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Wer geht warum in die Psychiatrie?

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Psychiatriekritiker sehen sich früher oder später mit dem Einwand konfrontiert, dass die überwiegende Mehrheit aller Patienten dieser medizinischen Disziplin sich freiwillig, ohne jeden Zwang behandeln lasse. Zumindest bei oberflächlicher Betrachtung trifft dies durchaus zu. Nur ein kleiner Teil der Psychiatrie-Patienten wird (im rechtlichen Sinn) zwangsbehandelt.

Schauen wir genauer hin. Zunächst ein Beispiel aus einem anderen Bereich: Kunden stehen vor der Entscheidung, zwischen zwei Produkten zu wählen, die denselben Zweck erfüllen. Produkt A kostet € 100, das andere (B) nur € 50. Zusatzinformation: Beim Produkt A ist während der (für beide Produkte gleichlangen) Lebensdauer mit durchschnittlich € 25 Reparaturkosten zu rechnen; bei B mit € 75.

Frage: Wenn den Kunden die Zusatzinformation verheimlicht wird, ist dann ihre Entscheidung zum Kauf von B eine freie? Wie steht es um die Freiheit ihrer Entscheidung, wenn ihnen sogar suggeriert wird, B sei nicht nur billiger, sondern verursache auch geringere Reparaturkosten?

Wenden wir uns den Psychiatrie-Patienten zu. Hier lautet die Zusatzinformation (Z): Psychiatrische Behandlungen sind oft nicht effektiver als Placebos. Sie haben dennoch häufig erhebliche Schadwirkungen und dies erst recht, wenn ihre Wirkung über den Placebo-Effekt hinausgeht. Die Schadwirkungen können schlimmer sein als die angebliche Krankheit, die mit diesen Maßnahmen behandelt werden soll.

  • Patient A wird zwangsbehandelt und kennt Z.
  • Patient B wird zwangsbehandelt und kennt Z nicht.
  • Patient C lässt sich ohne Zwang behandeln und kennt Z.
  • Patient D lässt sich ohne Zwang behandeln und kennt Z nicht.

Ich halte es für überaus wahrscheinlich, dass die überwiegende Mehrheit der Psychiatrie-Patienten in die Kategorie D fällt. Sie sind nicht oder nicht zureichend über den begrenzten Nutzen psychiatrischer Behandlungen informiert worden. Sie wissen nicht, dass die Psychiatrie die Ursachen der so genannten “psychischen Krankheiten” nicht kennt; sie wissen nicht, dass die Psychiatrie das Vorhandensein einer solchen “Erkrankung” nicht mit objektiven Methoden feststellen kann; sie wissen nicht, dass die Erfolge psychiatrischer Behandlungen häufig auf dem Placebo-Effekt beruhen oder darauf, dass eine mutmaßliche psychische Krankheit durch eine reale neurologische Störung ersetzt wird.

Nun könnte man natürlich einwenden, dass sich selbstredend jeder Patient vor einer Behandlung über deren Risiken und Nebenwirkungen informieren könne. Die Pflasterritzenflora ist ja ein Beweis dafür, dass kritische Infos zur Psychiatrie jedermann zugänglich sind: Recherchen im Internet oder ein Gang in öffentlichen Bibliotheken genügen; im Grund reicht ja schon die sorgfältige Lektüre des Beipackzettels, um sich ein erstes Bild darüber zu machen, was es mit den Psychopharmaka auf sich hat. Wer sich also uninformiert in eine psychiatrische Behandlung begibt, der vertraut halt seinen Ärzten und auch dies ist eine freie Entscheidung. Aus dieser Sicht gibt es also keinen Grund daran zu zweifeln, dass sich die überwiegende Mehrheit der Patienten freiwillig behandeln lässt.

Für einen Apologeten der freien Marktwirtschaft ist dies sicher eine durchweg zufriedenstellende Argumentation. Wenn ein Produkt und / oder eine Dienstleistung die Erwartungen nicht erfüllen, weil die Erwartungen zu hoch waren, und wenn die Erwartungen zu hoch waren, weil der Kunde sich vor dem Handel nicht informiert hat, dann trägt er die Verantwortung für die Folgen seines nicht gerechtfertigten Vertrauens.

