Der amerikanische Psychologe Martin Seligman, der vor allem durch seine Theorie der erlernten Hilflosigkeit international bekannt wurde, trägt in seinem Buch “Authentic Happiness” (1) empirische Befunde zu den Grundlagen menschlichen Glücks zusammen. Zu den Faktoren mit einem deutlich positiven Effekt zählt offenbar eindeutig der religiöse Glaube. Dies gilt zumindest für Amerika, denn daher stammen die meisten der Studien, auf die sich Seligman bezieht; aber ich habe keinen Zweifel daran, dass sich diese Erkenntnis weltweit verallgemeinern lässt.
Religiöse Amerikaner missbrauchen seltener Drogen, begehen seltener Verbrechen, lassen sich seltener scheiden, und töten sich seltener selbst. Religiöse Mütter behinderter Kinder kommen besser mit trüben Stimmungen klar, religiöse Menschen werden durch eine Scheidung, Arbeitslosigkeit, Krankheit oder den Tod nahestehender Menschen weniger niedergedrückt. Kurz: Es gibt kaum einen Bereich der Zufriedenheit mit dem Leben, der nicht in einem positiven Zusammenhang mit dem religiösen Glauben steht.
Man mag sich natürlich fragen, ob von Haus aus glückliche Menschen eher dazu neigen, religiös zu werden (weil damit ja auch ein Optimismus verbunden ist) oder ob umgekehrt das religiöse Bekenntnis dazu führt, sich im Leben wohler zu fühlen.
Vermutlich wird sich diese Frage auch mit den Mitteln der empirischen Psychologie nicht eindeutig klären lassen, da kaum sicher ausgeschlossen werden kann, dass die Religion nur ein Epiphänomen anderer, für das Lebensglück entscheidender Faktoren ist. Dennoch will es mir als sehr plausibel erscheinen, dass eine religiöse Bindung einen wichtigen Schutzfaktor gegen alltägliches Unglücklichsein darstellt.
Während man beim Glauben nur seiner Intuition folgen muss, erfordert der Atheismus (und dies sage ich als Atheist in aller Bescheidenheit) eine erhebliche geistige Anstrengung, er wurzelt durchaus in einem Heroismus, in einem Heldenmut, im Licht der Vernunft standhaft zu bleiben.
Denn mag der Glaube auch nützlich sein, was Glück und Zufriedenheit betrifft, er steht dennoch dem Streben nach Erkenntnis im Wege, also jenem Streben, das uns recht eigentlich erst zu Menschen macht. Ich will nicht sagen, dass die Gläubigen keine Menschen seien, aber je stärker die Macht des Glaubens in einem Menschen ist, desto schwächer sind naturgemäß die Kräfte, die ihn zu einem autonomen Gebrauch der Vernunft drängen. Vernunft aber ist das Alleinstellungsmerkmal des Menschen im Reich der Lebewesen.
Soll man Menschen mit Lebensproblemen raten, Hilfe in Kirchen oder Glaubensgemeinschaften zu suchen? Könnte dies eine Alternative zur Psychiatrie sein, die den Menschen bekanntlich zum Lebenssinn nichts zu sagen hat und sich bestenfalls in Psychotherapien auf Problemlösungen konzentriert, schlimmstenfalls die Probleme durch die Wirkung von “Medikamenten” überkleistert?
Halleluja? Mir wird unbehaglich bei dieser Frage. Es widerstebt mir zu glauben, dass der Mensch um jeden Preis glücklich sein soll, und wenn die Religion dabei hilft, dann gut.
Freud bekannte, das Ziel der Psychoanalyse sei es, neurotisches Elend in normales Unglücklichsein umzuwandeln. Dies klingt nicht gerade berauschend. Doch dieses Anliegen scheint das Ziel der Psychiatrie insgesamt zu sein, und dies ist ein Ziel, dass sie, trotz seiner Anspruchslosigkeit, in aller Regel verfehlt.
Zweifellos ist die “frohe Botschaft” der Kirchen und Glaubensgemeinschaften Munition eines anderen Kalibers. Wer damit aufrüstet, man den Stürmen des Lebens eher gewappnet sein als der Ungläubige. Keine Frage. Der Glückliche schwimmt im Medium von Glaube, Liebe und Hoffnung einfach besser als in einem Meer von Pillen und Maßregeln zur effizienten Bewältigung des Daseins.
Niemand muss unglücklich sein, niemand muss die ihn umgebende Wirklichkeit, und sei sie noch so grau und kalt, als ein Unglück interpretieren. Wenn uns die Religion eine neue, eine positivere Sichtweise schenkt, und bestehe sie auch nur in der Hoffnung auf ein Paradies nach dem Tode – warum nicht?
Warum nicht? Wer den religiösen Weg wählt, den will ich nicht tadeln. Vor die Wahl zwischen Kirche und Psychiatrie gestellt, würde auch ich die Kirche wählen. Allein, es gibt Alternativen.
Für mich, und ich betone, für mich ist es besser, sein Geschick zu akzeptieren, sein Leiden zu erdulden, ohne Selbstbetrug. Für mich ist es besser, sich zur Vernunft zu bekennen und Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, sich nicht dem Willen eines Gottes zu unterwerfen. Für mich ist es besser zu leiden, als ein illusorisches Glück zu genießen. Darauf bin ich stolz, die Anstrengung der Vernunft auf mich genommen und der Verlockung zur Unvernunft widerstanden zu haben.
Niemand muss leiden, mit oder ohne Gott. Epikur starb, so wird berichtet, trotz großer Schmerzen, im Zustand des vollkommenen Glücks, in der Erinnerung an all die guten Stunden, die er genießen durfte. Solche Größe zeichnet nur wenige aus, obwohl sie uns allen eigen sein könnte.
Also werden wir alle leiden, solange wir uns zu solcher Größe noch nicht aufgeschwungen haben. Ein Abglanz dieser Größe ist die Bereitschaft, unser Geschick, unser Leiden als Zeichen unserer Schwäche zu akzeptieren, anzunehmen. Dann brauchen wir weder die Psychiatrie, noch Kirchen oder Glaubensgemeinschaften.
Meinen Lesern wünsche ich heroische (oder zumindest glückliche) Ostertage.
Anmerkung
(1) Seligman, M. (2002). Authentic Happiness: Using the New Positive Psychology to Realize Your Potential for Lasting Fulfillment. New York: Free Press
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