Forensik transparent ist eine Website, die der “Arbeitskreis Forensische Psychiatrie Transparent” ins Netz gestellt hat. Dies ist ein ein Zusammenschluss von Verantwortlichen aus forensischen Kliniken in Rheinland-Pfalz, im Saarland und in Baden-Württemberg.
Das Angebot will nach eigenen Angaben um Verständnis für die Chancen und Risiken des Maßregelvollzugs werben. Ich aktiviere den Link zur Rubrik “Wissen” und dann auf das “Lexikon“. Schließlich klicke ich auf den Eintrag “Neuroleptika”. Dort lese ich u. a.:
“Neuroleptika dienen zur Behandlung schwerer psychischer Störungen wie Psychosen. Sie sind auch wirksam gegen Halluzinationen während des Alkoholentzugs oder zur Dämpfung anderer Erregungs- und Angstzustände. Sie stellen das Gleichgewicht zwischen den aus den Fugen geratenen Botenstoffen im Gehirn wieder her. Konkret: Informationen und Signale im Gehirn werden wieder richtig weitergeleitet, Symptome gehen zurück oder verschwinden sogar ganz. Das geschieht nicht über Nacht. Die Wirkung des Medikamentes baut sich erst allmählich auf.”
Das fängt ja gut an. Im Kapitel “The chemical imbalance hoax” weist der Leiter des “Nordic Cochrane Center” und Mitbegründer der “Cochrane Collaboration”, Peter Gøtzsche anhand von Studien, die den gegenwärtigen Forschungsstand kennzeichnen, differenziert nach, dass die These der “aus den Fugen geratenen Botenstoffe” eindeutig widerlegt ist (1). Auch der Direktor des National Institute of Mental Health (NIMH), Thomas Insel haut in dieselbe Kerbe. Er bezeichnet diese These als “antiquiert” (2).
Die gemeinnützige Cochrane Collaboration ist ein sehr bedeutendes, international anerkanntes und weltweit arbeitendes Institut zur medizinischen Qualitätssicherung. Das NIMH ist das weltweit größte, dem amerikanischen Gesundheitsministerium unterstellte Forschungszentrum mit einem jährlichen Etat von 1,5 Milliarden Dollar. Es ist schwer vorstellbar, dass den Urhebern von “Forensik transparent” das aktuelle Wissen zu diesem Sachverhalt nicht bekannt sein sollte. Thomas Insel und Peter Gøtzsche sind keine Verschwörungstheoretiker mit zweifelhaftem Ruf, sondern lupenreine, renommierte Wissenschaftler. Ihr Wort zählt etwas in der internationalen Wissenschaftler-Gemeinde.
Unter dem Stichwort “Atypische Neuroleptika” heißt es:
“Atypische Neuroleptika sind Medikamente, die bei der Behandlung von psychischen Krankheiten, vor allem von Psychosen, eingesetzt werden. Sie wirken im Gehirn auf Botenstoffe, insbesondere Dopamin, ein. Während Medikamente früherer Generationen von Neuroleptika teilweise Muskelsteifigkeit und Beweglichkeitseinschränkungen zur Folge haben, werden atypische Präparate diesbezüglich besser vertragen. Aber auch sie sind nicht frei von Nebenwirkungen. Unter anderem nehmen verhältnismäßig viele Patienten stark an Gewicht zu.”
Bereits vor Jahrzehnten als Legende erwiesen hat sich die Behauptung, dass ein Ungleichgewicht der Botenstoffe durch Medikamente korrigiert werden müsste. Es hat sich inzwischen auch, wie man ebenfalls bei Gøtzsche nachlesen kann, herausgestellt, dass die atypischen Neuroleptika keineswegs besser sind als die alten.
Unter “Einsichtsfähigkeit” wird vorgetragen:
“Einsichtsfähigkeit - im forensischen Sinne ist die Fähigkeit, das Unrecht einer Tat einzusehen. Ein Beispiel: Ein Mensch, der an einer Psychose erkrankt ist, hört eine Stimme, die ihm befiehlt, eine andere Person zu töten. Er meint auch, die Stimme sei jene Gottes, der natürlich berechtigt ist, die geltenden Gesetze außer Kraft und neue einzusetzen. Er ist deshalb krankheitsbedingt überzeugt, dass sein Handeln gesetzeskonform ist. Damit ist seine Einsichtsfähigkeit aufgehoben.”
