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Einhorn, Bigfoot, Yeti, psychisch Kranker

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Das Einhorn ist ein Säugetier, dass einem Pferd ähnelt, aber ein gewundenes Horn auf der Stirn trägt. Es hat gespaltene Hufe, einen Löwenschwanz und einen Ziegenbart. Sein Fell ist reinlich weiß. Einhornhengst und Einhornstute leben monogam zusammen, bis eines der beiden Tiere stirbt. Der Witwer oder die Witwe ziehen dann zum Horizont, um dort mit der untergehenden Sonne zu verschmelzen.

Man wird dieses Tier in der biologischen Nomenklatur vergeblich suchen. Denn es fehlt der Holotypus, ein Exemplar des Namensträgers, das in einer wissenschaftlichen Sammlung aufbewahrt wird. Kurz:  “Einhorn” ist kein valider wissenschaftlicher Begriff. Ihm entspricht nichts in der Realität. Man muss es, bis zum Beweis des Gegenteils, als Fabeltier betrachten, als Ausgeburt der Fantasie. Weitere hypothetische Lebewesen dieser Art sind Bigfoot und Yeti oder die Steinlaus (Petrophaga lorioti).

“Der Begriff ‘psychische Krankheit’ ist eine Black Box”, schreiben die amerikanischen Professoren für Sozialarbeit, Stuart A. Kirk, Tomi Gomory und David Cohen in ihrem Buch “Mad Science” (1). “Medizinisch Orientierte argumentieren, dass diese Syndrome Gehirnkrankheiten seien, Thomas Insel, der Direktor des NIMH spekuliert, dass ‘abnorme Aktivität in bestimmten Hirnschaltkreisen’ die Ursache psychischer Krankheiten sei. Unglücklicherweise konnte, nach hundert Jahren solcher Hypothesen, nicht ein einziger Biomarker für psychiatrische Störungen identifiziert werden, um Sorgen und Fehlverhalten als psychische Krankheiten zu validieren.”

“… es gibt immer noch keine objektiven Tests, mit denen man die Validität irgend einer psychiatrischen Diagnose bestätigen kann – eine Tatsache, die durch die fortgesetzt niedrigen Reliabilitäts-Raten noch unterstrichen wird”, schreibt der britische Psychologe James Davies in seinem Buch “Cracked” (2).

Diese und zahllose andere Autoren bestätigen, was der amerikanische Psychiater Thomas Szasz bereits 1961 zu Papier brachte: Die so genannten psychischen Krankheiten sind ein Mythos (3). Die psychiatrischen Konstrukte, die so genannten “Krankheitsbilder” oder “Syndrome” sind nicht valide. Ihnen entspricht nichts in der Realität. Und so kann man “psychisch Kranke” durchaus mit Einhörnern vergleichen. Es handelt sich, bis zum Beweis des Gegenteils, um Fabelwesen.

Die Kryptozoologie ist ein Teilgebiet der Biologie, das vor dem Menschen bisher verborgene Tierarten aufspürt. Manchmal ist dieser Disziplin durchaus Erfolg beschieden. So hielt man zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Berggorilla noch für eine Ausgeburt der Fantasie; seine reale Existenz ist heute Schulwissen. Andere Entdeckungen verborgener Lebewesen, wie im Falle des Bigfoots oder des Yetis, erwiesen sich allerdings als Schwindel.

Es ist also nicht ausgeschlossen, dass die Kryptomedizin irgendwann einmal einen “psychisch Kranken” ausfindig macht, also einen Menschen, der aufgrund körperlicher Ursachen beispielsweise an einer “Schizophrenie”, an einer “Depression” oder an einer “Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung” leidet. Es ist aber auch denkbar, dass es sich bei diesen “Krankheiten” um willkürliche Zusammenstellungen von Phänomenen handelt, die als “Symptome psychischer Krankheiten” gedeutet werden, obwohl sie andere Ursachen haben und keineswegs einheitliche, voneinander abgegrenzte  “Syndrome” darstellen.

So wie mancher Bigfoot mitunter schon als gemeiner Bär identifiziert wurde, musste auch schon mancher “psychisch Kranke” aus den Verzeichnissen psychiatrischer Fabelwesen entlassen werden. Man denke zum Beispiel an den Homosexuellen. Zwar halten Psychoanalytiker auch heute noch daran fest, dass Homosexuelle pervers und krank seien, aber es gibt ja auch obskure Vereinigungen, die an die beispielsweise an die Realität von Yetis glauben, obwohl die Fachwelt allgemein davon nichts wissen will.

Wenn etwas wirklich Vorhandenes nicht für das, was es ist, sondern für etwas anderes gehalten wird, spricht man von illusionärer Verkennung. Dies dürfte häufig der Grund für UFO-Sichtungen sein. Die fehlende Validität psychiatrischer Diagnosen spricht dafür, dass auch diesen eine illusionäre Verkennung zugrunde liegt. Man meint, einen psychisch Kranken zu sehen, obwohl es sich beispielsweise um einen Menschen handelt, der Stimmen hört, die sonst niemand hört oder der an Ideen glaubt, die andere für nicht plausibel oder abwegig halten.

