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Psychiatrie, Gewalt, Medien

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Wer das Stichwort “Psychiatrie” bei “Google News” eingibt, sieht sich an normalen Tagen, an denen nicht irgendein Prominenter in die Psychiatrie musste, mit einer Welt voller Messerstecher konfrontiert. Gut, ich gebe zu, dass mitunter auch andere Waffen von angeblich psychisch Kranken für Gewalttaten verwendet werden; meist aber, so will es scheinen, greifen die Täter zum Nächstliegenden, dem Messer.

“Eine dauerhafte Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus droht einem 29-jährigen Mann, der im Oktober vergangenen Jahres im Streit um eine Frau einen Kontrahenten mit einem Küchenmesser niedergestochen hatte. Nach bisherigen Ermittlungen leidet der Täter unter derart massiven Wahnvorstellungen, dass die Staatsanwaltschaft von einer Anklage wegen versuchten Totschlags absah und jetzt bei Gericht eine Antragsschrift vorlegte, die die zwangsweise Einweisung des Täters in eine Klinik fordert”, heißt es da beispielsweise im Kölner Stadt-Anzeiger.

Der unbedarfte Leser kann zwangsläufig nur den Eindruck gewinnen, dass es sich bei den “psychisch Kranken” um furchtbar gefährliche Leute handeln müsse: Man liest es ja täglich in der Zeitung. In ihrem Wahn stechen sie mit Messern um sich und wohin, wenn nicht in die Psychiatrie, soll man sie stecken? Nur die Zwangsjacke kommt als Garderobe in Frage, der gestreifte Anzug lässt viel zu viel Bewegungsspielraum.

Gelegentlich, aber deutlich seltener, wird nicht von Bluttaten, sondern von neuen Projekten gesprochen; so schreibt das Haller Tagblatt: “Baggern für die Gesundheit: So viel auf einmal wurde wohl noch nie in Schwäbisch Hall in die medizinische Versorgung der Bürger investiert. Über die Großbaustelle am Diak hinaus wird zwischen Bahngleisen und Ringstraße ein weiteres Riesen-Projekt vorangetrieben. Das Klinikum Weissenhof errichtet mit Partnern eine Psychiatrie.”

Und sofern es nicht um Gustl Mollath geht, ist Kritisches zur Psychiatrie eher eine seltene Ausnahme. Die Süddeutsche Zeitung berichtet: “Die Debatte um Fixierungen in bayerischen Psychiatrien nimmt an Schärfe zu. Mit Bezug auf den Fall eines Patienten der forensischen Psychiatrie des Isar-Amper-Klinikums Taufkirchen (Vils), der 60 Tage lang an sein Bett gefesselt worden war, forderten SPD und Freie Wähler am Donnerstag, dass das Thema im Landtag behandelt wird. Die Freien Wähler brachten dazu einen Dringlichkeitsantrag ein. Er wird nächste Woche zusammen mit einem Antrag der Grünen zum gleichen Thema im Sozialausschuss des Landtags behandelt.”

Es bleibt nicht aus, dass im Kopf des mäßig interessierten Zeitungslesers ein völlig schiefes Bild von der Realität der Menschen entsteht, die als “psychisch krank” diagnostiziert werden. Sie sind – dieser Eindruck muss sich zwangsläufig aufdrängen – mehr oder weniger bedrohlich und in der Psychiatrie in der Regel gut aufgehoben, wenngleich diese mitunter übers Ziel hinausschießt.

Seena Fazel und Mitarbeiter analysierten in einer Meta-Studie die relevanten bisherigen Untersuchungen zum Thema “Psychose und Gewalt.” Ihre Schlussfolgerung:

“Schizophrenia and other psychoses are associated with violence and violent offending, particularly homicide. However, most of the excess risk appears to be mediated by substance abuse comorbidity. The risk in these patients with comorbidity is similar to that for substance abuse without psychosis (1).”

Es trifft zwar zu, dass Schizophrenie und andere Psychosen mit Gewalttätigkeit assoziiert sind. Doch der größte Teil der über das normale Maß hinausgehenden Gewalttätigkeit ist auf begleitenden Missbrauch von Drogen und Alkohol zurückzuführen. Menschen mit Psychose und Drogen- bzw. Alkoholkonsum sind nicht gefährlicher als Menschen ohne Psychose, die Rauschmittel konsumieren.

