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Sprachlos

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Der Gefreite hatte an mehreren Schlachten des 1. Weltkriegs teilgenommen. Eines Tages, aus heiterem Himmel, jenseits der Front, sank er bewusstlos nieder – und war stumm. Eine organische Ursache für den Verlust seines Sprechvermögens konnte nicht festgestellt werden. Die Schrecken des Krieges hatten ihn offenbar sprachlos gemacht.

Was wurde nicht alles versucht, um ihn zu behandeln! Er wurde an einen Stuhl gefesselt und mit starken elektrischen Strömen an seinem Nacken und seiner Kehle traktiert. Mit entzündeten Zigaretten wurde seine Zungenspitze verbrannt. Heiße Platten wurden in seinen Mund geschoben. Nichts wollte fruchten. Die Schrecken des Krieges hatten ihn offenbar sprachlos gemacht.

Als hoffnungsloser Fall kam er schließlich zu Lewis R. Yealland, dessen Buch “The Hysterical Disorders of Warfare” ich den Fortgang seiner nun folgenden “Therapie” entnehme. Diese Schrift wurde 1920 veröffentlicht.

Lewis Ralph Yealland war ein kanadischer Arzt, der während des 1. Weltkriegs in Großbritannien praktizierte. Er betrachtete den so genannten “Shell Shock” nicht als physische Krankheit, sondern als Ausdruck eines Mangels an Disziplin und Pflichtbewusstsein. Die betroffenen Soldaten wurden taub, blind, lahm und prägten die absonderlichsten körperlichen Symptome aus, ohne dass sich dafür eine medizinische Ursache finden ließ oder auch nur plausibel war.

Yealland fragte den Gefreiten, ob er geheilt werden wolle. Ein gleichgültiges Lächeln war die Antwort. Der Arzt wies ihn darauf hin, dass er Frau und ein Kind zu Hause habe, dass es seine Pflicht sei, an seiner Heilung mitzuwirken, dass er unentschlossen wirke, dass man sich dies in Zeiten wie diesen aber nicht leisten könne.

Er habe schon einige Patienten seiner Sorte behandelt. Darunter gebe es zwei Typen. Die einen wollten geheilt werden und die anderen wollten nicht geheilt werden. Er wirke so, als ob er der zweiten Gruppe angehöre. Doch es sei im Grunde unerheblich, zu welcher Gruppe er zähle. Er, Yealland mache da keinen Unterschied. Der Gefreite müsse sofort von seiner Stummheit geheilt werden.

Daraufhin verließ der Arzt den Soldaten, der nun einen deprimierten Eindruck machte. Die Schrecken des Krieges hatten den Gefreiten sprachlos gemacht.

Am Abend wurde der Gefreite in den “elektrischen Raum” gebracht. Die Fensterläden waren geschlossen. Das Deckenlicht war ausgeschaltet. Die einzig sichtbare  Lichtquelle waren die Kontrollleuchten der Batterie. Yealland befestigte eine Elektrode im Lendenwirbelbereich seines Patienten und in führte die andere in seinen Rachen ein. Der Mund des Soldaten wurde durch einen Zungendrücker offen gehalten. Yealland sagte: “Sie werden diesen Raum nicht verlassen, bevor Sie wieder genau so gut sprechen, wie Sie es immer taten. Nein, vorher nicht.”

Yealland elektrisierte den Mann mit einem starken Stromstoß. Der Soldat sprang auf und riss dabei die Drähte aus der Batterie. “Erinnern Sie sich daran”, sagte der Arzt zu ihm, “dass Sie sich sich wie der Held verhalten müssen, der zu sein ich von Ihnen erwarte. Ein Mann, der durch so viele Schlachten gegangen ist, sollte sich besser kontrollieren können als Sie.”

Daraufhin brachte Yealland den Soldaten in eine Postion, aus der er sich nicht mehr befreien konnte und sprach also: “Sie müssen reden, bevor Sie mich verlassen!”

Yealland faradisierte ihn nun mehr oder weniger kontinuierlich mit einem etwas schwächeren Strom, während er folgende Worte beständig wiederholte: “Nicken Sie mit dem Kopf, wenn sie zu einem Sprechversuch bereit sind.”

