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Julia Bonk: Offener Brief an die Partei “Die Linke” in Dresden

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Auf Ihrer Website äußert sich die Deutsche Direkthilfe dreimal zum Fall einer Abgeordneten des Sächsischen Landtags, die nunmehr aus Gründen, die ich für ungeklärt halte, nicht mehr ihrer parlamentarischen Arbeit nachkommt.

Am 28. November 2013 wurde dieser Text veröffentlicht:

Erklärung in der Angelegenheit Julia Bonk

Am 1. Dezember 2013 erschien Folgendes:

Neue und letzte Erklärung im Fall Julia Bonk

Am 16. Februar 2014 würde ein offener Brief

An die Linke Dresden: Julia Bonk

veröffentlicht.

Hier heißt es u. a.:

  • “Es gibt Erklärungen der Eltern, die jedoch kein Ersatz für eine Äußerung von Julia selber sein können.”
  • “Es reicht nicht, wenn die Eltern von Julia Bonk immer wieder erklären, alles wäre OK. Die Psychiatrie übt bisweilen massiven Druck auf Eltern aus, damit sie kooperieren. Tun sie dies nicht, verlieren sie unter Umständen jeglichen Kontakt zu ihrem Kind.”
  • “Der Psychiatrie mangelt es nicht nur an einer wissenschaftlichen Grundlage, sie wird zur Disziplinierung von Menschen in totalitären und sogenannten demokratischen Systemen gleichermaßen instrumentalisiert, um Kritik an einer industriell verseuchten Umwelt, an Ausbeutung und an den dafür erforderlichen Machtverhältnissen zu pathologisieren.”
  • “Alleine um alle Spekulationen über sie zu beenden, wäre eine
    öffentliche Erklärung ihrerseits dringend erforderlich. Gibt es diese
    nicht, bleibt die Sorge bestehen, daß sie unter Umständen ihrer
    Freiheit beraubt an einer Äußerung gehindert wird.”

Der Autor dieses Offenen Briefes beruft sich u. a. auf einen Artikel, der unter dem Titel “Verschwinden einer Abgeordneten” in der Pflasterritzenflora erschien. Wie zu erwarten war, meldeten sich sogleich Kommentatoren mit den üblichen persönlichen Angriffen gegen mich zu Wort; Originalton: “Als direkt widerlich empfinde ich solche Äußerungen von dem Psychologen Ulrich Gresch auf seiner Seite: Plasterritzenflora…”

Ich antwortete mit folgenden Kommentaren:

Zweifellos existieren die Phänomene, die von der Psychiatrie als “Symptome einer psychischen Krankheit” gedeutet werden. Allein, die Deutung ist fragwürdig. Die Phänomene kann man beobachten, doch aus ihnen ergibt sich nicht zwingend die Interpretation. Die Psychiatrie verfügt nicht über objektive Methoden, um das Vorliegen einer psychischen Krankheit festzustellen. Die Diagnosen beschreiben Phänomene und dekretieren, dass es sich dabei um psychische Krankheiten handele. Die Psychiatrie behauptet, diese so genannten Krankheiten beruhten im Kern auf Störungen des Gehirns; jedoch konnte bisher für keine dieser angeblichen Krankheiten (Schizophrenie, Depression etc.) eine solche Störung nachgewiesen werden. Dies hat mit “Verschwörungstheorie” nichts zu tun, sondern es handelt sich hier eindeutig um den Stand der Forschung. Der Direktor des National Institute of Mental Health, Prof. Thomas Insel, hat dies unlängst in seinem “Director’s Blog” auch eingeräumt (vgl. hierzu meinen Beitrag: “Die psychiatrische Diagnostik“). Das NIMH ist die weltweit größte und tonangebende psychiatrische Forschungsinstitution, die der amerikanischen Regierung untersteht.

Unter diesen Bedingungen kann man nun wirklich nicht einfach sagen, die Abgeordnete sei krank, bedürfe der Schonung und dann zur Tagesordnung übergehen. Wenn die spärlichen Informationen zu diesem Fall zutreffen, so leidet sie unter einer mutmaßlichen Krankheit, deren “Symptome” in Wirklichkeit Anmutungserlebnisse von Ärzten und ihrem Umfeld sind. Ich habe nicht die allergeringste Ahnung, wie es der Abgeordneten geht und ich weiß auch nicht, wie sie selbst sich zu ihrer Situation stellt. All dies muss ich auch nicht wissen. Privatsachen gehen mich nichts an. Aber ich betone das Recht der Öffentlichkeit zu erfahren, warum sie als gewählte Abgeordnete ihre Aufgaben im Parlament zur Zeit nicht meistert. Die Auskunft, dass sie durch eine mutmaßliche Erkrankung daran gehindert würde, kann nicht wirklich befriedigen. Man stelle sich vor, man bliebe seiner Arbeit fern und teile dem Arbeitgeber mit, man habe vermutlich eine Krankheit, die kein Arzt mit zuverlässigen Methoden feststellen könne und bliebe dann ein halbes Jahr zu Hause. Was würde wohl geschehen?

Obwohl es keinerlei Hinweise auf Gehirnstörungen gibt, liegen doch zahllose Studien vor, die Korrelationen zwischen den als Symptom einer Krankheit gedeuteten Phänomenen und sozialen, psychischen, kulturellen und wirtschaftlichen Faktoren belegen. Warum also halten wir uns nicht an das Naheliegende? Wenn die Abgeordnete ihrem Arbeitsplatz fernbleibt, so wird dies Gründe haben, die man nicht mit der Leerformel “psychische Krankheit” vom Tisch fegen kann. Das Verhalten der Abgeordneten ist wie das jedes Menschen aus dem sozialen Kontext heraus zu verstehen. Die Wählerinnen und Wähler in Sachsen, ja, alle Staatsbürger haben ein Recht darauf, über diesen Kontext informiert zu werden, sofern er konkret das in Rede stehende Verhalten, nämlich das Fernbleiben von der parlamentarischen Arbeit, betrifft.

