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Frösche, psychisch Kranke

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Wenn ein Tier ein Frosch ist, dann kann es schwimmen und frisst Fliegen. Wir erfahren von einem Tier, das schwimmen kann und Fliegen frisst. Daraus schließen wir, dass es ein Frosch ist. Dies ist natürlich ein Trugschluss, denn es mag auch Tiere geben, die schwimmen können und Fliegen fressen, aber keine Frösche sind.

Die Definition von “psychischer Krankheit”, die in der neuesten Version des diagnostischen Handbuchs DSM-5 der American Psychiatric Association (APA) präsentiert wird, enthält folgenden Kernsatz:

“A mental disorder is a syndrome characterized by clinically significant disturbance in an individual’s cognition, emotion regulation, or behavior that reflects a dysfunction in the psychological, biological, or developmental processes underlying mental functioning.”

Also: Wenn ein Mensch eine Dysfunktion in den psychologischen, biologischen oder Entwicklungsprozessen hat, die psychischem Funktionieren zugrunde liegen, dann hat er eine Störung der Kognition, emotionalen Regulation oder des Verhaltens.

Wer erfahren von einem Menschen, der eine Störung der Kognition, emotionalen Regulation oder des Verhaltens hat, und schließen daraus, dass er unter einer Dysfunktion der psychologischen, biologischen oder Entwicklungsprozesse leidet, die psychischen Funktionieren zugrunde liegen. Dies ist natürlich ein Trugschluss, weil Kognition, emotionale Regulation und Verhalten auch gestört sein können, obwohl die zugrunde liegenden biologischen, psychologischen und Entwicklungsprozesse völlig funktional sind.

Beispiel aus einem anderen Bereich: Wir haben drei Zahlen auf dem Papier und tippen sie in einen Taschenrechner ein. Der Rechner liefert uns eine falsche Summe. Ist die Hardware des Rechners defekt oder seine Software fehlerhaft? Nicht zwingend. Wir könnten auch versehentlich eine falsche Zahl eingegeben haben, also eine solche, die nicht auf der Liste steht. Der Rechner hat womöglich völlig korrekt gearbeitet, sein Ergebnis war nicht falsch, wohl aber sein Input.

Beispiel aus dem vorliegenden Bereich: Zwei Herren von der Polizei stehen morgens vor der Tür und warnen Herrn Müller vor einem gewalttätigen Trickbetrüger, der als Vertreter getarnt von Wohnung zu Wohnung ziehe. Falls ein solcher bei ihm Einlass erbitte, solle er ihn hereinlassen, zum Schein auf seinen Betrug eingehen und hinterher unmittelbar die Polizei alarmieren. Eventuelle Schäden würden von der Polizei erstattet.

Zufällig kommt ein Vertreter vorbei und hat leichtes Spiel, Herrn Müller, der mächtig Angst hat, einen Staubsauger anzudrehen, obwohl Herr Müller gar keinen braucht.

Wir erfahren von Herrn Müller später Folgendes: Aufgrund seiner Furcht vor gefährlichen Trickbetrügern kaufte Herr Müller angstgesteuert einen Staubsauger, den er gar nicht brauchte. Kaufte Herr Müller also einen Staubsauger, weil er an einer Dysfunktion der psychologischen, biologischen oder Entwicklungsprozesse litt, die psychischem Funktionieren zugrunde liegen?

In diesem Fall kennen wir den Hintergrund. Herr Müller reagierte entsprechend der Warnung von Vertrauenspersonen und er befolgte ihre Anweisungen. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass dieses Verhalten und Erleben letztinstanzlich von Dysfunktionen seiner Psyche, seines Nervensystems oder von in seiner Entwicklung verursacht wurde. Vielmehr darf man unterstellen, dass all dies völlig normal funktionierte, in Einklang mit den Informationen, die Herr Müller erhalten hatte.

Wenn die Informationen falsch oder unsinnig sind, dann wird sich auch ein völlig funktionales System falsch oder unsinnig verhalten. Im Computer-Jargon nennt man dieses Phänomen: “Garbage in – garbage out”: Müll rein, Müll raus. Was auch sonst? Aus einem verrückten Verhalten folgt also keineswegs zwingend eine kranke Psyche.

Um ein solches Verhalten mit einer kranken Psyche erklären zu können, muss man unabhängig vom Verhalten nachweisen können, dass die Psyche tatsächlich krank ist. Ein schwimmendes und Fliegen fressendes Tier ist nur dann ein Frosch, wenn es auch die anderen Merkmale eines Frosches aufweist.

Was aber ist die Psyche? Und an welchen Merkmalen erkennt man eine kranke Psyche, unabhängig vom Verhalten? Der psychiatrische Mainstream betrachtet das Psychische als eine Funktion des Nervensystems und daher müsste man auch im Nervensystem jene Dysfunktionen feststellen können, die angeblich gestörtes Verhalten und Erleben hervorbringen.

Dies ist bisher noch nicht gelungen. Für keine der so genannten psychischen Störungen konnten ursächliche Zusammenhänge mit Hirnprozessen identifiziert werden. (Dazu finden sich in der Pflasterritzenflora viele Quellenangaben, beispielsweise hier.)

