Quantcast
Channel: Lexikon der Psychiatriekritik »» Hans Ulrich Gresch
Viewing all articles
Browse latest Browse all 323

Interview: Andreas Meyer-Lindenberg

$
0
0

Die Online-Repräsentanz der Tagesschau, “tagesschau.de” befragte den Mediziner Andreas Meyer-Lindenberg zum Thema “psychische Krankheiten”. Meyer-Lindenberg ist Mitglied im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Er leitet zudem das Mannheimer Zentralinstitut für seelische Gesundheit.

Er behauptet, dass psychische Krankheiten ein weltweit verbreitetes Phänomen seien. Dies ist falsch. Menschen mit psychiatrischen Diagnosen sind ein weltweit verbreitetes Phänomen. Ob Menschen mit diesen Diagnosen tatsächlich “psychisch krank” sind, weiß man nicht. Die Diagnose-Verfahren der Psychiatrie sind nämlich weder zulänglich reliabel, noch valide. Reliabilität ist ein Maß für die Genauigkeit, mit der ein Verfahren diagnostiziert, was es diagnostiziert und Validität ist ein Maß für die Genauigkeit, mit der ein Verfahren diagnostiziert, was es zu diagnostizieren beansprucht. Die psychiatrischen Diagnose-Verfahren diagnostizieren nicht das, was sie zu diagnostizieren beanspruchen und was sie diagnostizieren, das diagnostizieren sie ungenau, d. h. mehrere Beurteiler gelangen häufig zu unterschiedlichen Urteilen über eine Person (Kirk, Gomory & Cohen 2013; Davies 2013; Greenberg 2013, siehe auch: Die psychiatrische Diagnose).

Die Psychiatrie unterstellt, dass bestimmte Verhaltensweisen “Symptome von psychischen Krankheiten” seien, kann dies aber nicht durch objektive Methoden beweisen. Es gibt keine Biomarker, keine Laborbefunde, keine Brainscans, die psychiatrische Diagnosen validieren. Daher könnte Meyer-Lindenberg allenfalls behaupten, dass mutmaßliche oder hypothetische psychische Krankheiten ein weltweites Phänomen seien.

Meyer-Lindenberg unterstellt, dass “psychische Krankheiten” die Hauptursache für Arbeitsunfähigkeit und Frühverrentung seien. Das ist falsch. Da man psychische Krankheiten nicht valide diagnostizieren kann, ist es allein schon aus diesem Grund unmöglich, ihre Ursächlichkeit für die genannten Phänomene in methodisch einwandfreien Untersuchungen empirisch zu erhärten. Der Arzt hätte allenfalls behaupten können, dass Arbeitsunfähigkeit und Frühverrentung sehr häufig mit psychiatrischen Diagnosen begründet werden.

Meyer-Lindenberg beziffert die Zahl der Menschen, die an einer “psychischen Krankheit” litten, auf 20 Prozent. Dies zeigten die Statistiken über die letzten Jahrzehnte. Dies ist falsch. Allenfalls könnte man schätzen, dass die Zahl der Menschen mit einer psychiatrischen Diagnose 20 Prozent beträgt. Bisher nämlich konnte die Psychiatrie nicht nachweisen, dass sich ihre Diagnosen auf etwas Reales in der Welt dort draußen beziehen.

Meyer-Lindenberg: “Etwa 80 Prozent der Betroffenen gehen zwar zum Arzt – von denen wird aber nur die Hälfte als psychisch krank erkannt.”

Natürlich wieder falsch. Nehmen wir einmal an, diese Schätzung sei halbwegs fundiert (was ich bezweifele), dann könnte man allenfalls sagen, das von den 80 Prozent der mutmaßlich Betroffenen, die zum Arzt gehen, nur die Hälfte eine psychiatrische Diagnose erhält.