Diese Prozedur wurde, mit einigen Unterbrechungen, rund eine Stunde beibehalten. Am Ende dieses Zeitraums konnte der Soldat “ah” flüstern. Yealland fragte ihn, ob er nicht selbst bemerke, dass dies ein Fortschritt sei. Wenn er es vernünftig bedenke, dann werde er ihm schon glauben, dass er schon bald wieder sprechen könne.

Yealland fuhr mit der elektrischen Behandlung für etwa eine halbe Stunde fort. Er ermunterte ihn dabei, “ah”, “bah” oder “cah” zu sagen, doch der Soldat wiederholte nur “ah”.

Schließlich ermüdete der Soldat und Yealland fordert ihn deshalb auf, mit ihm im Zimmer auf und ab zu gehen. Währenddessen hielt er ihn an, Vokale zu sprechen. Der Soldat verlor mit der Zeit vollends seinen Mut und versuchte, den “elektrischen Raum” zu verlassen. Doch Yealland wies ihn darauf hin, dass sich für ihn die Tür erst öffnen würde, wenn er geheilt sei; und er, Yealland, sei bereit, länger mit ihm zu verweilen als der Gefreite mit seinem Arzt. “I am prepared to stay with you. Do you understand me?”

Diese unmissverständliche Ansage verfehlte ihre Wirkung nicht. Der Mann zeigte auf den elektrischen Apparat und auf seine Kehle. Yealland aber beschied ihm, dass er keine Vorschläge zu machen habe. Er werde die Elektrizität erhalten, wenn Yealland dies für nötig erachte, ob der Gefreite damit einverstanden sei oder nicht.

Obwohl Yealland eigentlich mit der Elektrisierung fortfahren wollte, entschied er sich, weiter mit ihm auf- und abzugehen, um ihm zu zeigen, wer der Herr im Hause sei. Obwohl sich der Gefreite gewaltig Mühe gab, unterschiedliche Laute zu äußern, brachte er nicht mehr als ein “Ah” hervor.

Der Gefreite musste sich wieder auf seinen Stuhl setzen; die Elektroden wurden befestigt. Yealland sagte: “Sie sind nun bereit für die nächste Stufe der Behandlung. Ich werde ihnen starke Stromstöße an Ihrem Nacken geben, und diese werden sich auf ihren Kehlkopf übertragen, und schon bald werden Sie, alles was Sie sagen wollen, flüstern können.

Nach jedem Elektroschock forderte der Arzt seinen Patienten auf, “ah”, “bah”, “cah”, “dah” zu sagen. Schließlich begann der Soldat zu weinen und sagte stammelnd: Ich hätte gern ein Glas Wasser.”

Er könne ein Glas Wasser haben, aber erst, wenn er normal sprechen könne. Der Soldat versuchte erneut, den Raum zu verlassen.

Er sei ein Held, der gewaltige Fortschritte gemacht habe, und sein Wunsch, den Raum vor der endgültigen Heilung zu verlassen, entspräche nicht seinem wahren Selbst, sagte der Arzt.

Nach einigem Hin und Her mit ständigem Wechsel von Elektrisierung und Sprechversuchen, sagte Yealland schließlich: “Es wird spät. Ich werde wohl eine noch stärkere Spannung wählen müssen. Ich möchte Sie nicht gern verletzen, doch, wenn es erforderlich ist, dann muss ich es wohl tun.”

Yealland fuhr mit seiner Behandlung fort, und als der Soldat erneut Anstalten machte, den Raum zu verlassen, sagte er: “Es gibt keinen Weg nach draußen, es sei denn, Ihre Stimme kehrt zurück und durch die Tür. Sie haben einen Schlüssel, ich habe den anderen. Wenn Sie richtig sprechen, öffne ich die Tür und Sie können ins Bett gehen.”

“Ich glaube, Sie haben beide Schlüssel. Machen Sie weiter und bringen Sie es zu Ende”, stammelte der Soldat.

