Offener Dialog
Die Idee klingt gut. In den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts entwickelten Jaakko Seikkula, Markku Sutela und ihr interdisziplinäres Team am Keropudas-Krankenhaus in Tornio, Finnland eine neue Form des Umgangs mit Menschen in akuten Krisen, die von der Psychiatrie als psychotisch eingestuft werden.
Die Grundidee: So früh wie möglich schart ein Team aus mindestens zwei professionellen Mitarbeitern einer Klinik möglichst das gesamte soziale Netzwerk eines Menschen in einer akuten “psychotischen” Krise sowie alle sonstigen involvierten Helfer und die übrigen unmittelbar Betroffenen um sich und tritt in einen offenen Dialog ein. Die Person in der Krise steht dabei im Mittelpunkt. Man spricht nicht im Kreise der Professionellen über den Fall, sondern mit dem direkt und allen indirekt Betroffenen. Zunächst geht es darum, die individuelle Sicht des Menschen in der Krise zu verstehen und dann jeden Teilnehmer zu ermutigen, seine eigene Perspektive einzubringen. So entsteht ein neues Gewebe von Bedeutungen, zu dem jeder Teilnehmer beigetragen hat. Dies kann in einem oder auch in einer größeren Zahl von Treffen geschehen. (Siehe hierzu die Website des Institute for Dialogic Practice).
Die Ergebnisse erscheinen ermutigend, wenngleich eine abschließende Beurteilung angesichts einer geringen Zahl von Studien nicht möglich ist. Seikkula untersuchte die Resultate des Open-Dialogue-Projekts über einen Zeitraum von fünf Jahren (1); Versuchspersonen waren Patienten mit einer ersten “psychotischen Episode”:
- 67 Prozent nahmen niemals Neuroleptika
- 33 Prozent schluckten sie gelegentlich
- 20 Prozent gebrauchten sie am Ende der Fünf-Jahres-Periode
- 67 Prozent entwickelten während des gesamten Untersuchungszeitraums keine “psychotischen Symptome”
- 79 Prozent hatten keine “Symptome” am Ende des Experiments
- 73 Prozent arbeiteten nach fünf Jahren oder gingen zur Schule
- 7 Prozent waren zu diesem Zeitpunkt arbeitslos
- 20 Prozent erhielten Transferzahlungen als “Behinderte”.
Diese Ergebnisse können sich sehen lassen (auch wenn die methodischen Probleme natürlich ins Auge springen). Entsprechend stieß der neue Ansatz aus Westlappland weltweit auf großes Interesse bei psychiatriekritischen Professionellen, die ein neues Paradigma in der Psychiatrie durchzusetzen versuchen. Manche Aktivisten unter den psychiatriekritischen Betroffenen waren ebenfalls sehr angetan (siehe hier). Auch ich will nicht verhehlen, dass ich dieses Projekt spontan sympathisch fand, als ich zum ersten Mal davon hörte und dass ich nach wie vor gern daran glauben möchte, dass es tatsächlich auch funktioniert.
Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass dieser Ansatz sogar in traditionellen Bereichen der Psychiatrie auf steigendes Interesse stoßen wird, wenn erst einmal alle Patente für Neuroleptika abgelaufen sind und keine neuen Produkte mehr auf den Markt kommen (was, wie es aussieht, durchaus denkbar ist). Wenn dann nur noch Generika eingesetzt werden, also keine Quasi-Monopolpreise mehr verwirklicht werden können, dürfte das Interesse der Pharmaindustrie an den Neuroleptika schrumpfen und dann ist auch wieder der Blick frei für alternative Maßnahmen.
Psychiatrischer Zwang
Ja länger ich mich mit diesem Thema beschäftige, desto skeptischer werde ich, gleichsam wider Willen, denn irgendwie finde ich den offenen Dialog ja wirklich erfrischend und human. Allein: der offene Dialog ist ein herrschaftsfreier Diskurs bzw. er ist nur als ein herrschaftsfreier Diskurs wirklich ein neues Paradigma; wäre er kein herrschaftsfreier, so hätten wir es mit Marketing in Form des alten Weins in neuen Schläuchen zu tun.
Herrschaftsfrei ist der Dialog, wenn folgende Bedingungen realisiert sind:
- Die Kommunikationspartner sind gleichberechtigt
- Sie haben die gleichen Möglichkeiten sich zu äußern
- Die Kommunikation ist symmetrisch
- Die Entscheidungsfindung erfolgt durch den “Zwang des besseren” Argumentes.
Diese Art der Kommunikation sollte eigentlich in demokratischen Gesellschaften, die aus freien und gleichen Bürgern bestehen, selbstverständlich sein; ist sie aber nicht, wie wir alle wissen. Natürlich kann man sich diesem Ideal unter den herrschenden Bedingungen zumindest annähern, sofern bestimmte Konstellationen gegeben sind, beispielsweise in einem Verein oder in einer Bürgerinitiative. Aber ob dies auch möglich sein wird, wenn einzelne Kommunikationsteilnehmer die Rolle des “psychisch Kranken” eingenommen haben, bleibt dahingestellt.
Über allen Bürgern schwebt das Damoklesschwert psychiatrischer Zwangseinweisung und Zwangsbehandlung; aber bei Leuten mit einer psychiatrischen Diagnose ist der Faden, an dem das Schwert hängt, wirklich ausgesprochen dünn. Das psychiatrische System ist im Kern ein Zwangsverhältnis, auch in jenen Fällen, in denen es sich bemüht, geeignete Kandidaten durch Überzeugung, Überredung oder mehr oder weniger subtiles Zeigen der Instrumente für eine freiwillige Behandlung zu gewinnen.