Braham, Trower und Birchwood haben sich den Stand der Erkenntnis zu diesem Thema allerdings etwas genauer angeschaut und ihr Urteil ist ernüchternd. Die einschlägige Forschung, so schreiben sie, steckt noch in den Kinderschuhen und hat mit massiven methodologischen Schwierigkeiten zu kämpfen. Alles in allem habe sich aber gezeigt, dass “command halluzinations” für sich genommen nicht in der Lage seien, entsprechende Aktionen auszulösen. Falls sie in die Tat umgesetzt würden, so seien zusätzliche, vermittelnde psychologische Prozesse dafür verantwortlich (3).
Es ist also keineswegs gesichert, dass ein mutmaßlich psychisch Kranker, dem “Stimmen” die Tötung eines Menschen befehlen, automatisch die Tat auch ausführen müsste, weil er “krankheitsbedingt” nicht einsichtsfähig sei.
Weiter, Klassifikationssysteme:
“Klassifikationssysteme psychischer Störungen definieren genaue Krankheitsmerkmale (Symptome), die vorhanden sein müssen, damit eine Diagnose gestellt werden kann. Die international gebräuchlichsten Klassifikationssysteme sind die ICD (International Classification of Diseases, Injuries and Causes of Death) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und das DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) der American Psychiatric Association (APA). Für die psychiatrische Versorgung in Deutschland, Österreich und der Schweiz gilt offiziell die ICD-10, die zehnte Neuauflage der ICD.”
In seinem Director’s Blog bezeichnete Thomas Insel das DSM als nicht valide (siehe hier). Zu einem ähnlichen Urteil gelangen Greenberg (4), Davies (5), Gøtzsche (1), Kirk et al. (6) und viele, viele andere. Dasselbe gilt für den psychiatrischen Teil der ICD, der sich nicht wesentlich vom DSM unterscheidet. Es kann überhaupt nicht die Rede davon sein, dass diese Klassifikationssysteme genaue Krankheitsmerkmale (Symptome) definieren, weil dies nämlich bei nicht validen diagnostischen Verfahren gar nicht möglich ist.
Dies war eine Kostprobe des “forensischen Wissens” aus Sicht der Betreiber von “Forensik transparent”. Dieses “Wissen” hält offensichtlich der kritischen Überprüfung nicht stand.
In der Rubrik “Aktuelles” findet sich folgendes Zitat:
“Auch aktuelle Zahlen aus weiteren Bundesländern belegen eindrucksvoll den Erfolg forensisch-psychiatrischer Nachsorge bei der Vermeidung von Deliktrückfälligkeit. So präsentierte Roland Freese, Ärztlicher Direktor der Vitos forensisch-psychiatrischen Ambulanz in Haina in seinem Referat die Ergebnisse einer Langzeiterhebung in Hessen. Von insgesamt 1.358 Personen, die sich nach der Entlassung aus dem Maßregelvollzug in einer Nachsorgebetreuung befanden, wurden lediglich vier Prozent mit einer neuen Straftat rückfällig. Das ist erheblich weniger als die Rückfallgefahr bei Maßregelpatienten, die keine Nachsorge erhalten, und unterscheidet sich noch deutlicher von der Deliktrückfälligkeit bei Straftätern, die aus einer Justizvollzugsanstalt entlassen werden: Mehr als jeder zweite setzt hier seine kriminelle Karriere fort.”