Der Strom, antwortete der Arzt, habe schon gute Arbeit geleistet, aber der Gefreite verkrampfe sich noch zu sehr. Er müsse also noch stärkeren Strom einsetzen. Dann werde er schon bald richtig sprechen können. Der Arzt elektrisierte seinen Patienten nunmehr mit extrem starkem Strom. Nach etwa zehn Minuten konnte der Soldat sprechen, ohne auch nur geringfügig zu stammeln. Daraufhin wurde mit nämlicher Methode das Armzittern des Gefreiten erfolgreich behandelt.

Nein, hier habe ich kein Kapitel aus einem schlechten Horror-Roman nacherzählt, sondern aus einem medizinischen Lehrbuch referiert. Yealland war keineswegs ein Außenseiter seines Fachs. Die von ihm beschriebene Methode der Behandlung von “Kriegshysterikern” war während der beiden Weltkriege allgemein üblich, weltweit.

In den Archiven der Bibliotheken finden sich zahlreiche Fachbüchern mit Fallgeschichten, die den Erfolg dieser Suggestivverfahren mit starken elektrischen Strömen dokumentieren. Auch wenn damals randomisierte Therapie-Experimente mit Kontrollgruppen noch nicht üblich waren, habe ich doch keinen Zweifel daran, dass die Ärzte mit diesen rabiaten Methoden durchaus Erfolg hatten und effektiver waren als ihre Kollegen, die sanftere Verfahren anwendeten.

Diese Verfahren wurden nämlich in einem militärischen Rahmen eingesetzt. Die militärischen Vorgesetzten hatten also einen guten Überblick darüber, was mit den so oder anders behandelten Soldaten geschah. Sie konnten feststellen, ob sie an die Front zurückkehren konnten oder nicht, ob sie in der Rüstungsindustrie eingesetzt werden konnten oder nicht, ob sie hinterher Behindertenrente beantragten oder nicht. Dass diese Verfahren weltweit angewendet wurden, unter diesen Bedingungen, spricht dafür, dass sie im Sinne der Militärs funktionierten.

Der Österreicher Wilhelm Neutra behandelte ebenfalls im 1. Weltkrieg “Kriegsneurotiker”. Hierzu schreibt er in seinem Buch “Seelenmechanik und Hysterie”:

“Ein hysterisch Gelähmter mit kompletter Astasie-Abasie (1) möchte zwar seinem präsidialbewussten Willen entsprechend wieder gesund sein; seine innere Heilbereitschaft sei aber, nehmen wir an, viel zu gering, um durch irgendein Suggestivmittel zur Gesundheit zu führen. Der Kranke wird deshalb der Schmerzbehandlung unterzogen, um seine Qualen zu vermehren, die eben an sich absolut nicht ausreichen, um eine genügende Expansion des Gesundungstriebes zu erzeugen. Seine Beine werden also mit dem faradischen Pinsel bearbeitet. Zunächst liegt der Patient dabei ganz ruhig und außer den durch den elektrischen Strom ausgelösten Muskelzuckungen tritt keine aktive Bewegung in die Erscheinung. Die Heilbereitschaft besteht noch nicht. Würde man in diesem Stadium den Patienten auf die Beine stellen, so wäre er immer noch vollkommen unfähig, auch nur einen Augenblick zu stehen.
Wir verstärken den Strom und damit die Schmerzempfindung. Der Patient zeigt nun mimische Schmerzäußerungen, verzieht das Gesicht und beginnt ev. zu weinen. Gleichzeitig krampft er aktiv irgendwelche Muskeln der Beine zusammen, auch solche, die, nicht vom elektrischen Strome getroffen, sich nicht passiv kontrahieren. Die Heilbereitschaft wird rege und erzeugt immer wieder aktive Beinbewegungen, sobald der Schmerz durch den elektrischen Pinsel einsetzt. Aus der Tiefe der völlig unbewussten Schmerzreaktion taucht die Bewegungsmöglichkeit ins Halbbewusstsein empor. Aber dieser Grad reicht noch immer nicht aus und es wäre verfehlt, es dabei bewenden zu lassen. In diesem Stadium würde das Maximum des Erfolges darin bestehen, dass schon die Angst vor dem neuerlichen Elektrisieren die Beinbewegungen ermöglicht, aber ein Stehen oder sogar Gehen wäre noch vollkommen ausgeschlossen. Um den Erfolg rasch zu komplettieren, wird der Strom neuerdings verstärkt.
Die mimischen Schmerzäußerungen oder das Weinen verwandelt sich in Zorn und Raserei. Der Patient wehrt sich aus Leibeskräften, um sich der Qual zu entziehen. Die Kaltblütigkeit des Arztes, der sine ira zielbewusst weiterarbeitet, und die Handfestigkeit seiner Gehilfen, die dem Patienten die Unzulänglichkeit seiner Fluchtversuche beweist, steigert endlich die Heilbereitschaft bis zu einer solchen Expansion, dass die Steh- und Gehfähigkeit eintritt. Aber noch ist das therapeutische Martyrium gewöhnlich nicht zu Ende. Während früher nur die Befreiung von der Qual erstrebt wurde, ist in diesem Zeitpunkte oft nur die grobe Funktionsstörung gewichen, die volle Heilung jedoch noch nicht erzielt.
Der Patient kann jetzt wohl stehen und gehen, aber sein Gang ist ungelenk, unelastisch, unkoordiniert. Die Heilbereitschaft der Hysterie begnügt sich damit nicht bloß, sondern strebt geradezu nur eine derartige Besserung des Zustandes an, als notwendig ist, um die Lustbilanz aktiv zu machen. Wir müssen uns eben nur daran erinnern, dass die Hysterie psychenergetisch ein Ziel des Lusttriebes und ein Werk der in seinem Dienste stehenden Krankheitsbereitschaft sei. Um nicht auf halbem Wege stehen zu bleiben, setzt nun der Arzt seine Folterarbeit fort, bis endlich der Lusttrieb, diesmal aber in seiner Verkleidung als Heilbereitschaft sich in die Gesundheit flüchtet, die unter den gegebenen Umständen einzig und allein die Qualfreiheit verbürgt.”

