Halluzinationen und Wahn
Halluzinationen sind ein Charakteristikum von Psychosen. Das deutsche Wort lautet: Trugwahrnehmungen. Menschen hören etwas, wo es nichts zu hören gibt. Sie sehen etwas, wo es nichts zu sehen gibt. Sie nehmen die Wirklichkeit falsch wahr. Dies klingt selbstverständlich. Aus Sicht einer Philosophie der Psychiatrie ist ein solcher Klang allerdings ein Grund zum Nachdenken.
Ein Patient berichtet seinem Psychiater, dass er Stimmen höre, die seine Träume hämisch kommentierten. Er schrecke wegen dieser Stimmen nachts oft aus dem Schlaf auf. Der Psychiater fragt seinen Patienten, ob seine Frau diese Stimmen ebenfalls höre. Dies ist aber nach dem Bekunden des Patienten nicht der Fall; auch sonst höre sie niemand; nichtsdestotrotz höre er Stimmen, die sich geringschätzig darüber äußerten, was er soeben geträumt habe.
Dem Leser wird der geschilderte Sachstand vermutlich genügen, um zu dem Urteil zu gelangen, dass der Patient halluziniere und zudem an dem Wahn leide, andere kennten den Inhalt seiner Träume, ohne von ihm über diesen informiert worden zu sein. Dies ist schließlich auch eine Meinung, die sich dem “gesunden Menschenverstand” aufdrängt. Der Patient allerdings ist gegenteiliger Meinung. Er ist sich sicher, dass die Stimmen real seien und dass er nicht spinne. Warum seine Frau sie nicht höre, könne er sich nicht erklären; sie schlafe zwar sehr fest, aber die Stimmen seien recht laut, sie müsse von ihnen eigentlich aufwachen.
Der verständige Leser wird auf Nachfragen vielleicht einräumen, es sei natürlich nicht völlig auszuschließen, dass die Meinung des Patienten tatsächlich zuträfe. Es gäbe, so heißt es dann vielleicht, bekanntlich viele Dinge zwischen Himmel und Erde, die unser Menschenverstand nicht zu ermessen vermöge. Die Wahrscheinlichkeit, dass andere wirklich die Träume des Patienten auf außersinnlichem Wege wahrnehmen und ihre Gedanken unter Umgehung des Gehörs direkt ins Gehirn des Patienten projizieren könnten, sei jedoch nun einmal sehr, sehr gering.
Rationale Agenten
Dem Leser, der als ein solcher nicht in der Verpflichtung steht, ein rationaler Agent zu sein, sondern der sich schierer Meinung hingeben darf, seien ebenso seine stillschweigenden Voraussetzungen, von denen im geschilderten Sachstand nicht die Rede war, wie auch seine subjektive Wahrscheinlichkeitsschätzung nachgesehen.
Allein, ein rationaler Agent hätte die Menge von Aussagen über die Welt zu benennen, auf denen der Grad seiner Gewissheit, also seine Wahrscheinlichkeitsschätzung beruht. Er müsste, um als rational gelten zu dürfen, einerseits die relevante Menge der Aussagen über die Welt als wahr rechtfertigen können und andererseits zu zeigen in der Lage sein, dass sein Grad der Gewissheit zwingend aus diesen Aussagen folgt.
Denn wie sonst sollten wir die Meinung des Psychiaters als die der Meinung seines Patienten überlegene deuten, wenn sich nicht der Psychiater bei seiner Meinungsbildung als rationaler Agent erweisen würde, so dass die konträre Meinung des Patienten entsprechend als irrational begriffen werden müsste. Ansonsten stünde ja eine unbegründete Meinung gegen eine andere unbegründete Meinung; und nur Autorität und schlussendlich Gewalt könnten entscheiden, wer “Recht” hat.
Es könnte natürlich sein, dass eine Störung im Nervensystem, ein Automatismus im Gehirn die Trugwahrnehmung und die Wahnvorstellung hervorruft. Getreu seiner professionellen Verpflichtung, als rationaler Agent zu walten, lässt der Psychiater seinen Patienten nicht nur auf Herz und Nieren, sondern auch auf Hirnstörungen untersuchen; allein, “etwas Organisches” kann nicht festgestellt werden.
Aus Sicht des Psychiaters liegt nunmehr die Diagnose einer Schizophrenie nahe; allerdings stellt sich die Frage, ob es auch eine Menge wahrer Aussagen über die Welt gibt, mit denen die Hypothese der Trugwahrnehmung und Wahnvorstellung erhärtet werden kann.
Die Gegenthese, die der Patient vertritt, lautet ja: Es gibt objektiv eine Möglichkeit, die Inhalte der Träume des Patienten zu erfahren, ohne ihn deswegen befragen zu müssen, und es gibt objektiv eine Möglichkeit, ihn Stimmen hören zu lassen, die seine Träume kommentieren, ohne dass deswegen seine Frau bekunden müsste, diese Stimmen ebenfalls zu hören.
Gesucht wird also eine Menge von wahren Aussagen über die Welt, die der These des Psychiaters zwingend eine größere Gewissheit zuordnen als der Gegenthese des Patienten.
