Anlässlich der Verleihung der Hans-Prinzhorn-Medaille in Berlin im Jahre 2004 verglich der Laudator Prof. Dr. Hartmut Hinterhuber aus Innsbruck in seiner Rede den Preisträger Roland Kuhn mit niemand geringerem als mit Seneca:
“Roland Kuhn – den wir heute ehren – ist wie Lucius Annaeus Seneca Naturforscher und auch Ethiker und Philosoph. Beide vertreten sie die Meinung, das Wissen um die Natur solle den Menschen mehr läutern und bessern als belehren. Der heute Auszuzeichnende verkörpert Spitzenleistungen in der forschenden Medizin, groß sind auch seine Impulse für Kultur, Philosophie und Daseinsanalyse.”
Der 1912 in Biel geborene und 2005 gestorbene Roland Kuhn war ein Schweizer Psychiater und der Entdecker des Imipramins. Diese Substanz gilt als erster Arzneistoff zur Behandlung der Depression. Dies ist natürlich nicht richtig, denn Alkohol und Opium beispielsweise werden seit urerdenklichen Zeiten zur Linderung von Gemütsverstimmungen eingesetzt; sie wirken ebenso wenig ursächlich wie Imipramin oder andere so genannte Antidepressiva. Doch dies ist eine andere Geschichte, zurück zu einem Mann, der angeblich durch Wissen über die Natur Menschen läutern und bessern wollte.
Dieser hoch geschätzte Mann verwirklichte zwischen 1950 und 1978 des vorigen Jahrhunderts klinische Tests an mindestens 1600 Versuchspersonen, und dies ohne Einwilligung der Patienten. Diese unrühmliche Geschichte wurde nunmehr, neun Jahre nach seinem Tode bekannt, wie Schweizer Zeitungen, beispielsweise der Tagesanzeiger und das Bieler Tagblatt berichteten. Zwischen 1954 und 1957 starben insgesamt 23 Versuchspersonen, wobei die Todesfälle niemals untersucht wurden. Kuhn testete auch mehrere nicht zugelassene Substanzen gleichzeitig ohne zureichende Information und Einverständnis der Patienten.
Heute melden sich ehemalige Patienten zu Wort, die an diesen Versuchen teilnehmen mussten, und berichten Schreckliches: Angstzustände, Panikattacken, Alpträume. Einer sagte: Sie haben mich mit Medikamenten vollgestopft wie eine Gans. Kuhn führte auch Tests an Schwangeren durch, um die Auswirkungen des Präparats auf das ungeborene Kind zu überprüfen. Der Tagesanzeiger schreibt:
“Für die zunehmend strenger auftretenden Zulassungsbehörden und die höheren ethischen und wissenschaftlichen Ansprüche habe Kuhn nur Hohn übrig gehabt. Die Reglementierung und den damit verbundenen personellen und materiellen Aufwand störten ihn. Im Jahr 1988 setzt der Thurgau eine Ethikkommission zur Überwachung der klinischen Versuche ein: Im gleichen Jahr rief Kuhn seine Forscherkollegen auf: ‘Kehrt zurück zu jenen Methoden, die seinerzeit zu großem Erfolg geführt haben.’”
Kuhn experimentierte auch mit Kindern sowie einer betagten, schwer kranken Frau, die zum Zeitpunkt der Versuchsreihe nur noch 33 Kilo wog, schreibt der Beobachter.
Roland Kuhn war nicht nur Pharma-Forscher, sondern auch Psychotherapeut, der sich der Daseinsanalyse verschrieben hatte. Er war ein Spezialist für die Kombination von pharmazeutischer und psychotherapeutischer Behandlung, wie sein Freund Charles Kahn berichtet. Die Daseinsanalyse, die auf der Philosophie Martin Heideggers beruht, will die Weltentwürfe “psychisch kranker” Menschen verstehen. Zumindest auf den ersten Blick unterscheidet sich die Daseinsanalyse wohltuend von psychiatrischen Ansätzen, die den psychiatrischen Patienten im Kern auf ein “krankes Gehirn” reduzieren. Im Licht unseres neueren Wissens über Roland Kuhn darf man allerdings den Verdacht hegen, dass dieser die Daseinsanalyse zur tarnenden Verklärung seiner eigentlichen Tätigkeit im Felde fragwürdiger Medikamenten-Versuche missbrauchte.
Zu seinen Lebzeiten fiel kein Schatten auf sein Forscherleben; er wurde als Pionier, besonders der Depressionsforschung, in hohen Ehren gehalten und er war sich seiner Bedeutung durchaus bewusst. 1997 schrieb der Spiegel:
“‘Jammern und Weinen’, erinnert sich der Schweizer Psychiater Roland Kuhn, 85, das sei der Alltag depressiver Patienten gewesen damals, 1939, als er noch Oberarzt an der kantonalen Thurgauischen Psychiatrischen Klinik Münsterlingen war. Vor 40 Jahren, im Herbst 1957, wendete sich das Blatt: Kuhn führte in die Behandlung des jahrtausendalten Menschheitsübels als erster eine wirksame Arznei ein.
Das Medikament, eine Chemikalie namens ‘Iminodibenzylderivat (G 22355)’, später ‘Imipramin’ (Markenname Tofranil) genannt, wird am kommenden Wochenende in Frankfurt am Main gewürdigt; ‘alle Psychiater in leitender Position an Universitäten und Krankenhäusern’ sind dazu eingeladen. Professor Kuhn, ein vitaler Grauschopf, hält den Festvortrag. Sein Fazit: In der ‘Behandlung depressiver Erkrankungen begann 1957 ein neues Kapitel’.”
Wir wissen heute, dass generell nur sehr wenige Patienten tatsächlich von Antidepressiva profitieren und dass viele, wenngleich sie bestenfalls eine schwache Placebowirkung verspüren, unter teilweise gravierenden Nebenwirkungen zu leiden haben (1). Manche meinen zwar, dass diese Substanzen bei schweren Depressionen einem Placebo klinisch bedeutsam überlegen seien, aber eine gründliche Übersichtsarbeit von Moncrieff, Wessely & Hardy zeigt, dass diese Behauptung im Licht der seriösen empirischen Forschung nicht aufrecht erhalten werden kann (2).
Von einem neuen Kapitel kann also nicht die Rede sein, und derjenige, der es angeblich aufschlug, war, angesichts dessen, was wir heute über ihn wissen, auch kein Mensch, bei dem sich der Vergleich mit Seneca aufdrängt. Seneca sagte:
„Die Philosophie ist keine Kunstfertigkeit, die man dem Volk präsentiert oder die sich überhaupt zum Vorzeigen eignet, sie beruht nicht auf Worten, sondern auf Taten. Auch wendet man sich ihr nicht zu, um mit angenehmer Unterhaltung den Tag zu verbringen, um die Freizeit vom Makel der Langeweile zu befreien. Sie formt und bildet den Geist, sie ordnet das Leben, bestimmt unsere Handlungen; sie zeigt, was zu tun und zu lassen ist.“
Roland Kuhn wusste offenbar nicht, was zu tun und zu lassen ist. Daher verbietet sich ein Vergleich mit dem Römer.
Anmerkung
(1) Gøtzsche, P. (2013). Deadly Medicines and Organised Crime: How Big Pharma has Corrupted Healthcare. Radcliffe
(2) Moncrieff J, Wessely S, Hardy R (2012). Active placebos versus antidepressants for depression (Review). The Cochrane Library, Issue 10
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