Meyer-Lindenberg will die “Diagnosemöglichkeiten verbessern und die Therapieansätze weiterentwickeln, damit psychische Erkrankungen künftig möglichst früh erkannt und richtig behandelt werden.” Dabei setzt er voraus, dass es sinnvoll ist, Menschen mit psychiatrischen Diagnosen medizinisch zu behandeln. Damit unterstellt er die Gültigkeit des medizinischen Modells psychischer Erkrankungen. Fakt aber ist, dass bisher alle Versuche, die biologischen Ursachen der so genannten psychischen Krankheiten zu identifizieren, grandios gescheitert sind. So haben sich beispielsweise die einst überaus einflussreichen, als gesichert geltenden Dopamin- bzw. Serotonin-Thesen der Schizophrenie- bzw. Depressions-Ursachen als falsch herausgestellt (Gøtzsche 2013). Demgegenüber aber gibt es eine große Fülle von Studien, die Zusammenhänge zwischen den Phänomenen, die von der Psychiatrie als “psychische Krankheiten” missdeutet werden, und psychischen bzw. sozio-ökonomischen Einflussgrößen gibt (Bentall 2003; Bentall 2009). Es spricht also beim gegenwärtigen Erkenntnisstand alles dafür, dass professionelle Hilfen für Menschen mit den so genannten psychischen Krankheiten (die offenbar keine sind) auf psychologischer, sozialarbeiterischer, sozialpädagogischer und soziologischer Grundlage entwickelt werden sollten. Überdies deuten die Befunde darauf hin, dass professionelle Hilfen sich als suboptimal erweisen, wenn sie sich nicht als Hilfe zur Selbsthilfe verstehen. Der Selbsthilfeansatz (eventuell mit Fingerspitzengefühl durch Profis oder Semi-Profis begleitet) hat, dies lässt sich bereits mit Sicherheit sagen, zumindest keine schlechteren Erfolgsaussichten als der medizinische Ansatz – und er ist klar kosteneffezienter und hoch wahrscheinlich auch deutlich wirksamer.

Meyer-Lindenberg: “Wir müssen die Behandlung stärker individualisieren. Es gibt nicht das eine Medikament oder den einen Behandlungsansatz, der allen psychisch Kranken gleichermaßen hilft. Zum Beispiel schlagen bei einer Schizophrenie bestimmte Medikament bei manchen Patienten gut an, bei anderen wiederum gar nicht.”

Peter Gøtzsche hat mehr als 50 Beiträge in den “Big Five” der medizinischen Wissenschaft (BMJ, Lancet, JAMA, NEJM, Annals) publiziert; das ist eine ungewöhnlich hohe Zahl. Man könnte renommierter nicht sein. Er hat u. a. die Effizienz von Psychopharmaka grundlegend empirisch untersucht. Er gelangt zu einem vernichtenden Urteil (Gøtzsche 2013): Es ginge den Menschen besser, wenn diese Substanzen vom Markt genommen würden. Daran, dass diese angeblichen Medikamente erheblich mehr schaden als Nutzen stiften, kann auch eine Individualisierung der Behandlung nichts ändern.

Auf Ritalin zur Behandlung der so genannten Hyperaktivitäts-/Aufmerksamkeitsstörung angesprochen, räumt der Mediziner ein, dass es bei Kindern durchaus eine Übertherapie gebe. Er schlägt allerlei Maßnahmen vor, um das Ausmaß der Ritalin-Verschreibungen zu vermindern. Dies ist sicher löblich, doch nicht genug. Erforderlich wäre es, das Ausmaß psychiatrischer Behandlungen insgesamt zu senken. Psychotherapien haben keine klinisch bedeutsamen methoden-spezifischen Wirkungen; ihr Effekt hängt überwiegend vom gemeinsamen Glauben von Therapeuten und Patienten an ihre Wirksamkeit ab (Dawes 1996; Degen 2000). Antidepressiva sind kaum nennenswert wirksamer als Placebos (Moncrieff et al. 2012). Neuroleptika wirken, sofern sie überhaupt eine über den Placebo-Effekt hinausgehende Wirkung haben, vor allem dadurch, dass sie apathisch machen (Breggin 1996). Elektrokrampftherapien sind nicht effektiver als Schein-Schocks, haben also ebenfalls nur eine Placebowirkung (Reed & Bentall 2010). Wofür also brauchen wir die medizinische Behandlung der angeblich “psychisch Kranken” eigentlich?

Anlass des Interviews mit Meyer-Lindenberg, der nicht nur Arzt, sondern auch Mathematiker ist, war der Start eines Forschungsprojekts des Bildungsministeriums zu psychischen Krankheiten.