Die DSM-5-Definition bietet alternativ dazu aber noch psychologische und Entwicklungsprozesse als Ursachen der so genannten  psychischen Störungen an.

Um mit diesen Prozessen “psychisch krankes” bzw. gestörtes Verhalten und Erleben erklären zu können, müssten wir die Möglichkeit haben, sie unabhängig von Merkmalen dieses Verhaltens und Erlebens zu erfassen. Wenn wir nur wissen, dass ein Tier Fliegen frisst und schwimmen kann oder sonstige Verhaltensweisen aufweist, die auch bei Fröschen zu finden sind, so können wir allein auf Basis dieser Informationen nicht sicher sagen, dass es sich bei diesem Tier um einen Frosch handelt.

Und so ist es auch bei Menschen. Wenn wir wissen, dass ein Mensch Stimmen hört und seltsame Überzeugungen vertritt, so können wir nicht sicher wissen, dass es sich dabei um einen “Schizophrenen” im Sinne eines medizinischen Konstrukts handelt.

Wie also erfasst man diese psychologischen oder Entwicklungsprozesse unabhängig von dem Verhalten und Erleben, das man erklären will? Welche Merkmale müssen hier gemessen oder sonstwie dokumentiert werden? Zum Glück müssen wir uns diesem schwierigen Thema hier nicht weiter widmen, denn bei den psychiatrischen Diagnosen im Sinne der DSM oder der ICD spielen derartige Merkmale keine Rolle. Hier genügt es – bildhaft gesprochen – zu wissen, das ein Tier schwimmen kann und Fliegen frisst, um es als Frosch zu identifizieren.

Aber ist dies denn nicht die bewährte Sherlock-Holmes-Methode? Der Detektiv wurde zum Tatort gerufen, und er schloss, wo andere ratlos waren, aus einer Reihe von Anzeichen, die er dort entdeckte, den Hergang der Tat. Diese atemberaubende Fähigkeit machte ihn berühmt. Allerdings funktioniert so etwas nur im Roman. Im realen Leben gibt es fast immer alternative Erklärungen für das Zustandekommen eines Zustands, und häufig kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, dass nur eine Alternative nach menschlichem Ermessen als Ursache in Frage kommt.

Bisher habe ich salopp nur von “Ursache” gesprochen; gemeint ist eigentlich die (relative) Letztursache. Natürlich ist der sich drehende Schlüssel eine Ursache dafür, dass sich das Schloss öffnet. Aber, bezogen auf den Handlungszusammenhang des Türöffnens, ist die (relative) Letztursache dafür derjenige, der den Schlüssel dreht.

Ich zweifele nicht daran, dass menschliches Verhalten und Erleben ein Effekt des Nervensystems ist. Die gilt für jede Form des Verhaltens und Erlebens, nicht nur für jenes, das von Psychiatern und psychologischen Psychotherapeuten als krank bezeichnet wird. Insofern hören natürlich auch Prozesse im Nervensystem zur Kausalkette menschlichen Verhaltens und Erlebens.

Doch um von einer “psychischen Krankheit” sprechen zu können, muss man voraussetzen, dass die Kausalkette des gestörten Verhaltens und Erlebens im menschlichen Nervensystem oder zumindest in der Psyche (was immer das sein mag) des Individuums ihren Ursprung hat.

Die Alternativhypothese lautet: Nach dem Prinzip von “Garbage in – garbage out” können auch ein völlig intaktes Nervensystem, eine völlig  intakte Psyche scheinbar gestörtes Verhalten und Erleben hervorbringen, das aber, bedenkt man den informationellen Input, eine absolut normale und funktionale Reaktion des Organismus darstellt.

Ein Mensch muss sich übergeben. Dürfen wir daraus schließen, dass er magenkrank ist oder an einer sonstigen Krankheit leidet? Selbstverständlich ist sein Körper am Erbrechen ursächlich beteiligt. Aber auch ein völlig gesunder Körper neigt zum Erbrechen nach Verabreichung eines Brechmittels.

Ein Mensch ist “depressiv”. Dürfen wir daraus schließen, dass er an Serotoninmangel oder an einer sonstigen Störung seines Nervensystems bzw. seiner Psyche leidet? Selbstverständlich sind sein Nervensystem und seine Psyche ursächlich an der “Depression” beteiligt. Aber auch ein völlig intaktes Nervensystem und eine völlig intakte Psyche neigen zur “Depression”, wenn ihr Träger seine Arbeit verliert und er davon überzeugt ist, dass Arbeitslose minderwertig seien und ihr Leben sinnlos sei.

Es ist keine Krankheit, seine Arbeit zu verlieren. Es ist keine Krankheit, eine geringschätzige Meinung über Arbeitslose und das Leben ohne Arbeit zu haben. Daher ist es auch keine Krankheit, bei einer derartigen Einstellung eine “Depression” zu entwickeln, wenn man seine Arbeit verliert. Dies ist vielmehr die logische Konsequenz aus derartigen Prämissen. Psyche und Gehirn ziehen nur logisch einwandfreie Schlüsse aus den Gegebenheiten. Logisch einwandfreie Konklusionen sind aber keine Symptome von Geisteskrankheiten oder psychischen Störungen.

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