Also läuft der offene Dialog immer Gefahr, in eine schwer durchschaubare Apologetik der herrschenden Psychiatrie abzugleiten – und zwar unabhängig vom redlichen Bemühen aller Beteiligten. Was geschieht denn mit einem, der sich im offenen Dialog letztlich doch weigert, den Gesslerhut zu grüßen? Es könnte doch sein, dass einer auf dem Standpunkt des “Irren” beharrt und deswegen dem psychiatrischen Anliegen, für Ordnung zu sorgen, nachhaltig widerspricht. Nicht immer wird es im offenen Dialog gelingen, dem Widerspenstigen eine goldene Brücke zu bauen, die ihn in die Gemeinschaft der halbwegs Normalen zurückführt.
Unter diesen Bedingungen werden sich viele “Irre” im offenen Dialog so verhalten, als handele es sich um ein besonders schonendes und daher auch letztlich um ein besonders heimtückisches Ritual zur Unterwerfung unter die psychiatrische Gottheit. Sie werden sich einem untergründigen Zwang ausgesetzt sehen, der sie umso härter zu treffen vermag, weil er u. U. ebenso wenig zu spüren ist wie der Druck der Luft (um einen Aphorismus Lichtenbergs zu paraphrasieren). Dies ist jedenfalls nicht meine Vision eines angemessenen Umgangs mit Menschen, die unter Lebensproblemen leiden oder deren Verhalten und Erleben für andere, in nicht rechtlich relevanter Weise, zum Problem geworden ist.
Man möge mich nicht falsch verstehen: Den Ansatz des offenen Dialoges finde ich vortrefflich. Es gibt durchaus Menschen, die Hilfe brauchen, auch solche, die sie (zunächst) nicht wollen, mit denen man aber dennoch reden muss. Keineswegs bin ich der Auffassung, dass man den Kopf in den Sand stecken sollte, wenn der Nachbar plötzlich nachts im Treppenhaus wilde Flüche gegen Außerirdische ausstößt, wenn der Kollege behauptet, das Unternehmen sei von Illuminaten unterwandert und deswegen wichtige Akten vernichtet, wenn offenbar verwirrte Leute mit gezückten Messern durch die Straßen laufen. Deeskalierende Strategien sind sicher notwendig.
Falls jemand vorübergehend in Polizeigewahrsam genommen wird, weil er sich oder andere gefährdet, so finde ich dies durchaus akzeptabel. Etwas ganz anderes aber ist es, wenn jemand aufgrund fragwürdiger psychiatrischer Diagnosen und Prognosen eventuell auf Jahre hinter psychiatrischen Gittern verschwindet, um dort ggf. einer ineffektiven Behandlung unterzogen zu werden. Solange diese Gefahr besteht, kann es meines Erachtens keinen offenen Dialog geben, der diesen Namen auch verdient.
Psychiatrisierung körperlicher Störungen
Es tut der Medizin insgesamt nicht gut, wenn einer ihrer Zweige Aufgaben einer Polizei mit gleichsam polizeistaatlichen Befugnissen übernimmt. Zwangsverhältnisse in einem Bereich strahlen ja zumindest atmosphärisch auf allen anderen Bereiche eines Sektors aus. Die Neigung zur Psychiatrisierung körperlich Kranker – vor allem bei seltenen Erkrankungen, die schwer zu diagnostizieren oder bei chronischen Krankheiten mit unklarer Befundlage, die schwer zu behandeln sind – erfüllt mich mit großer Sorge. In einem echten offenen Dialog kann nicht im Vorhinein feststehen, dass jemand an einer “psychischen Krankheit” leidet. Dies sollte eigentlich auch Leuten einleuchten, die dem Glauben an die Existenz solcher Krankheiten anhängen.
Gerade im Falle der Psychiatrisierung körperlicher Beschwerden erkennt man die verheerende Auswirkung des psychiatrischen Jargons auf den offenen Dialog. Denn der Erkrankte, der körperliche Ursachen seines Leidens erwägt und mit seinem Arzt besprechen möchte, wird durch diesen Jargon, der eindeutig dogmatische Wurzeln hat, letztlich abgewürgt. Erkrankte, die unter umweltbedingten Störungen leiden, wissen davon vermutlich ein Lied zu singen. Offener Dialog, durchaus, aber dann doch bitte ergebnisoffen.
Dies gilt natürlich auch für die so genannten Psychotiker. Niemand, niemand kennt wirklich die Gründe, warum einer “psychotisch” wird. Mitunter spricht manches dafür, dass die entsprechenden Phänomene das Resultat einer Kette freier Entscheidungen sind, weil sie letztlich dem Betroffenen als die beste aller Lösungen für seine Lebensprobleme erscheinen. Mitunter aber könnte sich hinter ihnen auch eine Vielzahl körperlicher Erkrankungen verbergen, die sich auf das Verhalten und Erleben auswirken können. Und selbstverständlich könnten auch Umweltgifte, Medikamenten-Cocktails usw. dabei eine erhebliche Rolle spielen. Es mag viele Gründe für “psychotisches oder sonst wie seltsames Verhalten und Erleben geben; Genaues weiß man letztlich nicht.
Notwendig ist er durchaus, der offene Dialog. Er sollte gesamtgesellschaftlich geführt werden; er sollte sich damit beschäftigen, ob “psychische Krankheiten” tatsächlich existieren oder ob es sich dabei schlicht und ergreifend um einen Mythos handelt – um einen Mythos freilich, der im Interesse des Staates, der Psychiatrie, der Pharma-Industrie und vieler anderer Nutznießer liegt.
Anmerkung
(1) Seikkula. J. (2006). Five-year experience of first-episode nonaffective psychosis in open-dialogue approach. Psychotherapy Research, 16, 214-228
The post Psychiatrischer Zwang, offener Dialog appeared first on Pflasterritzenflora.