Ein Kandidat für eine Aussage dieser Art wäre beispielsweise der Satz: Es ist ausgeschlossen, dass andere einen Traum, ohne den Träumer nach dem Aufwachen zu befragen, “lesen” können. Allein, hier stellt sich die Frage, ob es sich bei diesem Satz um einen wahren handele oder zumindest um einen, der im Licht empirischer Befunde, also nach menschlichem Ermessen, als wahr eingestuft werden könne. Eine Studie von Horikawa und Mitarbeitern beispielsweise lässt allerdings und zumindest Zweifel an der Wahrheit dieses Satzes aufkommen (1).
Es geht hier nicht darum, ob man sich vorstellen kann, dass der Patient tatsächlich Opfer einer Hightech-Attacke wurde, sondern es geht darum, ob es gelingen kann, dies auf Basis einer zweifelsfreien Mengen von Sätzen über die Welt auszuschließen. Denn wenn vor Gericht gilt, dass im Zweifel für den Angeklagten zu urteilen sei, so sollte dies im übertragenen Sinne doch wohl auch für den Patienten gelten.
Eine Frage der Logik
Solche Überlegungen, ob nun philosophisch gerechtfertigt oder nicht, so wird der Leser nunmehr einwenden, entbehrten vollends praktischer Relevanz. Über das Verhältnis von Philosophie, empirischer Forschung und Praxis kann man sicher streiten; dass aber die Praxis den Regeln der Logik enthoben sei, will mir so recht nicht einleuchten.
John Maynard Keynes war nicht nur ein bedeutender Wirtschaftswissenschaftler, sondern auch Mathematiker, und seine Abhandlung über die Theorie der Wahrscheinlichkeit ist einer der Meilensteine der Forschung in diesem Bereich. Keynes schreibt:
“But in the sense important to logic, probability is not subjective. It is not, that is to say, subject to human caprice. A proposition is not probable because we think it so. When once the facts are given which determine our knowledge, what is probable or improbable in these circumstances has been fixed objectively, and is independent of our opinion. The Theory of Probability is logical, therefore, because it is concerned with the degree of belief which it is rational to entertain in given conditions, and not merely with the actual beliefs of particular individuals, which may or may not be rational. Given the body of direct knowledge which constitutes our ultimate premisses, this theory tells us what further rational beliefs, certain or probable, can be derived by valid argument from our direct knowledge. This involves purely logical relations between the propositions which embody our direct knowledge and the propositions about which we seek indirect knowledge. What particular propositions we select as the premisses of our argument naturally depends on subjective factors peculiar to ourselves; but the relations, in which other propositions stand to these, and which entitle us to probable beliefs, are objective and logical (2).”
Wahrscheinlichkeit ist im logischen Sinne nicht subjektiv, nicht Gegenstand von Launen. Sobald die Fakten bekannt sind, die unser Wissen bestimmen, dann ist das, was als wahrscheinlich oder unwahrscheinlich unter diesen Bedingungen zu gelten hat, objektiv festgelegt. Mag auch die Auswahl unserer Prämissen subjektiv sein, doch die Schlussfolgerungen, die wir daraus ziehen, sind objektiv gerechtfertigt oder eben irrational.
Darum hat der Psychiater, wenn er als rationaler Agent gelten will, die Wissensbasis zu spezifizieren, auf der seine Diagnose beruht und gleichermaßen zu zeigen, dass seine Gewissheit, die er mit der Diagnose verbindet, logisch aus den entsprechenden, als wahr gerechtfertigten Sätzen über die Welt folgt.
Philosophie der Psychiatrie und Praxis
Wenn man diesem Procedere, so mag der Leser nun einwenden, gewissenhaft anwenden und sich nicht mit einer Scheinlogik und mit Pseudo-Fakten begnügen wolle, dann müsse man weitaus mehr Zeit aufwenden, als einem durchschnittlichen Psychiater bei einem gewöhnlichen Patienten zur Verfügung stünde. Dieses Vorgehen sei also gut gemeint, aber nicht praktikabel. Allein, welchen Wert hat denn eine Diagnose für den Patienten, wenn sie auf einer irrationalen Praxis beruht?
Ein Patient sagte seinem Psychiater, er werde von seinem Nachbarn mit Mikrowellen bestrahlt. Der Psychiater wollte ihn, weil er seinen Patienten für gefährdet hielt, in eine psychiatrische Anstalt einweisen. Der Patient sagte, er habe keine Zeit, er müssen in den Vereinigten Staaten auf einem wichtigen Kongress über Mikrowellenwaffen sprechen. Der Psychiater attestierte ihm einen Mikrowellenwahn und, wegen des Kongresses, zudem einen Größenwahn. Der Patient wurde daraufhin zwangseingewiesen.
Wenig später allerdings stellte sich heraus, dass der Patient tatsächlich auf der Referentenliste dieses Kongresses stand, neben namhaften Wissenschaftlern aus aller Welt. Auch das ist Praxis. Praxis aber sollte, nein, sie muss sich an die Regeln der Logik halten. Sie darf nicht auf den schieren Mutmaßungen von Psychiatern beruhen.
Zur Lektüre empfohlen:
Anmerkungen
(1) Horikawa, T. et al. (2013). Neural Decoding of Visual Imagery During Sleep. Science 3 May 2013: Vol. 340 no. 6132 pp. 639-642
(2) Keynes, J. M. (1921). A Treatise on Probability. London: Macmillan and Co.
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