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Sind psychische Krankheiten real?

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Wissenschaftler verglichen die Diagnosen im Verwaltungsregister von zwei psychiatrischen Anstalten in Nordnorwegen mit den Diagnosen eines Experten.

Der Experte beurteilte die Patienten auf Grundlage der Ergebnisse eines strukturierten diagnostischen Instruments (M.I.N.I.PLUS) sowie, in Zweifelsfällen, einer Inspektion der Patientenakten. Das diagnostische Instrument wurde von trainierten Interviewern eingesetzt.

Die Kliniker, deren Diagnosen in den Registern erfasst wurden, folgten dem in den Kliniken üblichen diagnostischen Procedere (ICD-10).

Natürlich kannte der Experte die Befunde der Ärzte vor Ort nicht.

Es zeigte sich, dass der Experte im Durchschnitt 3,4 Störungen pro Patient feststellte (hohe Komorbidität), wohingegen die Kliniker im Schnitt nur 1,4 Störungen pro Patient fanden (niedrige Komorbidität).

Die Schlussfolgerung der Wissenschaftler lautete:

“The validity of administrative registers in psychiatry seems dubious for research purposes and even for administrative and clinical purposes. The diagnostic process in the clinic should be more structured and treatment guidelines should include comorbidity (1).”

Hier wird offenbar das Expertenurteil als Goldstandard gesetzt und die Abweichung davon als Validitätsmangel aufgefasst. Dabei wird aber nicht bedacht, dass die Validität von M.I.N.I.PLUS ebenfalls zweifelhaft ist. Die Grundform dieses Instrument, das M.I.N.I. wurde nämlich, wie allgemein üblich bei “Validitätsstudien” in diesem Bereich, nur mit anderen strukturierten Interviews und Expertenmeinungen “validiert” (2). Diese aber sind ebenfalls nicht valide.

Es ist immer problematisch, die Validität eines Instruments anhand von Korrelationen mit bewährten Verfahren abzuschätzen, wenn für diese “bewährten” Verfahren noch nicht nachgewiesen werden konnte, dass ihre Befunde tatsächlich die Realität widerspiegeln.

Bisher nämlich ist es der Psychiatrie noch nicht gelungen, ursächliche Zusammenhänge zwischen den angeblich symptomatischen Merkmalen und irgendwelchen “pathologischen” Variablen, die von diesen Merkmalen unabhängig festgestellt werden können, zu identifizieren (siehe hierzu unter anderem meinen Artikel “Was taugen psychiatrische Diagnosen?” in der Pflasterritzenflora).

Die norwegische Studie ist ein weiterer Beleg dafür, dass in der psychiatrischen Welt wenig Einigkeit darüber herrscht, ob und wenn ja welche “psychische Krankheit” ein Patient hat. Dieses Problem betrifft unmittelbar die zentrale Fragestellung dieses Tagebuch-Eintrags. Man kann “psychische Krankheiten” aus meiner Sicht nur dann als real betrachten, wenn sich zumindest einen real existierender “psychisch Kranker” zweifelsfrei identifizieren lässt.

Es kann nicht bestritten werden, dass die überwiegende Mehrheit der Psychiater und Psychologen, aber auch der einschlägig interessierten Philosophen, Soziologen und wohl auch der Vertreter anderer Disziplinen davon überzeugt sind, dass psychische Krankheiten real seien.

Sie lassen sich von dieser Überzeugung auch nicht dadurch abbringen, dass bisher noch keine körperlichen Ursachen für irgendeine der so genannten psychischen Krankheiten entdeckt werden konnten.

Sie lassen sich von dieser Überzeugung auch nicht dadurch abbringen, dass sich die Psychiater häufig nicht einig werden können, wer nun psychisch krank sei und wer nicht bzw. worunter er leide (3).

Psychische Krankheiten, so sagen sie, seien eben etwas anderes als körperliche Krankheiten, wenngleich selbstverständlich körperliche Prozesse in ihrem Ursachenbündel immer eine Rolle spielten. So etwas kann man natürlich leicht behaupten, solange man den Beweis dafür nicht antreten muss.

In der bereits zitierten norwegischen Studie entdeckte der “Experte” 76 Patienten mit gleichzeitiger Angststörung und Abhängigkeitserkrankung, wohingegen die Kliniker laut Verwaltungsregister nur 2 identifiziert hatten. Sind die 76 vom Experten identifizierten Patienten Leute mit realer gleichzeitiger Angststörung und Abhängigkeitserkrankung oder nur die zwei, die im Verwaltungsregister als solche geführt wurden?

Solange diese und ähnlich Fragen nicht geklärt sind, hat man doch recht eigentlich guten Grund, daran zu zweifeln, dass “psychisch Kranke” überhaupt existieren.

Wer die These, dass alle Schwäne weiß seien, widerlegen will, muss zumindest ein Tier vorweisen, das nicht schwarz, aber ein Schwan ist. Eine genetische Analyse könnte Aufschluss darüber bringen, ob es sich bei diesem Tier tatsächlich um ein Lebewesen handelt, das alle charakteristischen Merkmale der Schwäne mit diesen gemeinsam hat, sich aber, ebenfalls aus genetischen Gründen, farblich von den weißen Schwänen unterscheidet. Man will ja schließlich nicht auf einen von Witzbolden schwarz eingefärbten Entenvogel hereinfallen.

