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WYSIATI

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Ein Mensch ruft an. Er sagt: Ich möge ja schon recht haben mit meiner Behauptung, dass Profis nicht besser Psychotherapie verwirklichen könnten als Laien, wissenschaftlich betrachtet sei dies vermutlich zutreffend, allein, aus seiner persönlichen Erfahrung müsse er sagen, dass er ohne seinen Psychotherapeuten nicht mehr leben würde, kein Freund, kein Verwandter habe ihm helfen können, und er kenne eine Reihe von Leuten, denen es genauso ergangen sei. Er ließe sich von der Wissenschaft diese Gewissheit nicht rauben.

Nun, antworte ich, die Wissenschaft sei ja auch nicht dazu da, Gewissheiten zu rauben, sondern, daher komme bekanntlich der Name, Wissen zu schaffen. Wissen sei vernünftig begründbare Meinung. Der Psychologe und Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, Daniel Kahneman, habe in seinem langen Forscherleben herausgefunden, dass, grob gesprochen, unser mentales Leben in zwei Systeme zerfalle: System 1 und System 2 (1).

  • System 1 ist schnell, häufig aktiv, automatisch, emotional, stereotyp und unterbewusst
  • System 2 ist langsam, mit Anstrengung verbunden, selten aktiv, logisch, kalkulierend und bewusst.

System 1 arbeitet gern nach dem Prinzip: WYSIATI. Diese Abkürzung steht für “What you see is all there is.” System 1 konstruiert Geschichten aus den aktuell vorhandenen Informationen, ignoriert Wissenslücken und der Mensch verlässt sich dann auf diese Stories, sie erfüllen ihn mit Gewissheit, sie bilden die Grundlage seines Weltverständnisses – es sei denn, er schaltet System 2 ein, um die Stimmigkeit der Geschichten zu überprüfen. Häufig halten dieser der kritischen Analyse stand, doch mitunter stellt sich heraus, dass sie auf einer unzulänglichen Informationsbasis beruhen.

Was ich ihm damit sagen wolle, fragt der Anrufer. Dass er gar nicht wissen könne, ob ihm der Psychotherapeut besser geholfen habe, als ein Laie dies könnte. Er wisse ja noch nicht einmal, ob er ihm überhaupt geholfen habe. Es sei durchaus denkbar, dass er es aus eigener Kraft geschafft habe und diese Leistung nun fälschlicherweise dem “Fachmann” zuschreibe.

Kurz: Es sei nicht auszuschließen, dass er dem Denkfehler: “Post hoc ergo propter hoc” unterliege. Nur weil es ihm nach der Psychotherapie besser gegangen sei, könne doch nicht mit Gewissheit gesagt werden, dass ihm sein Psychotherapeut das Leben gerettet habe.

Wir wissen, dank zahlloser wissenschaftlicher Experimente, dass bei uns Menschen häufig System 1 aktiv ist und dass System 1 charakteristische Denkfehler unterlaufen. System 2 wird nur selten hinzugeschaltet, denn dies bedeutet Anstrengung und der Mensch ist nun einmal denkfaul. Nur zu gern gibt er sich mit einer plausiblen Erklärung zufrieden.

Der Mensch sagt, im Allgemeinen möge ich ja recht haben, aber in seinem speziellen Fall gebe es doch eine Vielzahl von Hinweisen dafür, dass sein System 1 richtig liege. Schließlich habe ihm zuvor ja niemand helfen können, erst durch den Psychotherapeuten habe er sich aus seiner misslichen Lage befreien können.

Ich antworte: “Vielleicht waren Sie zu diesem Zeitpunkt innerlich bereit dazu, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Der Psychotherapeut hat sie zwar dabei begleitet, aber sein Anteil daran ist fraglich.”

Der Anrufer will sich damit nicht zufrieden geben: Rein wissenschaftlich können man das vielleicht niemals klären; er er kenne eine ganze Reihe von Leuten, die ebenso wie er auf ihre Psychotherapeuten schwüren.

Im Einzelfall kann man dies in der Tat grundsätzlich nicht entscheiden. Generell aber ist dies durchaus möglich. Man wähle zufällig 400 Menschen mit seelischen Problemen aus und verteile sie ebenso zufällig auf zwei Gruppen: Eine Gruppe mit Profi-Therapeuten und eine Gruppe mit Laien. Dann schaut man, wer besser abschneidet.

Wenn man dieses Experiment mehrfach wiederholt, mit anderen Versuchspersonen, anderen Profis und Laien, an unterschiedlichen Orten, und es kommt immer wieder dasselbe heraus, dann darf man durchaus nach menschlichem Ermessen (also bis zum Beweis des Gegenteils) behaupten, dass X besser oder zumindest nicht schlechter Psychotherapie verwirklichen kann als Y. Und es hat sich nun einmal gezeigt, dass X die Laien sind.

Der Mensch meint, in seinem konkreten Fall hülfe ihm all dies aber auch nicht weiter. Er habe seine Erfahrungen  gesammelt und wenn es ihm noch einmal schlecht ginge, so würde er nicht zögern, erneut professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Wenn die speziellen Informationen zum Einzelfall vage seien, antworte ich, dann sei es aber grundsätzlich das Beste, sich an den allgemeinen Erkenntnissen zu orientieren. So könne man auf lange Sicht seine Verluste vermindern und seine Gewinne steigern, dies sei die optimale Strategie.

Der Anrufer wendet ein, dass ihn in einer verzweifelten Situation die lange Sicht nicht interessiere und überhaupt sei meine Sicht vielleicht wissenschaftlich zutreffend, aber praktisch völlig irrelevant.

Ich bin froh, als ich das Gespräch schlussendlich mit einem netten Geplauder über die herausragenden Leistungen des BVB bei Bayern München beschließen kann.

Wenn es mir einmal schlecht ginge, dann würde ich um Psychotherapeuten einen großen Bogen schlagen, nicht zuletzt auch, um der Solidargemeinschaft der Versicherten Kosten zu ersparen, und ich würde mich mit Menschen meines Vertrauens aussprechen.

Anmerkung

(1) Kahnemann, D. (1911). Thinking – Fast and Slow. London: Macmillan

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