Das ist also ein eindrucksvoller Beleg? Für was? Für die methodisch-methodologische Inkompetenz der Verfasser dieses Textes? Eindrucksvolle Belege könnte man allenfalls durch ein randomisiertes Design erbringen. Man hätte nach dem Zufallsprinzip Gruppen zusammenzustellen, die beispielsweise aus 1. Maßregelpatienten mit Nachsorge, 2. Maßregelpatienten ohne Nachsorge, 3. Straftätern aus Justizvollzugsanstalten bestehen. Bei einem nicht-randomisierten Design ergibt sich nämlich die Gefahr von Selektionseffekten. M. a. W.: Es könnten vorab systematische Unterschiede zwischen den Gruppen bestehen, die sich auf die Rückfallhäufigkeit auswirken. Über die Notwendigkeit der Randomisierung, der Kontrollgruppen und der Auswirkungen des Fehlens dieser Maßnahmen informieren beispielsweise Cook & Campbell (7). Die oben erwähnte Untersuchung war nicht randomisiert.
Keineswegs will ich behaupten, dass nicht-randomisierte Studien wertlos seien; sie besitzen fraglos eine heuristische Funktion und dienen weiterer Hypothesengenerierung, aber mit ihnen kann man keinesfalls “eindrucksvoll” den Erfolg einer Maßnahme belegen. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Schmidt-Quernheim kommt in einer einschlägigen Dissertation zu dem Schluss:
“Das tatsächliche empirisch gesicherte Wissen über die Nachbehandlung forensischer Patienten gemäß § 63 StGB ist derzeit unverändert gering, da nur wenige methodisch anspruchsvollere Untersuchungen existieren (8).”
Der Autor schreibt:
“Eine randomisierte kontrollierte Studie ist im forensischen Kontext mithin nicht realisierbar, ethisch nicht vertretbar und sowohl politisch als auch juristisch nicht durchsetzbar: Bei dem hohen Rechtsgut der ‚Sicherheit der Bevölkerung’ wäre es tatsächlich schwer zu vermitteln, einer zufällig ausgewählten Gruppe entlassener Maßregelpatienten forensische Nachsorge nicht als Weisung aufzugeben.”
Wenn dies tatsächlich zuträfe, dann müsste man in der Forensik eben auf eindrucksvolle Belege für die Erfolge von Maßnahmen verzichten; was überhaupt nicht geht, ist, diese zu behaupten, obwohl man sich nur auf Impressionen stützen kann.
Die weitere Analyse dieses neuen Angebots, dass ich heute zufällig beim Zeitungslesen entdeckte, möchte ich mir ersparen. Leider kann ich nicht erkennen, dass hier, in irgendeiner vernünftigen Deutung des Begriffs, für Transparenz gesorgt würde. Meine Stichprobe erbrachte nichts als “Informationen”, die seit Jahrzehnten von der psychiatrischen Marketingmaschinerie vorgetragen werden und die sich als falsch oder zumindest als fragwürdig herausgestellt haben. Ich gab das Wort “Kritik” in die Volltextsuche dieser Website ein und erhielt als Antwort: “KEINE Ergebnisse gefunden.”
Anmerkungen
(1) Gøtzsche, Peter (2013). Deadly Medicines and Organised Crime: How Big Pharma has Corrupted Healthcare. Radcliffe, Kapitel: “The chemical imbalance hoax”
(2) Insel, T. (2011). Director’s Blog: Mental Illness Defined as Disruption in Neural Circuits
(3) Braham, L.G., Trower, P. & Birchwood, M. (2004). Acting on command hallucinations and dangerous behavior: A critique of the major findings in the last decade. Clinical Psychology Review, Volume 24, Issue 5, September 2004, Pages 513–528
(4) Greenberg, G. (2013). The Book of Woe. The DSM and the Unmaking of Psychiatry. New York: Penguin Books
(5) Davies, J. (2013). Cracked. Why Psychiatry is Doing More Harm Than Good. London: Icon Books
(6) Kirk, S. A. et al. (2013) Mad Science: Psychiatric Coercion, Diagnosis, and Drugs. Piscataway, N. J.: Transaction
(7) Cook, T. D. & Campbell, D. T. (1979). Quasi-Experimentation. Boston: Houghton Mifflin Co.
(8) Schmidt-Quernheim, F. (2011). Evaluation der ambulanten Nachsorge forensischer Patienten (§ 63 StGB) in Nordrhein-Westfalen, Dissertation, Universität Duisburg-Essen
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