Quantcast
Channel: Lexikon der Psychiatriekritik »» Hans Ulrich Gresch
Viewing all articles
Browse latest Browse all 323

Kritische Psychologie

$
0
0

Die Bezeichnung “kritische Psychologie” hat mindestens drei mögliche Bedeutungen:

  1. Ein Psychologe ist kritisch, wenn er menschliche Verhältnisse hinterfragt. In diesem Sinn ist jeder wissenschaftlich orientierte Psychologe kritisch, denn den Dingen auf den Grund gehen zu wollen, gehört zum Wesen jeder Wissenschaft, ist ihr tägliches Brot.
  2. Ein Psychologe ist kritisch, wenn er die Arbeitsweise der traditionellen Psychologie in Zweifel zieht und durch eine andere, bessere ersetzt wissen möchte. Gemäß dieser Definition sind heutzutage viele Psychologen (methoden-)kritisch, denn eine ganze Menge dieser Leute neigen mehr oder weniger esoterischem Denken zu und arbeiten mit Methoden, deren Effizienz und deren theoretische Grundlagen nicht oder nicht ausreichend empirisch getestet wurden.
  3. Ein Psychologe ist ein Vertreter der Kritischen Psychologie, wenn er sich einer Denkschule zurechnet, die sich mit dem Namen Klaus Holzkamp verbindet. Nur ein kleines Häuflein von Kollegen entspricht dieser dritten Definition.

Ich bin kritischer Psychologe im ersten, im banalen Sinn dieses Begriffs. Darüber hinaus bin ich zwangsläufig kritisch, indem ich die gegenwärtige Psychiatrie aus Sicht der traditionellen Psychologie analysiere.

Traditionelle Psychologie? Dieser Begriff bedarf wohl einer Erläuterung. Traditionell ist die Psychologie eine empirische Wissenschaft mit naturwissenschaftlichem Anspruch. Sie bevorzugt das Experiment. Sie wertet die Ergebnisse quantitativ aus. Das Leitbild ist das methodisch einwandfreie Experiment. Versuchspersonen werden nach dem Zufallsprinzip aus einer Grundgesamtheit ausgewählt in diese Stichprobe wird auf eine oder mehrere Versuchsgruppen und eine Kontrollgruppe verteilt. Quasi-Experimente sind statthaft, wenn sich das Ideal aus ethischen oder pragmatischen Gründen nicht verwirklichen lässt, aber es ist dann zwingend erforderlich, die Einschränkungen der internen und externen Validität eines solchen Versuchs zu benennen und bei der Interpretation zu berücksichtigen.

Einwandfrei? Selbstverständlich ist es problematisch, die weite Welt menschlicher Lebensäußerungen in die enge Begrenzung des psychologischen Labors zu sperren; aber dennoch ist das ideale psychologische Experiment das Beste, was wir haben. Alle anderen Ansätze haben gewisslich mehr Schwachstellen. Diese will ich nicht verteufeln; andere Erkenntniswege, und hier will ich die psychoanalytische Methode im strikten Freudschen Sinne besonders hervorheben, haben zweifellos einige Gesichtspunkte ans Licht gebracht, die mit dem traditionellen psychologischen Ansatz schwerer oder gar nicht zu erforschen gewesen wären.

Doch das klassische Experiment hat den Vorzug der Übersichtlichkeit seiner Bedingungen und es ist im Idealfall allein aufgrund des Versuchsplans und der erhaltenen Daten interpretierbar. Durch die zufällige Auswahl und Verteilung der Versuchspersonen auf die experimentellen Bedingungen lassen sich unsystematische Störfaktoren kontrollieren. Der Siegeszug der modernen Naturwissenschaften ging mit der Durchsetzung der experimentellen Methode einher. Natürlich räume ich ein, dass Menschen etwas anderes sind als eine schiere Ansammlung von Molekülen, Atomen oder Quarks. Das Experimentieren mit Menschen wirft nicht nur ethische, sondern auch erhebliche methodische Probleme auf. Moleküle, Atome oder Quarks denken nicht über den Sinne der Experimente nach, in die sie einbezogen sind.