“tagesschau.de: Reichen für diese ambitionierten Ziele und das Ausmaß der genannten Krankheiten die 35 Millionen Euro des Bildungsministeriums überhaupt aus?

Meyer-Lindenberg: Um das Problem in seiner Gänze zu behandeln reicht diese Summe sicher nicht aus. Aber wir werden einen wichtigen ersten Schritt machen, und wir hoffen das sich diesem Engagement auch nach Ablauf des Projekts im Jahr 2018 weitere nachhaltige Fördermaßnahmen anschließen werden.”

Vielleicht sollte der Mediziner sich auf seine mathematischen Fähigkeiten besinnen und ausrechnen, wie viel Gutes man auf der Basis des vorhandenen psychologischen und sozialwissenschaftlichen Wissens für Menschen tun könnte, die bisher als “psychisch krank” verunglimpft werden und die Hilfe nicht nur wollen, sondern auch tatsächlich brauchen. Es sieht nämlich ganz so aus, dass Millionen und Abermillionen in Forschungsprojekte gesteckt werden, die auf einem gescheiterten Ansatz beruhen, nämlich dem medizinischen Modell der so genannten psychischen Krankheiten.

Eines der Hauptprobleme sei die Akzeptanz der “psychischen Krankheiten”, deshalb “haben wir auch laufende Anti-Stigma-Kampagnen”, sagt Meyer-Lindenberg. Diese Kampagnen werden aber nichts nutzen, solange das medizinische Modell in Kraft ist. Die Stigmatisierung ist nämlich nicht allein die Folge einer psychiatrischen Diagnose, diese Diagnosen selbst sind stigmatisierend (Caplan et al. 2004). Sie sind überdies, sogar wenn man eine solche für notwendig hält, für die Behandlung gar nicht erforderlich (Kirk et al. 2013).

Meyer-Lindenberg: “Der Beitrag der Forschung muss sein, dass wir die Krankheiten besser verstehen lernen, denn nur was wir verstehen, können wir auch akzeptieren.”

Eine Forschung, die bereits voraussetzt, was es zu erforschen gilt, ist keine, sondern sie ist getarnte Propaganda, Marketing. Bisher konnte die Psychiatrie, wie bereits erwähnt, noch nicht nachweisen, dass es “psychische Krankheiten” überhaupt gibt. Sie müsste lernen zu akzeptieren, dass sie mutmaßliche, hypothetische Krankheiten behandelt und erforscht  – und dies, seitdem die Psychiatrie als medizinische Spezialdisziplin im 19. Jahrhundert entstand.

Literatur

Bentall, R. (2009). Doctoring the mind: is our current treatment of mental illness really any good? New York, NYU Press
Bentall, R. P. (2003) Madness Explained: Psychosis and Human Nature. London: Penguin Books Ltd.
Breggin, P. R.: Giftige Psychiatrie, Band 1. Heidelberg, Carl-Auer-Systeme, 1996
Caplan, P. J. & Cosgrove, L. (eds.) (2004). Bias in Psychiatric Diagnosis. Lanham: Jason Aronson
Davies, J. (2013). Cracked. Why Psychiatry is Doing More Harm Than Good. London: Icon Books
Dawes, R. M. (1996). House of Cards: Psychology and Psychotherapy Built on Myth. New York: Free Press
Degen, R. (2000). Lexikon der Psycho-Irrtümer. Frankfurt a. M.:Eichborn
Gøtzsche, Peter (2013). Deadly Medicines and Organised Crime: How Big Pharma has Corrupted Healthcare. Radcliffe, Kapitel: “The chemical imbalance hoax”
Greenberg, G. (2013). The Book of Woe. The DSM and the Unmaking of Psychiatry. New York: Penguin Books
Kirk, S. A. et al. (2013) Mad Science: Psychiatric Coercion, Diagnosis, and Drugs. Piscataway, N. J.: Transaction
Moncrieff J, Wessely S, Hardy R (2012). Active placebos versus antidepressants for depression (Review). The Cochrane Library, Issue 10
Read, J. & Bentall, R. (2010). The effectiveness of electroconvulsive therapy: A literature review. Epidemiologia e Psichiatria Sociale, 19, 4, 2010, 333-347

The post Interview: Andreas Meyer-Lindenberg appeared first on Pflasterritzenflora.


Viewing all articles
Browse latest Browse all 323