Dass die Psychiatrie einen Fremdkörper im Rahmen der modernen, “evidenz-basierten”, naturwissenwissenschaftlichen Medizin darstellt, dürfe wohl den allermeisten Intellektuellen nicht verborgen geblieben sein. Nicht nur unterscheidet sie alltäglicher Zwang vom Rest der Zunft, zu offensichtlich sind auch das Fehlen einer wissenschaftlichen Basis und das unverdrossene Bemühen, diese durch meist methodisch höchst fragwürdige “Studien” vorzutäuschen. Selbst bei größtem Wohlwollen kann kein Intellektueller übersehen, dass eine psychiatrische Institution einem Umerziehungslager ähnlicher ist als einem modernen Krankenhaus für richtige, also körperlich Kranke.
Die meisten Intellektuellen schweigen heute zur Psychiatrie. Und dies, obwohl viele nicht müde werden, sich über das Schicksal von Menschen in Bereichen zu äußern, in denen die Menschenrechte in weitaus geringerem Maße bedroht sind als in der Psychiatrie. Frauen, Kinder, Ausländer, ethnische Minderheiten erfreuen sich liebevoller Zuwendung, solange sie nicht in der Psychiatrie sind.
Es gibt durchaus Ausnahmen zur Bestätigung der Regel. Manche Intellektuelle thematisieren die Psychiatrie, meist wohlwollend, und man hat den Eindruck, als bewegten sie sich mehr oder weniger unbewusst immer noch in der Geisteswelt der Freudschen Psychoanalyse, obwohl diese in der heutigen psychiatrischen Welt keine nennenswerte Rolle mehr spielt. Sehr selten hört man ein kritisches Wort, doch dies bezieht sich dann auf die so genannten Missstände, auf besonders haarsträubende Verhältnisse, die, so scheint man wohl zu glauben, beseitigt werden könnten, ohne das System insgesamt zu verändern.
Diese Reaktion der Intellektuellen kann kaum durch geistige Überforderung erklärt werden, denn die Sinnlosigkeit des psychiatrischen Procederes im Rahmen eines medizinischen Betrachtungsweise sollte doch recht eigentlich ins Auge springen. Niemand kann sich über den wahren Charakter des Verabreichens disziplinierender “Medikamente” oder des Einsperrens von Störern hinwegtäuschen. Hier muss ein Licht, ein sehr helles Licht leuchten, dass diese Sinnlosigkeit überstrahlt und dass auch das Auge des Intellektuellen blendet.
Ist’s die normative Kraft des Faktischen? Reicht es aus, nur lange genug die Rituale der Ausgrenzung und Demütigung zu vollziehen, bis sie irgendwann einmal als Recht erscheinen, weil “immer schon so verfahren wurde”? Dies ist schwer vorstellbar, denn der Intellektuelle, geübt in kritischem Denken, dürfte mit der Wirkung dieser Kraft vertraut und in der Lage sein, sie zu erkennen, wo sie sich auch zeigen mag. Es wäre ja noch nachzuvollziehen, dass bei Leuten, deren Weltbild durch Boulevardblätter und Trash-Fernsehen geformt wird, eventuell die schiere Gewöhnung an die Existenz der Psychiatrie ausreicht, sie achselzuckend als notwendig hinzunehmen.
Ein Intellektueller aber, der von seinem Goethe aufblickt und einen unter Neuroleptika emotional verflachten Menschen vor sich sieht, kann sich nicht der Illusion hingeben, hier das Ergebnis einer medizinischen Behandlung zu betrachten. Ein Intellektueller, der aus dem Opernhaus kommt, wo er Verdi lauschte, kann nicht ernsthaft glauben, dass die Ambulanz, derer er nun zufällig ansichtig wird, den Tobenden gewaltsam einer medizinischen Behandlung im wahren Wortsinn zuführt. Ein Intellektueller, der Wittgensteins Tractatus aus der Hand legt, um sich in der Lesepause zum Zeitvertreib ein psychiatrisches Gerichtsgutachten im Internet anzuschauen, kann nicht glauben, er habe es mit medizinischer Wissenschaft zu tun.
Warum also ist der Intellektuelle, trotz mancher kritischen Töne, dennoch überwiegend des Lobes voll für die Psychiatrie? Warum empfindet er die Barbarei nicht, die darin besteht, Menschen mit Substanzen vollzustopfen, oft sogar zwangsweise, deren Heileffekt fraglich, deren Schadwirkung aber real und verheerend ist? Warum empfindet er die Barbarei nicht, die darin besteht, die mehr oder weniger absurden, rituellen Interaktionen in den Praxen von Psychotherapeuten zur Behandlung einer Krankheit zu verklären?