Und weiter:

@Lalaburg “… dann begibt sich der der Autor meines Erachtens zusätzlich auf argumentativ sehr, sehr dünnes Eis. Auch gegenüber den an psychischen Erkrankungen leidenden.”

Da ich hier persönlich angesprochen werde, erlaube ich mir einen weiteren, kurzen Kommentar. Auf dünnem Eis, auch gegenüber Betroffenen, bewegen sich jene, die von “psychischen Krankheiten” sprechen, weil sie nichts, nichts, nichts Handfestes in der Hand haben. Sie können die Diagnose nicht mit objektiven Verfahren erhärten, keine Biomarker, nur Meinungen, schiere Meinungen. Wenn man bedenkt, dass diese Diagnosen stigmatisieren, dann weiß man, wie dünn dieses Eis ist.

Es bleibt abzuwarten, ob und, wenn ja, wann und wie sich die angeschriebene Partei zu diesem offenen Brief äußern wird. In einem Kommentar schreibt die Deutsche Direkthilfe:

“BrunO gehört allerdings nicht zu den Verschwörungsmystikern, er macht sich halt nur Sorgen auf Grund verschiedener Erfahrungen und wollte helfen, die unsägliche Diskussion „Wo ist Julia Bonk“ im Netz zu beenden. Team deutsche Direkthilfe”

Dieser Diskussion, die allerdings tatsächlich teilweise unsägliche Formen angenommen hat, kann jedoch weder durch eine Stellungnahme der Eltern, der Abgeordneten oder ihrer Partei die Grundlage entzogen werden. Vielmehr hätte sich der Sächsische Landtag zu äußern. Psychiatrische Diagnosen erklären scheinbar viel, in Wirklichkeit aber nichts. Deswegen sollte der Sächsische Landtag in seiner Stellungnahme auf derartige Leerformeln verzichten. Es muss doch – verdammt noch einmal! – ohne Psychiater-Chinesisch möglich sein darzustellen, was Sache ist. Darauf hat der Bürger einen Anspruch. Was er über diesen Fall weiß, hat er überwiegend aus der Bildzeitung erfahren. Das ist wirklich nicht genug oder präziser: das ist viel zu viel (des Falschen).

Gegen die Erklärungen der Eltern habe ich nichts einzuwenden; ich halte sie für vorbildlich. Doch die Eltern können nur für ihre Tochter sprechen, nicht für die Abgeordnete. Das ist ein gravierender Unterschied. Da dieser Unterschied vielleicht nicht jedem auf Anhieb einleuchtet, seien mir hierzu einige Bemerkungen gestattet:

Alle Bürger eines marktwirtschaftlichen, bürgerlichen Staates sind, politisch und moralisch betrachtet, multiple Persönlichkeiten. Einerseits sind sie Bourgeois, die sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern und dabei ihren Egoismen freien Lauf lassen; andererseits sind sie Citoyen, die sich der Sache des Staates widmen müssen, um ihrer Aufgabe als Teil des Souveräns, des Volkes wahrnehmen zu können.

Wohlmeinende Menschen, die sich um das Geschick Julia Bonks sorgen, bedeuten nun oftmals anderen wohlmeinenden Menschen, die dies nicht minder tun, sie möchten die Frau doch in Ruhe lassen und ihr Zeit geben, wieder zu sich selbst zu kommen. Mitunter wird hinzugefügt, sie sei krank und bedürfe der Schonung – und ihre Krankheit sei ihre Privatangelegenheit.

Dies verfehlt jedoch den Kern der Sache. Die Abgeordnete des Sächsischen Landtags, die unter keineswegs geklärten Umständen verschwand und nunmehr ihren Pflichten in diesem Parlament nicht obliegt, ist eine mündige Bürgerin unseres Staates. Als eine solche ist sie zugleich Bourgeois und Citoyen, wie wir alle. (Ich verstehe hier den Begriff des Bourgeois nicht klassentheoretisch im marxistischen Sinn.)

Ihre Privatsphäre ist selbstverständlich sakrosankt. In dieser Hinsicht dürften sich die wohlmeinenden Menschen der einen und der anderen Art wohl einig sein. Doch in der bürgerlichen Gesellschaft sind die Bourgeois-Seele und die Citoyen-Seele nicht zu einer harmonischen Einheit verschmolzen, sondern sie stehen in einem spannungsreichen und widersprüchlichen Verhältnis zueinander.

Wer auch immer nunmehr die Abgeordnete vor der Neugier mehr oder weniger wohlmeinender Zeitgenossen abschirmt – er ist dazu politisch und moralisch allenfalls in Bezug auf die bourgeoise Seite legitimiert. Nach wie vor, ja, eindeutiger als je zuvor, ist das Interesse des Volkes am Citoyen Julia Bonk nicht nur politisch gerechtfertigt, sondern auch moralisch geboten.

Denn in einer Demokratie vertreten die Abgeordneten uns, das Volk. Sie sind Volksvertreter. Aus diesem Grund müssen wir uns darum kümmern, dass sich niemand an unseren Volksvertretern vergreift. Es muss als, und mit jedem Tag, der verstreicht, umso dringlicher, geklärt werden, was mit dem Citoyen Julia Bonk geschehen ist. Daher müssen die Mainstream-Medien, denen in einer modernen Demokratie eine entscheidende Rolle zufällt, wieder ihrer Pflicht zur Berichterstattung in diesem Fall nachkommen.

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