehen, manch andere aber dafür halten.
An der letzten Stelle meiner persönlichen Hitliste der Sympathie finden sich jene Menschen, die von dem Glauben durchdrungen sind, psychisch krank und daher für ihr Geschick und ihre Taten nicht oder nur eingeschränkt verantwortlich zu sein. Gegenüber diesen Menschen empfinde ich eine deutliche Antipathie, die sich in manchen Fällen zu einer massiven, sogar intoleranten Abneigung steigern kann, nämlich dann, wenn die “psychisch Krankheit” strategisch genutzt wird, um eigenes Verhalten der Kritik zu entziehen oder um Mitleid zu erheischen, selbst wenn dies unbewusst oder unreflektiert geschieht.
Zwischen diesen Extrempositionen tut sich eine Grauzone mit vielfältigen Schattierungen von Schwarz und Weiß auf. Mitunter, das räume ich ein, bin ich, was Zu- und Abneigungen betrifft, nicht ganz konsequent, finde gelegentlich Leute ziemlich nett, die eher dem Negativpol zugehören und andere ätzend, die eindeutig antipsychiatrische Revolutionäre sind. In dieser Frage sollte man bei mir also keine allzu große Logik erwarten, schließlich handelt es sich hier ja auch um emotionale Befindlichkeiten.
Rollen
Der Mensch ist kein Krokodil, kein Hai; sein Verhalten wird nicht durch Automatismen dominiert. Es beruht auf Entscheidungen. Diese können mehr oder weniger bewusst, mehr oder weniger durchdacht sein. Manchen wird die Rolle des “psychisch Kranken” aufgedrängt, weil sie zu spielen für sie unter gegebenen Bedingungen die beste aller realistischen Alternativen ist. Niemand aber muss sich diese Rolle auch innerlich anverwandeln. Niemand unterliegt dem Zwang, sich selbst als “psychisch krank” zu empfinden.
Wenn man beispielsweise zwangseingewiesen wurde und zwangsbehandelt wird, dann kann man krankheitsuneinsichtig sein und sich dennoch dafür entscheiden, die Rolle des “psychisch Kranken” aktiv zu verkörpern. Man gaukelt den Psychiatern, den Psychologen, dem sonstigen Hilfspersonal vor, ein krankheitseinsichtiger psychisch Kranker auf dem Wege zur Besserung zu sein – in der Hoffnung, so schneller entlassen zu werden.
Die eigene Initiative, die persönliche Aktivität ist der entscheidende Aspekt. Wer sich in einer Situation befindet, in der es die beste aller Möglichkeiten ist, die Rolle des psychisch Kranken zu spielen, sollte sich nicht hängenlassen, sich der Passivität hingeben und allenfalls einmal ziellos aufmucken. Auf mich jedenfalls wirkt der “Patient” gleich viel sympathischer, wenn er seine Rolle als Chance zur künstlerischen Entfaltung begreift. Wer nicht nur jammert und wehklagt, weil er zutiefst von seinem Leid durchdrungen ist, sondern dabei zumindest ein Quäntchen Selbstironie mitschwingen lässt, macht in meinen Augen einfach eine bessere Figur als der übliche “psychisch Kranke”.
Dieser Gedanke kann natürlich auch auf die Revolutionäre übertragen werden, auf die wackeren Streiter gegen die Menschen verachtende Psychiatrie. Selbst unter diesen Leuten finden sich manche, die auch Jahre nach ihrer Psychiatrieerfahrung immer noch negativ an die Rolle des “psychisch Kranken” gefesselt sind, indem sie sich als Opfer der Psychiatrie inszenieren, als ob dies ein Beruf sei. Manche leiden unter einer Art von Wiederholungszwang und benehmen sich tendenziell immer noch in einer Weise, die ihnen einmal die ungerechtfertigte Unterbringung eingebracht hat, um zu erproben, ob sie sich dies nun, als streitbare antipsychiatrische Revolutionäre, leisten können, ohne hinter psychiatrische Gitter einzufahren. Sympathischer finde ich jedenfalls die Menschen, die, trotz schlimmer und schlimmster Erfahrungen, locker bleiben und auch einmal über sich selbst lachen können. Die Rolle des Psychiatrieerfahrenen kann man durchaus kreativ gestalten.
Die Zünfte
Gut, werden manche nun sagen: Jetzt wissen wir, wie du es mit den psychisch Kranken hältst, du schlimmer Finger. Aber wie siehst du die Psychiater, die Psychologen, deine eigene Zunft? Wenn man dir Glauben schenken will, dann unterscheiden dich sich doch wohl eher nur graduell von KZ-Wächtern – oder verstehen wir dich da falsch?
Die so genannten psychisch Kranken sind Menschen wie du und ich. Ganz normal. Sie spielen Rollen und sie entscheiden sich in aller Regel für jene Rollen, die ihnen unter den zur Verfügung stehenden Alternativen als die besten erscheinen. Wir alle verfahren so, natürlich auch Psychiater und Psychologen. Unter den “psychisch Kranken” gibt es solche, die wissen, dass sie die Rolle des “psychisch Kranken” spielen und solche, die tatsächlich glauben, psychisch krank zu sein.
Auch unter den Psychiatern und Psychologen finden sich solche und solche. Analog zur Hitliste der “psychisch Kranken” könnte ich nun gleichermaßen eine Sympathie-Skala für Psychologen und Psychiater skizzieren. Dem interessierten Leser überlasse ich es, sich dies selbst auszumalen. Nur so viel: Ein wenig Selbstironie kann auch dem Psychiater und dem Psychologen nicht schaden. Mir ist bewusst, dass viele gar nicht anders können, als diese Berufe auszuüben, weil sie nichts anderes gelernt haben und weil sich ihnen keine akzeptablen Chancen in anderen Bereichen bieten. Wenn sie doch wenigstens die Wahrheit sagen würden, nachdem sie in Rente gegangen sind.
Meine Sichtweise des Theaters, dass “psychisch Kranke”, “Psychiater”, “Psychologen”, “Psychotherapeuten”, “Angehörige” usw. aufführen, ist also eine durch und durch romantische. Wenn ich es betrachte, so hellt ein Augenzwinkern, ein wenig Ironie sogleich meine Stimmung auf und diese verfinstert sich bei jeder Form der Verbissenheit, bei jedem Mangel an der gebotenen Distanz zu sich selbst.
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