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Psychose

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Ein Urnen-Modell: Eine Urne mit schwarzen und weißen Kugeln. Fritz. Paul.

Fritz zieht Kugeln aus der Urne. Er legt sie jeweils auf den Tisch. Paul notiert die Farbe in einer Strichliste. Fritz legt sie in die Urne zurück. Die Kugeln werden gemischt. Fritz zieht erneut eine Kugel. Nach hundert Ziehungen zeigt die Strichliste, das 70 Prozent der Kugeln schwarz waren.

Paul soll schätzen, wie viele Kugeln schwarz sein werden, wenn Fritz noch einmal nach dem beschriebenen Procedere 100 Kugeln aus der Urne zieht. Er prognostiziert 70 Prozent. Es stellt sich heraus, dass es diesmal 69 waren. Dies liegt im Rahmen der Erwartungen, denn schließlich handelt es sich um einen Zufallsprozess, dessen Ergebnisse nicht exakt vorhergesagt werden können.

Fritz zieht erneut eine Kugel, zeigt sie Paul aber nicht, sondern steckt sie in die Tasche. Paul soll raten, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass es sich dabei um eine schwarze Kugel handelt. Er schätzt: 70 Prozent.

Doch das kann nicht sein. Entweder hat Fritz eine schwarze Kugel in der Tasche, dann ist die Wahrscheinlichkeit einer schwarzen Kugel 100 Prozent; oder Fritz kann eine weiße Kugel in der Tasche, dann ist die Wahrscheinlichkeit einer schwarzen Kugel 0 Prozent. Er hat nie und nimmer eine schwarze Kugel mit siebzigprozentiger Wahrscheinlichkeit in der Tasche.

Fritz und Paul gehen durch einen Wald. Es ist früh am Morgen, weit und breit ist kein Mensch zu sehen. Fritz behauptet, er habe eine Stimme gehört. Paul sagt, es gäbe niemandem außer ihm, der gesprochen haben könnte, und er, Paul, habe nichts gesagt.

Fritz aber beharrt darauf, eine Stimme wahrgenommen zu haben. Er habe sich die Stimme nicht eingebildet, sie komme nicht aus seinem Inneren, sondern sie hätte ihren Ursprung in der Außenwelt gehabt.

Paul soll raten, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass Fritz tatsächlich eine Stimme mit Ursprung in der Außenwelt gehört hat.

Entweder die Stimme stammte tatsächlich aus der Außenwelt, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie aus der Außenwelt stammte, naturgemäß 100 Prozent, sonst eben 0 Prozent. Da beißt die Maus keinen Faden ab.

Fritz und Paul gehen in der Folge öfters gemeinsam durch einsame Wälder und immer wieder dasselbe Spiel: Fritz hört Stimmen, schwört Stein auf Bein, dass sie aus der Außenwelt stammten, Paul aber hört sie nicht und ist sich mit der Zeit sicher, dass Fritz unter einer Psychose litte. Die Wahrscheinlichkeit, dass Fritz halluziniere, weiche allenfalls theoretisch von einem Wert von 100 Prozent ab.

Setzen wir Stimme aus der Außenwelt mit “schwarzer Kugel” und halluzinierte Stimme mit “weißer Kugel” gleich. Paul prognostiziert also: Wenn ich mit Fritz durch einsame Wälder streife und er hört eine Stimme, die ich nicht höre, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um eine halluzinierte Stimme handelt, nur noch theoretisch von 100 Prozent verschieden. Fritz, so meint Paul, solle sich von einem Psychiater untersuchen lassen; es gäbe gute Medikamente gegen solche Anwandlungen.

Gibt es ein Urnen-Modell für diese Prognose? Wohl kaum. Kann Paul seine Schätzung auf beobachte relative Häufigkeiten von Ereignissen stützen? Wohl kaum. Und selbst wenn er es könnte: Hätte Fritz soeben eine Stimme gehört, dann wäre sie entweder mit 100-prozentiger Wahrscheinlichkeit eine Halluzination oder mit 0-prozentiger Wahrscheinlichkeit eine Halluzination.

Er hätte entweder eine schwarze oder eine weiße Kugel in der Tasche, und keineswegs eine Kugel, die mit x-prozentiger Wahrscheinlichkeit schwarz ist. Man kann objektiv keine Wahrscheinlichkeit angeben, mit der das Entweder bzw. das Oder im Einzelfall zutrifft.

Beispiel: Leute mit IQ über 100 bestehen die Prüfung X mit 70-prozentiger Wahrscheinlichkeit. Fritz hat einen IQ über 100. Wird er die Prüfung X mit 70-prozentiger Wahrscheinlichkeit bestehen? Nein: Er besteht sie oder er besteht sie nicht. Eine Vorhersage für Fritz ist nicht möglich. Wir können allenfalls prognostizieren, dass 70 von 100 Leuten mit einem IQ über 100 die Prüfung X bestehen werden; über Fritz, den Einzelfall ist damit nichts gesagt (er könnte beispielsweise mit Sicherheit durchfallen, weil die Prüfer Psychotiker nicht mögen).