Wie sind die beeindruckenden Resultate solch ärztlicher Bemühungen zu erklären? Die einfachste Antwort auf diese Frage lautet: Es handelt sich bei diesen Verhaltensmustern, die Gegenstand der “Therapie” sind, keineswegs um “psychische Krankheiten” und es handelt sich bei diesen “Therapien” auch nicht um Heilbehandlungen im medizinischen Sinn.

Diese “Kriegshysterien” sind vielmehr Ausdruck eines inneren Konflikts: Einerseits möchte der “Erkrankte” seine Haut retten und der Front entkommen, andererseits aber möchte er auch sein Gesicht wahren, nicht als Feigling und Schlappschwanz dastehen  und auch nicht wegen Simulation vor dem Kriegsgericht landen. Es ist daher gut verständlich, wenn der “Erkrankte” tief von der Überzeugung durchdrungen ist, tatsächlich krank zu sein.

Der Militärarzt wird ebenso von einem inneren Konflikt motiviert. Einerseits will er, seiner militärischen Aufgabe entsprechend, die Soldaten wieder fronttauglich machen, wohl wissend, dass jeder halbwegs normale Mensch diesem Grauen lieber entkommen möchte, andererseits aber möchte er nicht als Folterer dastehen, der Menschen am Rande ihrer Kräfte mit grausamen Maßnahmen vor die Gewehre des Feindes treibt.

Der Kompromiss im Konflikt des Soldaten ist die “Krankheit”, der Kompromiss im Konflikt des Arztes ist die “Therapie”.

Ich glaube nicht, dass sich derartige Inszenierungen von “Krankheit”, “Behandlung” und “Heilung” auf den militärischen Bereich beschränken. Solche Inszenierungen liegen immer nahe, wenn “Krankheit” die beste aller Möglichkeiten als Ausweg aus einer unerträglichen Situation zu sein scheint.

Die Brutalität der geschilderten militärpsychiatrischen Maßnahmen macht uns sprachlos. Erst wenn man die Worte wiederfindet, wird man sagen können, was gesagt werden muss: Das Leben ist brutal, nicht nur im Krieg – und der menschliche Geist ist erfinderisch, auch wenn die Resultate dieses Erfindergeistes nicht immer glanzvoll sind.

Anmerkung

(1) Unfähigkeit zu stehen und zu gehen, obwohl im Sitzen und Liegen alle Beinbewegungen ausgeführt werden können.

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