Wer durch Bild und Glotze verroht wurde, der hält das Tollhaus vermutlich für die Fortsetzung von “Big Brother” oder “Deutschland sucht den Superstar” in einem etwas intimeren Rahmen; der Intellektuelle aber sollte in der Lage sein zu erkennen, dass die psychiatrische Diagnose eine Kontinuität in den Beziehungen zwischen Menschen zerreißt, einen Bruch erzeugt, den die Diagnose einer körperlichen Erkrankung niemals erzeugen könnte, selbst wenn es sich um eine ansteckende Krankheit handeln sollte.
Der latente Charme, den die Psychiatrie auf den gemeinen Intellektuellen ausübt, besteht aus meiner Sicht in ihrer latenten bzw. offenen Brutalität, die sich als Hilfe, als Krankenbehandlung ausgibt. Diese Brutalität ist immer da, denn über jedem Patienten schwebt das Damoklesschwert der Zwangseinweisung und Zwangsbehandlung, sofern es nicht schon auf ihn niedergesaust ist. Natürlich, so mag man einwenden, müsste der Intellektuelle diese Doppelbindung (“Double Bind”) eigentlich durchschauen. Eigentlich. Wenn er denn wollte. Aber er will nicht. Weil ihn die als Hilfe getarnte Brutalität fasziniert.
Man stellte sich diese schmalbrüstigen, blutarmen Gestalten vor: Sie hocken hinter ihren Büchern, stehen hinter ihren Kathedern, sie schreiben Essays über Peter Handkes sensible Pfade oder über Thilo Sarrazins rüde Sprüche – aber sie können nicht nachts mit Schlagringen die die Straßen ziehen, um die schiere Unvernunft auf den blauen Asphalt zu schicken. Die Irrationalität der Welt widersetzt sich grausam ihren feinsinnigen Analysen, und sie haben nichts, nichts, es steht ihnen kein Mittel zu Gebote, dem Wahnsinn Einhalt zu gebieten.
Scheinbar auf dem hohen Niveau der Wissenschaft, geadelt durch den Edelmut des Helfens, erledigt dies, mit gebotener Strenge, die Psychiatrie für sie. Etwas Wildes, Grausames, Bedrohliches ist in die klare geistige Ordnung eingebrochen und mit den Mitteln des Geistes wird dieser Eindringling isoliert, befriedet oder ausgemerzt. Was brutal erscheint, ist nichts weiter als Ausdruck notwendiger Entschlossenheit und Konsequenz. Durch Chemie, durch Elektrizität durch das scharfe Skalpell des Wortes wird die Unvernunft herausgeätzt, herausgebrannt, herausgeschnitten. Wäre die Psychiatrie nicht so brutal, wäre sie sanfter, zarter, verständnisvoller, unsere Intellektuellen hätten sie klammheimlich vermutlich weitaus weniger lieb.
Es liegt aber wohl in der Natur der Sache, dass unsere Intellektuellen, wenn sie Psychiater loben, bevorzugt die (angeblich) sanften, zarten und verständnisvollen zum Gegenstand ihrer Elogen erwählen.
Da stiftet der Philosoph Peter Sloterdijk, zusammen mit einem Freundeskreis, einen Preis für Edelmut, den Myschkin-Preis, benannt nach einer Romangestalt Dostojewskis. Wer zählt zu den ersten Preisträgern? Gaetano Benedetti, ein italienischer Psychiater. Warum? “Weil er mit seiner Arbeit mit schizophrenen Patienten für die Einsamsten und Verirrtesten neue Brücken zu einem Leben in menschlicher Gemeinschaft baute.” Der inzwischen verstorbene Benedetti war, wie sollte es anders sein, natürlich Psychoanalytiker.
Der von der Psychoanalyse tief beeindruckte Sloterdijk ist nicht dafür bekannt, den tatsächlichen Zustand der und die relevanten geistigen Strömungen in der Psychiatrie zu reflektieren. Es ist ja sicher löblich, einem Edelmütigen in der Psychiatrie einen Preis zu verehren, allein: des Eindrucks kann ich mich nicht entschlagen, dass sich die intellektuelle Welt nur zu gern ausschließlich auf den Inseln oder Inselchen des guten Geistes in der Psychiatrie bewegt.
Martin Walsers Roman “Muttersohn” spielt in einem Irrenhaus; der Spiegel schreibt darüber: “Doch Percy stationiert sich nicht als Patient in Scherblingen ein, und die prachtvolle Klosteranlage hat auch nichts von einer modernen Klapse. Der seltsam aus der Zeit gefallene Ort, in dem sich auch Hesses Habenichts “Knulp” (1925) zurechtfinden würde, ist idyllischen Refugium für ein wunderliches Völkchen reimender Käuze und zum Sonderlichen Begabter, das sich gemeinsam der schützend-heilsamen Kraft des Genius loci verschrieben hat und fraglos den heilenden Fähigkeiten Percys anvertraut.”
Hier also ist die Brutalität der Psychiatrie, die zu keiner Zeit ihrer Geschichte fehlte, nur noch im “defizienten Modus” anwesend. Ich fordere nicht, dass Literatur, dass der Roman gar die Wirklichkeit der zeitgenössischen Psychiatrie gleichsam fotorealistisch widerzuspiegeln habe, aber dennoch konstatiere ich mit Befremden das fast völlige Fehlen einer realistischen Auseinandersetzung mit der Psychiatrie in den Arbeiten unserer gegenwärtigen Intelligenzia.
