Laut “Mission Statement” ist die Website “Mad in America” eine Ressource und Gemeinschaft für alle, die an einem Überdenken psychiatrischer Dienstleistungen in den Vereinigten Staaten und im Ausland interessiert sind. Zu den Bloggern dieser Seite zählen Menschen mit gelebter Erfahrung, Psychiater, Sozialarbeiter, Psychologen, Programm-Manager, Journalisten, soziale Aktivisten und Rechtsanwälte.
Die Liste der Autoren liest sich wie ein “Who is Who” der Psychiatriekritiker des (überwiegend) angelsächsischen Raums. Allen voran Robert Whitaker, der Autor der bahnbrechenden Bücher “Mad in America” und “Anatomy of an Epidemic“.
Um nur einige weitere Blogger zu nennen:
- Der Rechtsanwalt Ted Chabasinski ist immer noch “still crazy after all these years”. Chabasinski wurde schon als Kind psychiatrisiert, erhielt als Versuchsperson in einem Experiment massive Elektroschocks.
Auf seiner Autorenseite wird der Name der Ärztin nicht genannt, die dafür verantwortlich war; aber wer sich in der Geschichte der Psychiatrie auskennt, weiß natürlich, um wen es sich handelt: Lauretta Bender. In ihrem Werk “Electroshock and Minors” beschreiben die Autoren Steve Baldwin und Melissa Oxload u. a. die gruseligen Missetaten dieser Medizinerin. Aber ich schweife ab.
Chabasinski überlebte, wurde Anwalt für Patientenrechte. - Der Psychologe Phil Hickey ist ein Mega-Blogger, der es richtig krachen lässt. Sein Blog habe ich in der Pflasterritzenflora bereits besprochen.
- Der Psychologe Jay Joseph setzt sich seit vielen Jahren kritisch mit den Forschungen zu den angeblichen genetischen Ursachen der mutmaßlichen psychischen Krankheiten auseinander. Er ist Autor der Bücher “The Gene Illusion” und “The Missing Gene“.
- Sandra Steingard versucht, kritische Gesichtspunkte in ihrer Arbeit als Psychiaterin fruchtbar zu machen.
- Mit den Augen einer Mutter betrachtet Maria Bradshaw die Abwege der Psychiatrie; sie verlor ein Kind durch einen Selbstmord, der durch Antidepressiva hervorgerufen wurde.
Dies sind nur Beispiele aus einer langen Liste hochkarätiger Autoren. Hinsichtlich der psychiatriekritischen Kernfragen (Existenz “psychischer Krankheiten”; medizinisches Modell “psychischer Krankheiten”; Reform oder Überwindung der Psychiatrie; Selbsthilfe vs. Fremdhilfe) unterscheiden sie sich erheblich voneinander. Mit manchen Positionen kann ich mich nicht einverstanden erklären. Doch jeder Beitrag, den ich bisher gelesen habe, war informativ und regte zu konstruktivem Nach- und Weiterdenken an.
Die Website verfügt über ein umfassendes Archiv, auf dessen Grundlage allein man sich mühelos in die komplexe und vielschichtige Problematik der Psychiatrie einarbeiten könnte. Die Seite mit den Ressourcen konzentriert sich naturgemäß auf den englischsprachigen Raum und erinnert mich schmerzlich daran, dass ich schnellstmöglich eine Liste mit Ressourcen für die Pflasterritzenflora erarbeiten müsste. Neben der Möglichkeit, Beiträge durch Kommentare kritisch zu begleiten, bietet die Website auch Foren zur Diskussion psychiatrischer Themen an.
Aufgrund der Vielzahl renommierter Autoren, der Vielschichtigkeit und Differenziertheit der Beiträge, der journalistischen Qualität der Texte und des übersichtlichen Aufbaus der Präsenz ist “Mad in America” aus meiner Sicht die zur Zeit beste psychiatriekritische Website weltweit.
Diese Website unterscheidet sich wohltuend von vielen anderen auch dadurch, dass es sich hier nicht um die Propaganda-Seite einer antipsychiatrischen Bewegung handelt, sondern um ein psychiatriekritisches Portal, das eine Gesamtschau unterschiedlicher, zum Teil konträrer Meinungen, Ansätze und Perspektiven bietet.
Leider sind wir im deutschen Sprachraum noch nicht so weit, ein vergleichbares Projekt auf die Beine stellen zu können. Dafür ist erstens die Zahl einschlägig qualifizierter Autoren zu klein, die für eine Website dieser Art als Blogger in Frage kämen, und zweitens, so fürchte ich, ist die Furcht vor freier Meinungsäußerung unter eigenem Namen in den deutschsprachigen Ländern erheblich größer als in den Vereinigten Staaten und Großbritannien, den Ländern also, aus denen die meisten Mad-in-America-Blogger stammen.
Es hilft also nichts, Leute: Falls Ihr es noch nicht könnt, lernt Englisch lesen.
PS:
Hier beschreibt der Spiritus Rector der Website, Robert Whitaker in einen Youtube-Video in ein paar Minuten “purpose, history, achievements, community, and future plans of Mad In America“.
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