Bescheidenheit gilt als Tugend, doch Anmaßung füllt die Taschen.
Anmaßung. Gestern habe ich eine Reihe von empirischen Studien erwähnt, die zeigen, dass Profis nicht besser Psychotherapie verwirklichen können als Laien. Das Standardargument der Psychotherapie-Protagonisten gegen diese Erkenntnis lautet: Die Laien würden niemals an die wirklich schwierigen Fälle herangelassen, und bei diesen erwiesen sich die Profis naturgemäß als überlegen. Einmal abgesehen davon, dass dies nicht der Fall ist, hat dieser Einwand, so plausibel er beim ersten Hinhören auch klingen mag, einen entscheidenden Haken. Wenn Profis bei den leichten Fällen nicht besser, sondern tendenziell sogar schlechter abschneiden als Laien, warum sollten sie dann bei den schweren Fällen leistungsfähiger sein?
Anmaßung. Mir sind keine Studien bekannt, die eine Überlegenheit der Profis bei den “ganz, ganz schwierigen Fällen” empirisch erhärten könnten. Es ist auch nicht so recht klar, auf welchen Merkmalen der ausgebildeten Psychotherapeuten diese angebliche Überlegenheit beruhen sollte. Fachwissen kann es nicht sein, denn jede Psychotherapie-Schule hat mindestens eine, mitunter auch mehrere konkurrierende Störungstheorien, die einander oftmals widersprechen, und keine darf als erwiesen gelten. Die Berufserfahrung kann es auch nicht sein, denn diese hat sich in einer großen Zahl von Studien als irrelevant erwiesen.
Anmaßung. Es gibt also keinen vernünftigen Grund, den Mythos professioneller Meisterschaft in der Psychotherapie aufrecht zu erhalten. Im Klartext bedeutet dies, dass eine medizinische oder psychologische Grundausbildung und eine psychotherapeutische Fortbildung keinen Vorteil bringen, wenn es gilt, das Leiden der so genannten psychisch Kranken zu lindern. Dies ist ein erklärungsbedürftiger Sachverhalt, der weit über das Feld der Psychotherapie hinausweist. Man stelle sich vor, es stellte sich heraus, Laien könnten Krebs-, Rheumakranke oder Diabetiker genauso wirksam behandeln wie einschlägig qualifizierte Ärzte. Diese Vorstellung ist so abwegig, dass niemand jemals versucht hat, sie ernsthaft zum Gegenstand von Studien zu machen.
Keine Anmaßung. Heilpraktiker behaupten mitunter zwar, sie seien besser als die Schulmedizin. Tatsache aber ist, dass viele ihrer altfränkischen Methoden früher einmal auch von der Schulmedizin angewendet wurden und dass die Schulmedizin gigantische Fortschritte machte, seitdem sie diese durch naturwissenschaftlich fundierte überwand. Die oft als Alternative zur Schulmedizin angepriesene Homöopathie ist im Licht der empirischen Forschung grandios gescheitert. So what? Überall da, wo es um die Behandlung echter körperlicher Erkrankungen geht, stellt die Medizin eindeutig ihre Überlegenheit gegenüber Laien-Therapeuten unter Beweis.
Anmaßung. Warum ist dies bei den so genannten “psychischen Krankheiten” anders. Von Psychiatern wird gern behauptet, dass “psychische Krankheiten” im Grunde Krankheiten wie Diabetes seien. Wenn dies wirklich der Fall wäre, dann stellte sich doch die Frage, warum sie trotzdem von Ärzten nicht effektiver behandelt werden können als von Laien. Allein, vor dem Richterstuhl der Vernunft betrachtet, stellt sich diese Frage nicht. Denn die so genannten psychischen Krankheiten sind gar keine. Daher ist es bisher auch noch nicht gelungen, die diagnostischen Verfahren der Psychiatrie mit objektiven Verfahren zu validieren.
Anmaßung. Es könne ja sein, so heißt es mitunter, dass Psychotherapeuten zwar nicht besser seien als Laien, aber die Medikamente, die aus gutem Grund nur von Ärzten verschrieben werden dürften, zeigten dann doch die Überlegenheit des medizinischen Standes – vor allem bei den schweren “psychischen Krankheiten”. Schaut man genauer hin, so erweist sich diese Behauptung allerdings als Bluff. Die Antidepressiva sind, wenn überhaupt, nicht nennenswert effektiver als Placebos (siehe hier) und “Psychotiker” haben bessere Aussichten auf Genesung, wenn sie keine Neuroleptika konsumieren (siehe hier).
Anmaßung. Und so können wir jede beliebige “psychische Krankheit” durchdeklinieren und nichts als Anmaßung, Anmaßung, Anmaßung finden wir auf Seiten des medizinischen Standes, der sich kompetent wähnt, dies aber nicht beweisen kann. Die Psychiatrie kann nicht belegen, dass ihre Diagnosen valide sind. Sie kann nicht belegen, dass ihre Störungstheorien zutreffen. Sie kann nicht belegen, dass sie effektiver behandeln kann als Laien. Dennoch beherrscht sie unangefochten das Feld und weitet ihren Zuständigkeitsbereich beständig aus (1).