Dabei wird allerdings vergessen, dass sich Menschen, die vor der Entscheidung zur psychiatrischen Behandlung stehen, häufig in einem seelischen Ausnahmezustand befinden. Ihr eigenes Verhalten und Erleben gibt ihnen Rätsel auf. Sie stehen unter sozialen Druck, weil sie gesellschaftlichen Normen nicht mehr entsprechen oder weil sie die Erwartungen signifikanter Anderer nicht mehr erfüllen. Kurz: Sie sind erheblichem Stress ausgesetzt und daher ist ihre Kritikfähigkeit eingeschränkt. Und so erliegen sie nur zu leicht den Verlockungen des Psychiatrie- bzw. Psychopharmaka-Marketings.

Protagonisten werden einwenden, dass dies genau die Natur der Dinge sei, an der niemand etwas ändern könne. Manche Menschen seien nun einmal von Haus aus besser oder schlechter für den freien Wettbewerb ausgerüstet. Wer dauerhaft oder vorübergehend keine wohl überlegten Entscheidungen beim Kauf von Waren oder Dienstleistungen fällen könne, der müsse eben auf den Verbraucherschutz vertrauen und darauf, dass die Mechanismen des Marktes die schwarzen Schafe schon eliminieren würden. Es sei jedenfalls keine Lösung, den Markt einzuschränken, nur weil einige Dödel mit dem Beipackzettel oder anderen hilfreichen Handreichungen zur Beurteilung der Qualität eines Produkts überfordert seien.

Wer geht warum in die Psychiatrie? Wer fährt warum nach Lourdes? Wer lässt sich warum von einer Psycho-Sekte ausnehmen? Wollen die Menschen tatsächlich betrogen werden? Über Patient A müssen wir uns diesbezüglich keine Gedanken machen. Er geht in die Psychiatrie, weil er mit Gewalt dorthin verfrachtet wird und dort nur unter Protest bleibt, weil man ihn nicht mehr hinauslässt. Patient B wird nach einer Weile des Einflusses von Apathie erzeugenden Drogen u. U. “krankheitseinsichtig”, obwohl er gar nicht an einer Krankheit leidet und es demgemäß auch nichts gibt, was er einsehen könnte. Hier stellt sich natürlich die Frage, ob eine solche durch Drogen begünstigte Einsicht tatsächlich zur Freiwilligkeit führen kann. Patient C ist vielleicht wirklich freiwillig in der Psychiatrie, weil er einer Spielart des Masochismus frönt. Patient D dürfte die Regel sein, und wenn er die Zusatzinformation Z hätte und in der Lage wäre, sie zu verstehen, dann würde er sich vielleicht sogar in Patient A verwandeln.

Es spricht also sehr viel dafür zu vermuten, dass sich die allermeisten Patienten nicht in echtem Sinn freiwillig psychiatrisch behandeln lassen, nicht wirklich, obwohl nur eine verhältnismäßig kleine Minderheit durch physische Gewalt dazu gezwungen wird. Die meisten Psychiatrie-Patienten sind einer strukturellen Gewalt unterworfen, die dazu führt, dass sie sich dem üblichen gesellschaftlichen Procedere beugen, das für Leute vorgesehen ist, die aus nicht kriminellen Gründen von den Normen der Gesellschaft und / oder den als berechtigt geltenden Erwartungen ihrer Mitmenschen abweichen.

Wer psychiatrisch behandelt wird, hält dies in aller Regel für die beste der Möglichkeiten, die sich ihm aktuell bieten. Dieser Eindruck ist nicht zufällig entstanden, sondern er ist die Konsequenz des entsprechenden Marketings, der Existenz psychiatrischer Institutionen und ihrer wirtschaftlichen Interessen, der einschlägigen gesellschaftlichen Regeln sowie der vorherrschenden Erwartungen der Mitmenschen angeblich psychisch Kranker. Zwar wird auf die meisten Psychiatrie-Patienten kein offener Zwang ausgeübt, aber sie sind einem Quasi-Zwang ausgesetzt, dem zu widerstehen viel Kraft kosten würde – zu viel Kraft für die meisten der Menschen, die auf diese schiefe Ebene geraten sind.

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