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Automatismus

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Entweder ein Verhalten erfolgt automatisch (Beispiel: Achillessehnenreflex), dann hat man keine Wahl. Hat man aber eine Wahl, dann handelt es sich nicht um ein automatisches Verhalten. Wir Menschen haben fast immer die Wahl. Unser Verhalten beruht weitgehend auf Entscheidungen. Ob diese Entscheidungen Ausdruck eines freien Willens sind oder nicht, ist eine andere Frage.

Daher sind die meisten Verhaltensmuster, die als automatisch eingestuft werden, in Wirklichkeit Gewohnheiten. Gewohnheiten gehen häufig aus bewusst gesteuertem Verhalten hervor, das zur Routine wird und dann kaum noch Aufmerksamkeit erfordert. Doch selbst wenn sich Gewohnheiten nur unbeachtet eingeschliffen haben und gedankenloser Wiederholung geschuldet sind, so haben sie doch zumindest eine, meist aber eine Kette von Entscheidungen zur Voraussetzung.

Wer immer und immer wieder eine Praline einer bestimmten Sorte in den Mund steckt und genießerisch auf der Zunge zergehen lässt, der wird sich mit der Zeit daran gewöhnen. Die wahrscheinliche Konsequenz aber, dass nämlich diese Gewohnheit eventuell schwer zu überwinden ist, hat er sich bei seinen vielen Entscheidungen, eine Praline dieser Sorte zu essen, nicht bewusst gemacht. Dennoch hat er eine Gewohnheit ausgeprägt, die ohne diese Entscheidungen nicht zustande gekommen wäre.

Es gibt Gewohnheiten des Wahrnehmens, des Fühlens, des Denkens, des Verhaltens, kurz: jede erdenkliche Lebensäußerung, die nicht allzu komplex und schwierig auszuüben ist, kann zur Gewohnheit werden.

Dies gilt natürlich auch für die so genannten psychischen Krankheiten, die nichts anderes als Gewohnheiten in vollster Blüte sind. Selbstverständlich sind die “psychisch Kranken” in der Regel keine Simulanten. Sie würden Stein auf Bein schwören, dass sie für ihre “Symptome” nichts könnten. Aber bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass sie durchaus viele, viele kleine Entscheidungen gefällt haben, die zu ihren “Symptomen” führten, ohne dass sie sich dies dabei bewusst gemacht hätten.

Wer sich beispielsweise dazu entschließt, seine Wut zu unterdrücken, weil er sich vor den Konsequenzen ihres Auslebens fürchtet, der darf sich nicht wundern, wenn er früher oder später unter Gemütsverstimmungen leidet. Denn schlussendlich sind unterdrückte Wut und Gemütsverstimmungen ja nur zwei Seiten einer Medaille. Beim “Depressiven” ist das Unterdrücken von Wut zur Gewohnheit geworden.

Man könnte alle erdenklichen so genannten psychischen Krankheiten in dieser Weise durchdeklinieren und würde zu demselben Ergebnis kommen. Dies überlasse ich der Fantasie des Lesers.

In aller Regel entziehen sich die Gewohnheiten, unter denen der “psychisch Kranke” leidet, der Reflexion des Betroffenen. Er fühlt sich seinen “Symptomen” hilflos ausgeliefert und wähnt, dass ihnen ein Mechanismus, der sich seiner Kontrolle entziehe, zugrunde liege.

In diesem Glauben wird er natürlich durch die Psychiatrie verstärkt, die sich für diesen eingebildeten Mechanismus zuständig fühlt und ihr Einkommen damit generiert. Dieser Mechanismus aber ist keine Fehlfunktion des Gehirns, sondern eine Gewohnheit, die der Mensch ausgebildet hat, um sein Leben zu bewältigen. Sie haben sich ohne oder am Rande seiner Aufmerksamkeit entwickelt und darum hat er auch nicht gelernt, diese Verhaltensweisen bewusst zu kontrollieren.

Alles, was er zu tun hätte, wäre, sich dazu zu entscheiden, diesen Gewohnheiten seine volle Aufmerksamkeit zu widmen und beharrlich, in einem mitunter mühevollen Prozess, die Kontrolle zurückzuerobern. Besser wäre es natürlich, die eigenartigen Verhaltensweisen, die von der Psychiatrie als “Symptome” einer “psychischen Krankheit” gedeutet werden, gar nicht erst zur Gewohnheit werden zu lassen.

Doch leider strömen häufig viel mehr Reize auf uns ein, als unser Bewusstsein zu meistern vermag. Schon allein deswegen entstehen beinahe zwangsläufig manche Gewohnheiten, die wir, sobald sich ihre unerwünschten Konsequenzen zeigen, am liebsten schnell wieder loswürden.

Hat sich eine Gewohnheit erst einmal gebildet, so erscheint sie oftmals als die beste aller Verhaltensalternativen, die dem betroffenen Menschen in seiner Situation zur Verfügung stehen. Dies muss objektiv nicht der Fall sein. Es mag Alternativen geben, die den eigenen Zielen besser dienen würden. Aber wer vermag seine Situation schon immer objektiv einzuschätzen?

Es ist daher häufig durchaus nützlich, mit guten Freunden über eigene Gewohnheiten zu sprechen, nicht erst, wenn diese Sorgen machen. Die Außenperspektive kann ein wertvolles Korrektiv sein. Je besser sich ein solcher Freund in die eigene Lebenssituation hineinversetzen kann, desto bedenkenswerter werden seine Sichtweisen sein.

Ein Arzt aber, der diese problematischen Gewohnheiten als Ausdruck einer “psychischen Krankheit” deutet, die auf einer Hirnstörung beruht, ist natürlich keine Hilfe. Im Gegenteil: Die Alternative zur störenden Gewohnheit, muss ja im Alltag des Betroffenen gesucht werden, und nicht in dessen Gehirn. Die Frage lautet: Welche nützliche Gewohnheit soll an die Stelle der schädlichen treten?

Der gewohnheitsmäßig “Depressive” könnte sich beispielsweise fragen: “Wie soll ich gewohnheitsmäßig meine Wut ausleben, ohne mir damit selbst ein Bein zu stellen?” Mit ein wenig Fantasie wird man viele schöne Möglichkeiten dazu entdecken,  die besser sind, als sich selbst zu deprimieren.

Der gewohnheitsmäßig “Schizophrene” könnte sich beispielsweise fragen: “Wie kann ich meine persönlichen Niederlagen gewohnheitsmäßig besser verarbeiten als durch die Idee, die Außerirdischen, die Illuminaten oder der böse Nachbar seien daran schuld?”

Wir Menschen haben fast immer die Wahl. Allerdings gibt es mitunter leider nur mehr oder weniger schlechte Alternativen. In diesen Fällen liegt es nahe, die beste der schlechten zu wählen und sich ansonsten mit der Gewissheit zu trösten, dass niemand gezwungen ist, sich wegen seiner Lebenssituation zu grämen, so miserabel diese auch immer erscheinen mag. Man kann auch, da einen ja doch der Kater frisst, wie Wilhelm Buschs Vöglein, schnell noch ein Liedlein tirilieren oder wie Martin Luther angesichts des gewissen Weltuntergangs ein Bäumlein pflanzen.

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