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Warum psychiatrische Therapieforschung irrelevant ist

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Die Validität ist ein Maß für die Genauigkeit, mit der ein Test misst, was er zu messen vorgibt. Entsprechend ist die Validität einer medizinischen Diagnose – technisch gesprochen – ein Zahlenwert, der das Ausmaß der Übereinstimmung einer Diagnose mit dem, was sie zu diagnostizieren vorgibt, ausdrückt. Dabei ist die Validität keine Eigenschaft eines Tests bzw. eines diagnostischen Verfahrens, sondern sie hängt von der jeweiligen Fragestellung ab. Wenn wir uns beispielsweise fragen, wie viele Leute in einen Fahrstuhl passen, dann hat der Body-Mass-Index eine andere Validität, als wenn wir den Gesundheitszustand von Menschen damit abschätzen wollen.

Die relevante Fragestellung einer psychiatrischen Diagnose lautet: Hat ein Mensch eine psychische Krankheit und wenn ja, welche? Anders formuliert: Die Validität sagt uns, welche Bedeutung wir einem diagnostischen Befund hinsichtlich unserer Fragestellung zuschreiben dürfen.

Thomas Insel, der Direktor des weltgrößten psychiatrischen Forschungszentrums, des National Institute of Mental Health (NIMH), bezeichnete die psychiatrische Diagnostik als nicht valide. Er erntete Empörung, aber keinen Widerspruch.

Kein seriöser Forscher würde ernsthaft versuchen, die Behauptung, dass psychiatrische Diagnostik valide sei, mit empirischen Daten zu erhärten. Man kann es zwar für unangemessen halten, die Öffentlichkeit mit Erkenntnissen zu Validitätsmängeln zu verunsichern, aber am kruden Faktum mangelnder Validität kommt man nicht vorbei.

Bisher ließ sich kein Hirnprozess als Ursache der so genannten psychischen Krankheiten erhärten; kein Biomarker deutet auf ihr Vorhandensein hin; kein Hirnscan verrät, ob jemand “psychisch krank” ist oder nicht. Auch angebliche Befunde zur Erblichkeit “psychischer Krankheiten” erweisen sich bei näherer Betrachtung als schlecht belegte Hypothesen. (Informationen und Belege zu diesem Themenkreis finden sich u. a. hier und hier.)

Die Konsequenzen dieses Sachstands sind für die psychiatrische Therapieforschung dramatisch. Nehmen wir einmal an, ein neues Medikament gegen die so genannte Schizophrenie sollte erprobt werden. Wir bilden zwei Gruppen von “Schizophrenen”, die eine erhält das Medikament, die andere ein Placebo. Zu Beginn der Behandlung weisen die Versuchspersonen charakteristische “Symptome” auf, so hören sie beispielsweise Stimmen, die sonst niemand hört. Am Ende des Untersuchungszeitraums jedoch sind diese “Symptome” in der Experimentalgruppe weniger häufig und schwächer ausgeprägt als in der Placebo-Kontrollgruppe.

Wie soll dieses Ergebnis interpretiert werden? Man beachte, dass es Sinn einer medizinischen Behandlung ist, Krankheiten zu heilen oder zu lindern. Weder vor, noch nach dem Experiment wurde die “Krankheit” der “Schizophrenie” jedoch mit einem validen Verfahren diagnostiziert. Daher kann die beobachtete Veränderung in der Experimentalgruppe auch nicht als Heilungs- oder Linderungsprozess einer Krankheit interpretiert werden.

Nehmen wir einmal an, es gäbe so etwas wie die Krankheit Schizophrenie tatsächlich. Sie sei irgendein pathologisches Geschehen im Gehirn. Angesichts der mangelnden Validität der Diagnostik würde uns unser Experiment nun nicht verraten, ob sich der Gesundheitszustand der Betroffenen durch die Behandlung verbessert bzw. verschlechtert habe und unverändert geblieben sei, weil wir den Hirnmechanismus nicht kennen, geschweige denn messen können.

Ein Beispiel aus einem anderen Bereich soll dies verdeutlichen. Laut Bericht der Süddeutschen Zeitung sagte der Mediziner Harald Schneider von der Uni München:  “Warum der BMI noch immer Goldstandard für medizinische Fragestellungen ist, weiß eigentlich kein Mensch. Oft liefert er ein falsches Ergebnis, was das Gesundheitsrisiko betrifft.”

Wir verwirklichen nun ein Experiment mit Übergewichtigen. Die einen erhalten ein Schlankheitsmittel, die anderen ein Placebo. Vorher und nachher messen wir den Body-Mass-Index. Wir stellen fest, dass sich der Body-Mass-Index in der Experimentalgruppe im Vergleich zur Placebo-Kontrollgruppe deutlich verringert hat. Bedeutet dies, dass sich auch das Gesundheitsrisiko der Menschen, die mit dem Schlankheitsmittel behandelt wurden, vermindert hat?