Nicht nur bei der Wahrnehmung mit dem bloßen Auge, sondern auch unter Zuhilfenahme moderner Instrumente, sind wir vor illusionären Verkennungen nicht gefeit. Dies zeigt sich, wie ich hier und hier gezeigt habe, auch bei den voll computerisierten bildgebenden Verfahren, mit denen man den Ursachen “psychischer Krankheiten” im Gehirn auf der Spur zu sein wähnt.

Natürlich, man soll die Hoffnung nicht aufgeben: Vielleicht werden irgendwann einmal Einhörner, Bigfoots, Yetis, Steinläuse oder psychisch Kranke entdeckt.

Wenn eine Theorie aus Universalaussagen besteht, dann können wir sie nicht beweisen und nur versuchen, sie zu widerlegen. Die Theorie beispielsweise, dass alle Schwäne weiß seien, kann nicht bewiesen werden, denn wie viele weiße Schwäne man auch immer vorweist: nicht auszuschließen ist, dass einer entdeckt wird, der es nicht ist. Ein einziger schwarzer (oder sonstwie gefärbter) Schwan aber widerlegte die Theorie, definitiv.

Setzt sich eine Theorie aber aus Existenzaussagen zusammen, dann verhält es sich genau umgekehrt. Die Theorie, dass es mindestens einen schwarzen Schwan gebe, kann man nicht wiederlegen, denn dazu müsste ich alle Gegenstände des Universums durchmustern und zeigen, dass keiner von diesen ein Schwan und schwarz ist. Das geht natürlich nicht. Daher ist derjenige, der eine solche Theorie aufstellt, verpflichtet, sie zu beweisen.

Dies gilt natürlich auch für die Theorie, dass es psychisch Kranke gäbe. Zum Beweis der Existenz psychisch Kranker genügt es nicht, auf unsere gut gefüllten Irrenhäuser zu verweisen. Denn die dortigen Insassen könnten auch die Opfer einer illusionären Verkennung sein. Man könnte die echten von den falschen psychisch Kranken nur durch eine valide Diagnostik unterscheiden. Diese aber gibt es nicht.

Dies musste auch der Direktor des weltweit größten psychiatrischen Forschungszentrums, des National Institute of Mental Health (NIMH), Thomas Insel einräumen. Er schrieb in seinem Director’s Blog über das diagnostische Handbuch der amerikanischen Psychiatrie, das DSM:

“Das Ziel dieses neuen Handbuchs, wie aller vorherigen Ausgaben, ist es, eine gemeinsame Sprache zur Beschreibung der Psychopathologie bereitzustellen. Obwohl das DSM als “Bibel” für dieses Gebiet beschrieben wurde, ist es, bestenfalls, ein Lexikon, das eine Menge von Etiketten kreiert und sie definiert. Die Stärke jeder dieser Ausgaben des DSM war “Reliabilität” – jede Edition stellte sicher, dass Kliniker dieselben Begriffe in derselben Weise benutzten. Seine Schwäche ist ist sein Mangel an Validität. Anders als bei unseren Definitionen der Ischämischen Herzkrankheit, des Lymphoms, oder von AIDS, beruhen die DSM-Diagnosen auf dem Konsens über Muster klinischer Symptome, nicht auf  irgendwelchen objektiven Labor-Daten. In der übrigen Medizin, entspräche dies dem Kreieren diagnostischer Systeme auf Basis der Natur von Brustschmerzen oder der Qualität des Fiebers. In der Tat, symptom-basierte Diagnosen, die einst in anderen Gebieten der Medizin üblich waren, wurden im letzten halben Jahrhundert weitgehend ersetzt, weil wir verstanden haben, dass Symptome selten die beste Wahl der Behandlung anzeigen. Patienten mit psychischen Störungen haben Besseres verdient (Übersetzung von HUG).”

Am Rande sei erwähnt, dass sich Insel hinsichtlich der Reliabilität täuscht (denn auch diese ist unzulänglich (1)), aber seine Einschätzung bezüglich der Validität entspricht dem Stand seriöser Forschung. Insel ist im Übrigen ein leidenschaftlicher Verfechter der These, dass psychische Krankheiten existierten und dass sie Hirnerkrankungen seien. Man darf ihn also als einen eminenten Vertreter der Kryptomedizin betrachten. Man mag ihn, angesichts des beständigen Scheiterns der Versuche, Bigfoots, Yetis, Einhörner, Steinläuse und psychisch Kranke zu entdecken, milde belächeln, aber man muss anerkennen, dass er immerhin die Notwendigkeit der Validierung psychiatrischer Diagnostik erkennt. Dies darf nämlich bei seinen Zunftgenossen ebenso wenig für selbstverständlich gehalten werden wie bei einem Stammtischbruder.

Anmerkungen

(1) Kirk, S. A. et al. (2013). Mad Science. Psychiatric Coercion, Diagnosis, and Drugs. New Brunswick, London: Transcation Publishers

(2) Davies, J. (2013). Cracked. Why Psychiatry is Doing More Harm Than Good. London: Icon Books

(3) Szasz, Thomas S. (1974). The Myth of Mental Illness: Foundations of a Theory of Personal Conduct. New York: Harper & Row

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