Dennoch: Die verblindete, randomisierte, placebo-kontrollierte Studie mit einer zusätzlichen No-Treatment-Bedingung ist fraglos das Beste, was wir haben, um psychiatrische bzw. psychotherapeutische Abläufe zu beleuchten. Daher bin ich kein kritischer Psychologe im Sinn der zweiten oder dritten Definition, sondern ein traditioneller, empirisch und naturwissenschaftlicher Psychologe, der Psychotherapie und Psychiatrie im Licht der empirischen Forschung und damit zwangsläufig kritisch betrachtet.

Dass viele Psychologen heute Psychiatrie und Psychotherapie ganz und gar nicht kritisch sehen, muss ich mit großen Staunen und auch einer gewissen Ungläubigkeit, die sich mitunter zur Verzweiflung steigert, zur Kenntnis nehmen. In den Lehrbüchern der Psychologie wird ja nach wie vor die oben skizzierte Methodik der traditionellen Psychologie als verbindlich dargestellt. Und wenn man diese Methodik auf die genannten Gegenstände anwendet, dann kann man recht eigentlich kaum zu wesentlich anderen Schlussfolgerungen gelangen als ich. Meine Kritik ist wirklich nicht besonders originell; und wenn ich wie ein sehr seltener Vogel in der psychologischen Landschaft erscheine, so kann dies keine wissenschaftlichen, es muss andere Gründe haben.

Beispiel: Es kann eigentlich kein Zweifel daran bestehen, dass die diagnostischen Verfahren der Psychiatrie nicht valide sind. Wenn auch eine gewisse Reliabilität, die allerdings erheblich zu wünschen übrig lässt, wohl gegeben sein mag, so kann von Validität angesichts des völligen Fehlens von replizierbaren Korrelationen zwischen den so genannten psychischen Krankheiten und Hirnprozessen wohl kaum gesprochen werden. Aus Sicht der traditionellen Psychologe ist dieser Sachverhalt ein Ausschlusskriterium aus dem Reich der Wissenschaft. Die psychiatrische Diagnostik steht somit auf dem Niveau der Glaskugelschau oder des Rutengangs. Die meisten Psychologen finden diese Tatsache noch nicht einmal der Erwähnung wert. Andere verharmlosen die mangelnde Validität und behaupten, eine verbindliche Definition der “psychischen Krankheiten” sei das Entscheidende. Das mag ja für Esoteriker das Entscheidende sein, die außer mehr oder weniger präzisen Definitionen ihrer feinstofflichen Kräfte und Wirkmächte nicht allzu viel zu bieten haben. Wer Psychologe sein will, in einer würdigen Bedeutung dieses Begriffs, kann sich meines Erachtens damit nicht zufrieden geben.

In ihrem Lehrbuch “Quasi-Experimentation” bezeichnen Cook und Campbell das Experiment als den Königsweg zur Erkenntnis, schränken aber ein, dass natürlich die Übertragung experimenteller Ergebnisse auf die Realität, deren Bedingungen denen des Labors sehr unähnlich sein können, allerdings Probleme aufwirft. Bekanntlich existiert eine “Schere” zwischen dem Ausmaß experimenteller Kontrolle und dem Grad der Übertragbarkeit. Tendenziell sind die Bedingungen einer Studie den realen umso ähnlicher, je mehr Probleme sie bei der Verwirklichung der klassischen experimentellen Methodik aufwerfen. Das Buch “Quasi-Experimentation” setzt sich mit den Bedrohungen der internen Validität von Experimenten auseinander, die vom idealen Versuchsplan abweichen.

Die Autoren schreiben, dass die Randomisierung keinesfalls alle Bedrohungen der Validität eines Experiments ausräumen könne, sondern nur jene, die sich unsystematisch auf die Teilnehmer der Versuchs- und Kontrollgruppen gleichermaßen auswirken können. Doch:

“Rather, the case for random assignment has to be based on the claim that it is a better means of ruling out threads to internal validity und statistical conclusion validity than most quasi-experimental and nonexperimental alternatives – i.e., fewer and less plausible assumptions about alternatives usually need to be made after a randomized experiment than after a quasi-experiment or a non-experiment (1).