Bescheidenheit. Die einfachste Erklärung für die Ineffizienz medikamentöser Behandlung und Psychotherapie besteht darin, dass “psychische Krankheiten” gar nicht existieren. Zwar gibt es Menschen mit erheblichen seelischen Problemen – doch nicht die Spur eines Beweises dafür, dass den einschlägigen psychiatrischen “Krankheitsbildern” tatsächlich eine Krankheit zugrunde liegt. Auffällig zwar sind bei den Betroffenen soziale und wirtschaftliche Schwierigkeiten, aber diese allein können die seelischen Probleme nicht erklären. Wir wissen einfach nicht so genau, warum bei manchen Menschen Phänomene auftreten, die von der Psychiatrie als “Symptome einer psychischen Krankheit” gedeutet werden.
Bescheidenheit tut not. “Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug, niemals merkt er eben allen Lug und Trug”, heißt es in Bert Brechts “Lied von der Unzulänglichkeit des menschlichen Strebens”. Wie wahr. Und schlimmer: Nicht nur, dass er Lug und Trug nicht merkt, er neigt dazu, ihn begierig aufzusaugen. Mitunter hat man den Eindruck, er wolle betrogen werden. Von Wunderheilern, von Astrologen, von Homöopathen, von Finanzhaien, von – ja, auch von Psychiatern und Psychotherapeuten. Der Mensch hält das Rätsel nicht aus. Er sucht nach Erklärungen. Er akzeptiert sie vorschnell, wenn sie ihm plausibel erscheinen, ohne sie auf Herz und Nieren zu prüfen. Oftmals wähnt er sich mit seinen Erklärungen dann im Vollbesitz der Wahrheit, lässt keinen Zweifel mehr zu. Bescheidenheit tut not.
“Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr.” So lautet eine alte Redensart. Wer ein Experte sein will, muss Durchblick unter Beweis stellen, zeigt er sich zu oft ratlos, bekennt, vor einem Rätsel zu stehen, so verliert er seinen Status als Fachmann. Dies gilt nicht nur für Psychiater; die Welt ist voller Durchblicker, die auf laufenden Band Prognosen verkünden, in der Hoffnung, dass einige davon schon richtig sein und die falschen schnell vergessen werden. Unter sonst gleichen Bedingungen kommt man auf der Leiter nach oben als Durchblicker eben schneller voran. Sofern der Durchblick angemaßt ist (was leider nur zu häufig vorkommt), profitieren von ihm allerdings nur die Durchblicker.
Dies sollte man wissen und beachten, wenn man einem Durchblicker begegnet, der einem helfen will. Da kommt einer daher, schimpft sich Anlageberater, hat einen todsicheren Tipp für eine Investition; wir wissen, wo oft das schiefgeht; und dennoch fallen immer wieder Menschen auf solche Tipps, die viel Rendite und wenig Risiko versprechen, mutwillig herein. Sie bestehen nicht auf einer verantwortlichen Aufklärung über Risiken, sie vertrauen.
Da kommt einer daher, schimpft sich Psychiater, sagt, man sei schizophren, könne aber, wenn man nur zeitlebens Neuroleptika schlucke, ein halbwegs befriedigendes Leben führen. Er sagt nicht: Sie werden trotz der Pillen mit mehr als 70-prozentiger Wahrscheinlichkeit dennoch häufig “psychotisch” werden (siehe hier) und sie haben mit 30-prozentiger oder gar höherer Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, früher oder später an verheerenden, irreversiblen neurologischen Störungen, den so genannten Spätdyskinesien zu leiden (siehe hier).
Er sagt dies nicht, weil er dann ein erkennbar schlechtes Geschäft anpreisen würde (und ich verzichte hier, wegen der Übersichtlichkeit, darauf, weitere erhebliche Risiken zu benennen). Aber er ist ein Durchblicker, und daher sind viele geneigt, ihm zu vertrauen. Wer die Prozentrechnung beherrscht, kann im Kopf abschätzen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, langfristig mit Neuroleptika halbwegs psychosefrei und ohne Spätdyskinesie davonzukommen.
Anmaßung und Bescheidenheit. Die Psychiatrie ist ein Spiel – wie jedes menschliche Projekt, bei dem Entscheidungen gefällt werden müssen, die von Wahrscheinlichkeitsschätzungen abhängen. Beim Pokerspiel fragt man sich: Blufft der andere nur oder hat er wirklich ein gutes, ein besseres Blatt als ich. Die Wahrscheinlichkeit, dass der “Patient” in der Psychiatrie das Spiel verliert, ist umso größer, je geschickter die Anmaßung kaschiert wird. Darauf aber, auf die Tarnung der Unzulänglichkeit, ist das gesamte System ausgerichtet.
Anmerkung
(1) Blech, J. (2014). Die Psychofalle. Wie die Seelenindustrie uns zu Patienten macht. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag
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