Wenn eine Diagnose nicht valide ist, so bedeutet dies, dass sie sehr häufig Menschen, die nicht krank sind, als krank einstuft und Menschen, die krank sind, als gesund erachtet. Bei einer vollständig invalide Diagnose entspricht die Trefferquote der Ratewahrscheinlichkeit, die sich als der Basisrate, nämlich der Zahl der Kranken in einer Population ergibt. Je weniger Kranke ist gibt, desto wahrscheinlicher ist es unter diesen Bedingungen, dass eine positive Diagnose falsch ist. Daraus folgt auch, dass sich bei einem Experiment in der Versuchsgruppe und in der Placebogruppe viele falsch positiv eingestufte Menschen finden werden.

Nehmen wir einmal an, es gäbe ein Medikament, dass effektiv ist, aber nur bei wirklich Kranken eine echte Wirkung zeigt. Befinden sich nun in der Versuchsgruppe viele falsch Positive, so müsste dieser Effekt im statistischen Durchschnitt untergehen. Beispiel: Hundert Leute erhalten ein Verum, hundert Leute ein Placebo. Zwei der Leute in der Experimentalgruppe sind wirklich krank, die anderen wurden falsch positiv eingestuft. Auch in der Placebogruppe sind zwei tatsächlich krank. Das Verum wirkt bei diesen zwei Leuten durchaus, aber statistisch fällt dies nicht ins Gewicht, zumal sich in der Placebogruppe vermutlich auch bei einigen ein scheinbarer Effekt zeigt.

Nun könnte man argumentieren, all dies seien durchaus zutreffende Erwägungen, aber sie sie seien unerheblich, weil es einzig und allein darauf ankomme, das subjektive Leiden der Betroffenen zu lindern. Wenn also ein Medikament beispielsweise Wahnideen oder Halluzinationen bei “Schizophrenen” reduziere, so sei dies immer positiv zu bewerten – unabhängig davon, ob dadurch eine Krankheit gelindert würde oder nicht.

Dies klingt natürlich beim ersten Hinhören plausibel, doch wenn man genauer hinschaut, dann poppen die Fragezeichen auf. Denn häufig haben Behandlungen – und dies gilt nicht nur für medikamentöse, sondern auch für psychotherapeutische – neben den erwünschten auch unerwünschte Wirkungen. Und so kann der Preis einer Verminderung des Stimmenhörens bei “Schizophrenen” eine schwere und irreversible neurologische Störung sein. Und im Gegensatz zur so genannten Schizophrenie können diese neurologischen Störungen oft sogar valide diagnostiziert werden, weil der Pathomechanismus mit naturwissenschaftlichen Methoden erfasst werden kann.

Streng genommen kann man also sagen: Wenn sich eine Veränderung des Gesundheitszustandes nach einer psychiatrischen Behandlung objektiv messen lässt, dann handelt es sich beim Stand der Dinge stets um eine Verschlechterung. Beispiel: Vor Beginn der Behandlung hatte keiner der Patienten keine Spätdyskinesie, die sich in der Folge jedoch bei dreißig Prozent einstellt (verglichen mit 0 Prozent in der Placebokontrollgruppe).

Dass mit Therapieforschung, die auf invalider Diagnostik beruht, kein Blumentopf zu gewinnen ist, hat inzwischen auch Thomas Insel offen ausgesprochen. Er, der Herr der amerikanischen Psychiatrie-Forschungsförderung, will solche unzulänglichen Studien in Zukunft nicht mehr finanzieren.  Er schreibt:

“Vorschläge für Studien werden ein Zielobjekt (‘target’, HUG) oder einen Vermittler identifizieren müssen; ein positives Ergebnis wird nicht nur den Nachweis erfordern, dass eine Intervention ein Symptom lindert, sondern auch, dass es einen dokumentierten Effekt auf ein Zielobjekt hat, zum Beispiel einen neuronalen Pfad, der in der Störung verwickelt ist, oder eine entscheidende kognitive Operation.”

Dies ist ein ehrgeiziges, ein eminent ehrgeiziges Vorhaben. Es ist sich beim gegenwärtigen Stand der Neurowissenschaften überhaupt verwirklichen lässt, halte ich für fraglich. Die nächsten Jahre werden zeigen, ob der Optimismus des NIMH-Direktors gerechtfertigt war. Aus der Kurskorrektur des “National Institute of Mental Health” kann man indirekt aber auch schließen, dass wir die Ergebnisse der bisherigen psychiatrischen Therapieforschung getrost in der Pfeife rauchen können.

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