Bedrohungen externer Validität kann die Randomisierung allerdings nicht ausschalten. Ein realitätsfremdes Experiment bleibt ein solches, auch wenn die Versuchspersonen zufällig den Versuchsbedingungen zugeordnet wurden.

Gern stimme ich Theodore Sarbin, dem Pionier der Narrativen Psychologie, zu, dass Menschen große Geschichtenerzähler sind und dass die Geschichten, die wir uns selbst und anderen über uns selbst und unsere Welt erzählen, fraglos eine wichtige Grundlage fruchtbarer Hypothesen über menschliches Verhalten und Erleben darstellen (2). Die Narrative Psychologie kann die experimentelle und quasi-experimentelle Forschung jedoch nicht ersetzen, denn Wissenschaft heißt im Kern: Suche nach den Ursachen. Die Erzählungen über (vermeintliche) Ursachen bzw. Motive eigenen oder fremden Verhaltens müssen überprüft werden; der beste Weg dazu ist und bleibt das Experiment.

Nein, ein kritischer Psychologe in irgendeinem nicht banalen Sinn dieses Wortes bin ich nicht, sondern ein durchaus traditioneller. Mir ist bewusst, dass der Erkenntnisfortschritt mittels der klassischen experimentellen Methoden langsam, ja, quälend langsam ist. Man sollte aus meiner Sicht aber nicht der Verlockung nachgeben, die Spekulation an die Stelle der methodisch sauberen empirischen Forschung treten zu lassen. Dadurch kann man den Erkenntnisfortschritt nicht beschleunigen, nicht wirklich.

Ein Psychologe, der sich zu einer methodisch-methodologisch einwandfreien Psychologie bekennt, kann kein Psychotherapeut sein. Denn ein Psychotherapeut behandelt psychische Krankheiten. Aus Sicht der methodisch sauberen, der traditionellen Psychologie sind “psychische Krankheiten” jedoch invalide Konstrukte, die außerhalb der Wissenschaft stehen. Ein traditioneller Psychologe kann natürlich “behavior modification” betreiben, da diese nur bestimmtes Zielverhalten verändern, nicht aber Krankheiten therapieren will. Schon der Begriff “Verhaltenstherapie” ist ein Zugeständnis an das medizinische Weltbild. Die Vertreter der frühen Verhaltenstherapie grenzten sich im Übrigen auch scharf von der Psychotherapie ab und betonten, keine Krankheiten, sondern Verhaltensstörungen zu behandeln.

Die in der Pflasterritzenflora vorgetragene Psychiatriekritik ist also keine politische, keine moralische, sondern eine wissenschaftliche, und sie beansprucht Gültigkeit auch nur insoweit, wie sie sich durch empirische Studien erhärten lässt. Da ich keine Maschine, sondern ein menschliches Individuum bin, mag mir das eine oder andere subjektive Wort über Psychiatrie, Psychiater und Psychotherapeuten entfleuchen; persönliche Wertungen vollends auszumerzen, ist meine Sache nicht. Man möge also nicht alles auf die wissenschaftliche Goldwaage lesen, was man in der Pflasterritzenflora vorgesetzt bekommt. Das Grundgerüst meiner Ausführungen muss aber wissenschaftlich fundiert sein; wer hier Schwächen entdeckt, macht sich um mein Seelenheil verdient, wenn er mich in Kommentaren darauf hinweist.

Anmerkungen

(1) Cook, T. D. & Campbell, D. T. (1979). Quasi-Experimentation. Boston: Houghton Mifflin Co.

(2) Sarbin, T. R. (ed.) (1986). Narrative psychology: the storied nature of human conduct. Westport: Praeger

The post Kritische Psychologie appeared first on Pflasterritzenflora.


Viewing all articles
Browse latest Browse all 323