Den Buchmarkt und die Talkshows beherrschen Leute wie der Doktor Manfred Lütz, die Heiterkeit ohne Ende verbreiten. Das weite Feld der Psychiatrie, angesichts der enormen Zahl von Betroffenen ein gesellschaftliches Top-Thema, wird entweder mit Schweigen bedacht oder verzerrend und meist mit positivem Touch dargestellt. Nur gelegentlich, wie im Fall des Gustl Mollath, scheinen die Verhältnisse Kopf zu stehen, aber das legt sich mehr oder schnell wieder, um macht der Routine Platz, der achselzuckenden Ignoranz.
Die Psychiatrie ist nicht nur, getarnt im Gewande der Hilfe, brutal, sondern sie ist auch, in der Camouflage der üblichen Medizin, sehr unauffällig, fast unsichtbar. Auch dies macht ihren diskreten Charme aus. Das Millionenheer ihrer “Patienten” ist eine Geisterarmee. Die Betroffenen sind den Blicken ihrer Zeitgenossen hinter dem Schleier der Diskretion entzogen. Nicht immer läuft dies so dramatisch ab wie im Falle einer sächsischen Landtagsabgeordneten, die plötzlich wie vom Erdboden verschluckt war. Brutalität und Diskretion. Zwang und Scham.
Versagen die Intellektuellen vor einem Gegenstand, der, gleichsam wie ein schwarzes Loch, Menschen und Moneten verschlingt? Erliegen sie dem diskreten Charme der Psychiatrie, obwohl sie ihm aus eigenem Vermögen durchaus widerstehen könnten? Psychiatriekritiker bilden jedenfalls eine verschwindend kleine Schar; und dieses Häuflein ist auch noch untereinander, teilweise heftig, zerstritten. Auf tausend Beiträge in den Medien zur Psychiatrie entfällt, wenn’s hoch kommt, ein kritischer. Es gibt keinen gesellschaftlich relevanten Bereich, der weniger Kritik auf sich zieht als dieser. Selbst im Fall Mollath, der sieben Jahre hinter psychiatrischen Gittern saß, konzentrierte sich die Schelte überwiegend auf die Justiz und die Politik.
Die progressive Elite, die moralisch nicht gerechtfertigte Machtausübung kritisiert, hatte, zumal in Deutschland, immer schon einen schweren Stand. Sie war sogar in den Klassen bzw. Parteien, denen sie sich zurechnete, stets umstritten. In Sachen Psychiatrie steht ihr eine unheilige Allianz aller Parteien gegenüber, die jeder fundamentalen Kritik an der Psychiatrie geschlossen entgegentritt. Die Machteliten sehen es nicht gern, wenn moralische Maßstäbe an sie angelegt werden. Sie erwarten vielmehr, dass man sie bedingungslos als Ausbund der Tugend betrachtet.
Wenn man vom harten Kern der Geheimdienst- und Sicherheitspolitik einmal absieht, so ist die Psychiatrie die härteste Herausforderung für die progressive Elite. Deren Mitglieder sind gerade hier häufig vereinzelt, und dies weit über das Maß hinaus, das eine Elite von Freidenkern und Individualisten ohnehin kennzeichnet. Nur verbunden durch mehr oder weniger vage Ideen des Humanismus und der persönlichen Freiheit sind sie häufig weitgehend auf sich allein gestellt.
Wenn auch nicht die Gefahr besteht, dass die progressive Elite dem diskreten Charme der Psychiatrie erliegt, weil dieser sich nur im Zustand der Verblendung entfaltet, so muss man doch befürchten, dass sie den Mut verliert, sich zurückzieht oder sich anderen brennenden Fragen zuwendet. Psychiatriekritik entflammt ja gelegentlich, wie in den sechziger, siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, um sich dann als Strohfeuer herauszustellen.
Medizin brutal. Bis auf den heutigen Tag ist die Geschichte der Psychiatrie eine Geschichte der Gewaltanwendung. Zwar wurden die Drehstühle, der faradische Pinsel und all die anderen offensichtlichen Folterinstrumente der vergangenen Jahrhunderte abgeschafft, aber nach wie vor verschwinden Hunderttausende gegen ihren Willen hinter psychiatrischen Gittern, werden fixiert und mit Nervengiften traktiert. Intellektuelle, die sich empören, wenn der Asylbewerber aus Schwarzafrika von einem Polizisten schief angesehen wird, scheinen auf diesem Auge blind zu sein. Man nimmt es sogar klaglos hin, wenn der Schwarze, für dessen Menschenrechte man eben noch gekämpft hat, als “schizophren” diagnostiziert in der Psychiatrie verschwindet und dort rechtloser ist als irgendwo sonst in der Welt.
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