Um einen “psychisch Kranken” eindeutig zu identifizieren, ist es also notwendig nachzuweisen, dass sein Verhalten und Erleben durch eine Krankheit verursacht wurde. Ebenso wenig, wie ein schwarz eingefärbter Schwan die These widerlegt, dass alle Schwäne weiß seien, ebenso wenig widerlegt ein tobender, halluzinierender oder am Sinn seines Lebens zweifelnder Mensch die These, dass alle Menschen “psychisch gesund” seien.

Jedenfalls braucht man für eine kategoriale Diagnose (krank – gesund) eindeutige Kriterien, die es gestatten zu entscheiden, ob jemand zur Menge der Kranken oder der Gesunden gehört. Die gebräuchlichen diagnostischen Systeme DSM und der psychiatrische Teil der ICD sind kategorial und sie kennen solche eindeutigen Kriterien nicht.

Manche meinen, die Polarität “krank – gesund” sei im psychischen Bereich ja auch ein Kontinuum mit gleitenden Übergängen. Dies löst jedoch das Problem nicht, denn auch kontinuierliche Merkmale müssen, um zur wissenschaftlich fundierten Diagnose zu taugen, valide sein. Sie müssen eine Kontinuität zwischen “psychischer Krankheit” und “psychischer Gesundheit” in der Realität widerspiegeln.

Von einem Gerät, das Strahlungsintensität zu messen vorgibt, erwartet man ja auch, dass seine Messwerte mit real existierenden Zuständen in der Natur korrespondieren.

Wenn ich Menschen beobachte, die mehr oder weniger ängstlich erscheinen, so bedeutet dies keineswegs, dass diese Abstufungen ursächlich mit irgendeiner Krankheit zusammenhängen, die unabhängig von der Ängstlichkeit gemessen werden könnte. Es könnte ja durchaus sein, dass die Ängstlichkeit in situativen Bedingungen wurzelt, sich letztinstanzlich also nicht aus Quellen speist, die im jeweiligen Individuum liegen.

Nehmen wir einmal an, ein Gerät funktioniere nur einwandfrei in Höhenlagen bis 1200 Meter. Wenn es in 1300 Meter Höhe nicht mehr solide arbeitet, dann bedeutet dies ja nicht, dass es defekt ist. So ist das auch mit Menschen. Wenn sich diese unter extremen Bedingungen seltsam verhalten, folgt daraus keineswegs, dass sie “psychisch krank” sind.

Wie also ist es möglich, dass die überwiegende Mehrheit nicht nur der Fachleute, sondern der Menschen in der modernen Welt davon überzeugt ist, dass “psychische Krankheiten” real seien, obwohl ein eindeutiger, wissenschaftlich akzeptabler Existenzbeweis bisher offenbar nicht vorliegt?

Weit davon entfernt, eine schlüssige Antwort auf diese Frage geben zu können, möchte ich dennoch eine Hypothese wagen.

Aus der psychologischen Entscheidungstheorie wissen wir, dass der Rahmen, in dem ein Problem präsentiert wird, einen wesentlichen Einfluss darauf hat, welche Lösungen wir dafür sehen (4). Menschen sind aber denkfaul (mehr oder weniger und eher mehr, als weniger). Und deswegen bevorzugen sie enge Rahmen, weil das Denken in solchen weniger anstrengend ist.

Das “medizinische Modell psychischer Krankheiten” ist ein enger Rahmen, weil es die Ursachen “gestörten” Verhaltens und Erlebens im Individuum sucht. Die empirische Psychologie hat demgegenüber einen breiten Rahmen. Sie betrachtet menschliches Verhalten und Erleben als Funktion von Faktoren, die sowohl in der Person, als auch in der Umwelt liegen. Überdies werden zufällige Einflüsse einkalkuliert.

Begegnet uns also ein Mensch, der sich rätselhaft und störend verhält, dann ist es mit weitaus weniger mentaler Anstrengung verbunden zu vermuten, dass bei dem im Dachstüberl etwas nicht stimme, als darüber nachzudenken, wie in diesem speziellen Fall situative Einflüsse und personale Voraussetzungen sowie zufällige Ereignisse miteinander interagieren.

Der medizinisch enge Rahmen vereinfacht auch die Anforderungen im Umgang mit Menschen, die sich rätselhaft und störend benehmen. Die Maßnahmen konzentrieren sich nun vorzugsweise auf das Individuum. Ein Einzelner ist ein wesentlich weniger komplexes Arbeitsfeld als eine Umwelt, die durch die Interaktionen zahlloser Individuen gekennzeichnet und schwerer zu beeinflussen ist oder zu sein scheint.

Wen kümmert es da, dass eventuell die Ursache des Problems gar nicht im Individuum liegt. Wir suchen, getreu der Weisheit Nasreddins, den Schlüssel unter der hellen Laterne und nicht da, wo wir ihn vermutlich verloren haben, im Dunkeln nämlich.