Das hervorstechende Merkmal einer Psychose besteht darin, dass subjektive Wahrscheinlichkeitsverteilungen des Psychotikers von denen seiner Mitmenschen abweichen. Der Psychotiker stellt Gewissheiten seiner Mitmenschen in Frage. Ebenso wie die Mitmenschen verunsichert werden, weil der Psychotiker ihre Gewissheiten bezweifelt, wird der Psychotiker durch seine Abweichung von den Gewissheiten seiner Mitmenschen verunsichert.

Üblicherweise versteifen sich Psychotiker und Mitmenschen auf ihre jeweiligen Gewissheiten, bei denen es sich in aller Regel jedoch auf beiden Seiten um subjektive Wahrscheinlichkeitsschätzungen handelt.

Die Mitmenschen berufen sich gegenüber dem Psychotiker darauf, dass die überwältigende Mehrheit aller Menschen sich von denselben Gewissheiten leiten ließe wie sie und dass daher das Denken des Psychotikers auf falschen Gewissheiten beruhe, wohingegen sie wahren Gewissheiten folgten.

Mit einer solchen überwältigenden Mehrheit im Rücken fühlen sich die Mitmenschen mitunter sogar berechtigt, dem Psychotiker Gewalt anzutun, ihn einzusperren, weil sie sich gewiss sind, dass der Psychotiker “psychisch krank” und für sich oder andere gefährlich sei.

Da man aber “psychische Krankheiten” nicht mit objektiven Methoden diagnostizieren und Gefährlichkeit treffsicher prognostizieren kann, fußen auch derartige Gewissheiten auf subjektiven Wahrscheinlichkeitsschätzungen.

Dies jedoch tangiert die Mitmenschen nicht weiter, weil sie sich in der Mehrheit wissen, und diese Mehrheit, so heißt es, sei überwältigend; jeder vernünftige Mensch denke so wie sie.

Und überhaupt, so wird mitunter behauptet, habe all dies mit Wahrscheinlichkeiten gar nichts zu tun, denn was der Psychotiker glaube, sei “logisch unmöglich”. Ist das wirklich so?

Ein Beispiel:

  • Alle Menschen haben drei Beine.
  • Paul ist ein Mensch.
  • Also hat Paul drei Beine.

Diese Schlussfolgerung klingt ziemlich verrückt, ist aber logisch einwandfrei, mehr noch: Sie ist die einzig Mögliche und Richtige. Die Wahrheit eines logischen Schlusses wird nämlich durch die logische Form gesichert und sie ist unabhängig von der Wahrheit der verknüpften Prämissen. Fritz behauptet nicht nur Stimmen zu hören, die Paul beim besten Willen nicht wahrzunehmen vermag, sondern er unterstellt ihm auch, drei Beine zu besitzen.

Paul kann das dritte Bein bei sich allerdings nicht erkennen. Fritz erklärt dies mit seinen “sehr feinen Augen”, die es ihm ermöglichten, dass dritte Bein bei allen Menschen wahrzunehmen. Zwar hätten manche Menschen weniger Beine, aber sei dann die Folge einer Amputation oder eines Geburtsfehlers. Man mag dies für verrückt halten, unlogisch ist es jedoch nicht zwingend.

Wir leben in einer verrätselten Welt, und der größte Teil dessen, was wir sicher zu wissen wähnen, beruht auf Glauben. Unsere Gewissheiten stehen auf tönernen Füßen und deswegen schließen wir uns eng zu Glaubensgemeinschaften zusammen, um einander angesichts des schwankenden Grundes den Rücken zu stärken.

Psychotiker gefährden diesen Zusammenhalt; sie sind subversiv. Wenn wir noch bei Trost sind, wissen wir auch, dass man über die Wahrheit nicht abstimmen und das ein Einzelner gegenüber der Mehrheit recht haben kann. Doch dieses insgeheime Wissen verbessert die Lage des Psychotikers nicht.

Gewissheiten, die von Gemeinschaften getragen werden, wurzeln zumeist in Traditionen. Traditionen sind Handlungsmuster, Überzeugungen, Glaubensvorstellungen, die in den Schmieden der Geschichte gehärtet wurden. Wer sich nicht in Traditionen einzuordnen vermag, verliert leicht den Wurzelgrund in der Gemeinschaft.

Es gibt in aufgeklärten, modernen, demokratischen und rechtsstaatlichen Gesellschaften aber auch eine Tradition des Minderheitenschutzes, der Toleranz und der Bereitschaft, jeden nach seiner Fasson selig werden zu lassen. Daran sollten wir uns erinnern, wenn uns ein Psychotiker begegnet.

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