Machen wir die Probe aus Exempel: Ich gebe die Begriffe “Drogen” und “Alkohol” in die “Google-News-Suchmaschine” ein. Das Ergebnis ist bemerkenswert. Das Bild prägen Berichte dieser Art: “Der Mann nahm am Dienstag gegen 15.15 Uhr an der Kreuzung Vordere Stelle/Bauschstraße einer Frau die Vorfahrt. Die Autos stießen zusammen. Der 55-Jährige gab nun Gas und fuhr davon. Die Polizei ermittelte ihn schnell. Dabei bemerkten die Beamten, dass er zu viel Alkohol intus hatte, er musste eine Blutprobe und seinen Führerschein abgeben (Geislinger Zeitung).”

In den Berichten über Alkohol- und Drogenkonsumenten steht deren potenzielle Gewalttätigkeit nicht im Vordergrund; vielmehr beherrschen Verkehrsdelikte (bei denen natürlich unabsichtlich Menschen zu Schaden kommen können) das Bild. Während – laut Presseberichten – der “Psychotiker” überwiegend als Messerstecher unterwegs ist, sitzen die Alkoholiker und Drogenabhängigen stramm oder im Tran hinter dem Steuer.

Bei dieser kurzen Notiz handelt es sich zwar um keine systematische medienwissenschaftliche Analyse; allerdings recherchiere ich zu diesen Thema fast täglich seit Jahren im Internet; sofern mich meine Erinnerung nicht trügt, ist meine heutige Stichprobe der einschlägigen Berichterstattung durchaus repräsentativ. Eine Ausnahme bildete die heiße Phase des Falls “Gustl Mollath”, während der selbstredend der Franke alle anderen Psychiatrie-Themen verdrängte; auf die Art und Häufigkeit von Meldungen zum Thema “Drogen und Alkohol” hatte er allerdings keinen Einfluss.

Dies kann kein Zufall sein: Psychotiker ohne zusätzlichen Rauschmittelkonsum begehen nicht nennenswert mehr Gewalttaten als die Normalbevölkerung – und Alkohol- bzw. Drogenkonsumenten ohne Psychose sind genauso häufig Gewalttäter wie Drogenabhängige bzw. Alkoholiker mit Psychose. Dies spiegelt sich in den Medien so aber nicht wieder. Vielmehr sind hier die Psychotiker für die Gewalt und die Süchtigen für die Verkehrsvergehen zuständig.

In der Website “Kenn dein Limit” heißt es: “15898 Verkehrsunfälle unter Alkoholeinfluss, bei denen es zu Personenschäden kam, wurden im Jahr 2011 registriert. An diesen Unfällen waren 20.209 Menschen beteiligt, 400 Menschen starben an den Unfallfolgen (Angaben Statistisches Bundesamt).”

Ganz gleich also, ob der betrunkene oder unter Drogen stehende Verkehrsteilsnehmer ein Psychotiker ist oder nicht – er stellt eine erhebliche Gefahr für seine Mitmenschen dar. Und häufig fahren solche Leute gewohnheitsmäßig unter dem Einfluss von Rauschmitteln Auto, weil die Gefahr, kontrolliert zu werden, gering ist. Aber nur der Psychotiker läuft Gefahr, zwangseingewiesen und gegen seinen Willen behandelt zu werden. Leute ohne Psychose, auch wenn sie wiederholt betrunken oder unter Drogen am Steuer erwischt werden, haben allenfalls Führerscheinentzug und “Idiotentest” zu fürchten.

Die aktuelle Berichterstattung in den Medien verzerrt die Wahrnehmung der Gefährlichkeit einschlägig verdächtiger Personengruppen fundamental. Dies dürfte zur Erklärung dafür beitragen, warum zwar viele Menschen das lebenslange Wegsperren gefährlicher Irrer fordern, gegenüber alkoholisierten “Verkehrssündern” aber Milde walten lassen.

Messerstecher muss in die Psychiatrie. Das ist die Standardschlagzeile. Mit Überschriften dieses Typs wird tagtäglich das Bewusstsein des gewöhnlichen Zeitungslesers geflutet. Es ist kein Wunder, wenn Kampagnen zur Abschaffung der Zwangspsychiatrie auf massiven Widerstand in der Bevölkerung stoßen. Um dies zu verstehen, genügt ein Blick in die Zeitung. Selbstverständlich hat der Widerstand auch noch andere Gründe, aber die Presse heizt ihn an. Daran ändern auch einzelne psychiatriekritische Berichte nichts. Das Gesamtbild beherrscht der irre Messerstecher.

Anmerkung

(1) Fazel, S. et al. (2009). Schizophrenia and Violence: Systematic Review and Meta-Analysis. PLOS Medicine, Published: August 11, 2009, DOI: 10.1371/journal.pmed.1000120

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