Der enge medizinische Rahmen führt dazu, dass wir “Symptome” sehen, wo es eigentlich nur Phänomene ungeklärter Ursache zu betrachten gibt.

Der enge medizinische Rahmen führt dazu, dass wir “Krankheiten” sehen, obwohl wir nur selektiv Muster des Verhaltens und Erlebens ins Auge gefasst haben, die willkürlich zusammengestellten Konstrukten entsprechen.

Wenn wir die Menschheit mit den psychiatrisch diagnostischen Schemata beispielsweise des späten 19. Jahrhunderts wahrnehmen würden, dann würden wir andere Krankheiten erkennen als mit den heutigen.

Wenn wir die Menschheit mit den religiösen Schemata vergangener Zeiten wahrnehmen würden, dann würden wir womöglich kaum “psychisch Kranke”, sondern eher verhexte oder von Dämonen besessene Menschen erkennen.

Wenn wir die Menschheit mit den Augen eines empirischen Psychologen betrachten, dann sehen wir keine “psychischen Krankheiten”, sondern Korrelationen zwischen Umwelteinflüssen und personalen Faktoren (zu denen auch Zustände des Nervensystems zählen).

Warum glauben dann selbst empirische Psychologen, die, wenn sie den Regeln ihrer Wissenschaft entsprechend arbeiten, keine psychischen Krankheiten sehen, an deren Existenz?

Weil in unserer Kultur der enge medizinische Rahmen ideologisch fest verankert ist und wir ihn daher intuitiv wählen, um passende Phänomene zu deuten, solange wir nicht bewusst und damit angestrengt darüber nachdenken. Derartige Anstrengungen verabscheuen wir schon allein aus Denkfaulheit, aber auch aus Opportunismus. Wer möchte schon gern als Häretiker gelten?

Irgendwie möchte man doch dazugehören.

… die Tatsache, dass wir so und so handeln, z.B. gewisse Handlungen strafen, den Tatbestand so und so feststellen, Befehle geben, Berichte erstatten, Farben beschreiben, uns für die Gefühle der Anderen interessieren. Das Hinzunehmende, Gegebene – könnte man sagen – seien Tatsachen des Lebens / seien Lebensformen / … (5)  

Dies schreibt der Philosoph Ludwig Wittgenstein zur Philosophie der Psychologie. Dass wir Leute, die irgendwie stören, die irgendwie rätselhaft sind, für deren Verhalten es keine “vernünftige” Erklärung gibt, als “psychisch krank” bezeichnen, ist eine Tatsache des Lebens, gehört zu unserer Lebensform, ebenso wie die Konsequenzen, die sich für Betroffene daraus ergeben. Lebensformen müssen nicht gerechtfertigt werden; sie sind, wie sie sind; das reicht.

Denkfaulheit, Opportunismus und Lebensform verführen uns also dazu, den engen medizinischen Rahmen zu wählen. Doch meines Erachtens reicht diese Erklärung noch nicht aus, um die Hartnäckigkeit dieses Schemas verständlich zu machen.

Ein Rahmen, der ganz und gar nicht zur Wirklichkeit passen will, wird naturgemäß immer wieder Widersprüche und Ungereimtheiten produzieren, die schlussendlich zum Nachdenken zwingen.

Das Problem im Fall der so genannten psychisch Kranken besteht aber darin, dass wir sie entweder zu schlecht oder nur zu gut kennen. Wenn es sich um Fremde handelt, dann fehlen uns einfach die konkreten Informationen über ihre Lebensverhältnisse und ihre Biographie aus erster Hand, die den medizinischen Rahmen in Frage stellen könnten.

Sind es aber uns vertraute Leute (Freunde, Verwandte, Lebenspartner etc.), dann ist unser Blick auf sie nicht unvoreingenommen; wir neigen womöglich dazu, Informationen auszublenden, die nicht in den medizinischen Rahmen passen (eventuell auch, um uns nicht selbst zu kompromittieren).

Gäbe es objektive Verfahren, mit denen man die Realität “psychischer Krankheiten” zweifelsfrei belegen könnte, dann könnten nur Verstockte sie bezweifeln. Da es diese Verfahren aber nicht gibt, können nur Verstockte sicher sein, dass “psychische Krankheiten” existieren.

 Anmerkungen

(1) Øiesvold, T. et al. (2013). Diagnosing comorbidity in psychiatric hospital: challenging the validity of administrative registers. BMC Psychiatry 2013, 13:13

(2) Sheehan, D. V. et al. (1998). The Mini-International Neuropsychiatric Interview (M.I.N.I.): the development and validation of a structured diagnostic psychiatric interview for DSM-IV and ICD-10. J Clin Psychiatry. 1998;59 Suppl 20:22-33;quiz 34-57

(3) Kirk, S. A. et al. (2013). Mad Science. Psychiatric Coercion, Diagnosis, and Drugs. New Brunswick, London: Transcation Publishers

(4) Kahnemann, D. (1911). Thinking – Fast and Slow. London: Macmillan

(5) Wittgenstein, L.: Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie, Band I, §630

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