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Psychiatrie, Zwang, Folter

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Vorbemerkung

Ein “Bündnis gegen Folter” fordert die Abschaffung des Zwangs in der Psychiatrie. Die Behandlung eines Menschen gegen seinen Willen sei grausam, erniedrigend, unmenschlich und der Folter gleichzusetzen. Starker Tobak. Unterzeichnet wurde diese Erklärung von einer Reihe von Professoren, Rechtsanwälten sowie einem Politiker. Das Bündnis wird zudem von einer größeren Zahl einschlägig tätiger Organisationen unterstützt. Es beruft sich auf eine Einschätzung des Sonderberichterstatters über Folter des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte, Juan E. Méndez.

In Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention heißt es:

“Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.”

Gleichsinnig äußert sich das Grundgesetz:

„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
– Art. 1 Abs. 1 GG

„Festgehaltene Personen dürfen weder seelisch noch körperlich misshandelt werden.“
– Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG

Das Folterverbot gilt unbedingt; Zwangslagen gleich welcher Art können die Anwendung der Folter also nicht rechtfertigen; und sogar die Androhung von Folter ist in unserem Lande rechtswidrig. Das Folterverbot muss also auch dann beachtet werden, wenn mit der Folter mutmaßlich oder tatsächlich etwas zweifelsfrei Positives, wie beispielsweise die Rettung von Menschenleben, erreicht werden könnte.

Das “Bündnis gegen Folter” schreibt:

“Deshalb fordern wir alle Landes- und den Bundesgesetzgeber auf, alle Sondergesetze, die psychiatrische Zwangsbehandlung legalisieren, sofort für ungültig zu erklären. Nur so kann kurzfristig die Forderung nach einem absoluten Folterverbot in Deutschland verwirklicht werden. ‘Das Verbot der Folter ist eines der wenigen absoluten und unveräußerlichen Menschenrechte, ein ius cogens, also eine zwingende Norm des internationalen Rechts.’”

Diese Formulierung impliziert, dass in deutschen Psychiatrien gefoltert und damit fortgesetzt gegen Grundgesetz und internationales Recht verstoßen wird. Nach allgemeinem Verständnis besteht die Aufgabe der Medizin darin, Leiden zu überwinden oder zu lindern. Ist es denkbar, dass ein Zweig der Medizin bei einem Teil seiner Patienten gegen deren Willen vorsätzlich Leiden hervorruft und damit den Straftatbestand der Folter erfüllt? Schlimmer: Muss unterstellt werden, dass der Staat und die Institutionen der Rechtspflege diese mutmaßlichen Straftaten dulden, ja, rechtfertigen?

Es ist eine historische Tatsache, dass in der Psychiatrie so genannte “psychisch Kranke” systematisch ermordet wurden – während der nationalsozialistischen Herrschaft. Doch nun leben wir in einem demokratischen Rechtsstaat. Der wohlwollende Bürger ist geneigt, im Vertrauen auf das Funktionieren des Rechtsstaats die Anwürfe gegen die Psychiatrie als nicht gerechtfertigt einzustufen. Man mag Missstände einräumen, sogar gelegentliche Verstöße gegen die Menschenrechte für wahrscheinlich halten, aber dass in der Psychiatrie regelhaft gefoltert wird und staatliche Organe dies billigen, klingt in den Ohren der meisten, auch der sonst kritischen Bürger wie eine Verschwörungstheorie, ja, sogar wie eine Verunglimpfung des Staates und seiner Organe.

Es geht um eine ernste, um eine sehr ernste Sache. Leichtfertige Urteile zum Thema gibt es genug. Wer gern eine Kostprobe hätte, mag sich in den Weiten des Internets anschauen, was alles zum Fall “Gustl Mollath” geäußert wurde. Der Vorwurf der Folter ist ein schwerwiegender und daher ist es erforderlich, genau zu prüfen, was unter diesem Begriff und einer “psychiatrischen Behandlung” zu verstehen ist. Erst dann kann man versuchen zu ergründen, ob es eine Schnittmenge zwischen den menschlichen Aktivitäten des Folterns und des psychiatrischen Behandelns gibt.

Folter

Die UN-Antifolterkonvention versteht unter Folter

„jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, zum Beispiel um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen, um sie für eine tatsächlich oder mutmaßlich von ihr oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafen oder um sie oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen, oder aus einem anderen, auf irgendeiner Art von Diskriminierung beruhenden Grund, wenn diese Schmerzen oder Leiden von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person, auf deren Veranlassung oder mit deren ausdrücklichem oder stillschweigendem Einverständnis verursacht werden. Der Ausdruck umfasst nicht Schmerzen oder Leiden, die sich lediglich aus gesetzlich zulässigen Sanktionen ergeben, dazu gehören oder damit verbunden sind.“

Diese Konvention wurde u. a. von der Bundesrepublik Deutschland ratifiziert. Sie hat sich demgemäß verpflichtet, Verstöße gegen die Antifolterkonvention der Vereinigten Nationen strafrechtlich zu ahnden. Im vorliegenden Zusammenhang kritisch ist der letzte Satz dieser Definition. Es stellt sich die Frage: Sind erstens mit einer Zwangsbehandlung so genannter psychisch Kranker Schmerzen oder Leiden verbunden und, wenn ja, ergeben sich diese zweitens naturgemäß aus gesetzlich zulässigen Sanktionen? Nach dieser Definition wäre beispielsweise das Auspeitschen eines Menschen keine Folter, wenn dies in einem Land eine rechtlich zulässige Form der Bestrafung darstellt.

Daraus folgt, dass die UN-Antifolterkonvention für sich genommen keine Grundlage bildet, um die zwangsweise Unterbringung und Zwangsbehandlung der so genannten psychisch Kranken als menschenrechtswidrig zu beurteilen. Daher berufen sich die Protagonisten des Standpunkts, dass diese Maßnahmen gegen “psychisch Kranke” Folter seien, auf die UN-Behindertenrechtskonvention bzw. auf eine Auslegung dieser Konvention durch den Sonderberichterstatter über Folter des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte, Juan E. Méndez. Dieser sagte am 4. März 2013 anlässlich der 22. Sitzung des Menschenrechtsrats in Genf u. a. Folgendes:

“Die Behindertenrechtskonvention bietet die umfassendste Menge von Standards zu den Rechten von Personen mit Behinderungen und es ist wichtig, dass Staaten das Antifolter-Rahmenwerk im Verhältnis zu Personen mit Behinderung in Übereinstimmung mit der Behindertenrechtskonvention überprüfen. Staaten sollten einen absoluten Bann gegen alle erzwungenen und nicht einvernehmlichen medizinischen Interventionen bei Personen mit Behinderungen verhängen – nicht einvernehmliche Psychochirurgie, Elektroschocks und bewusstseinsverändernde Medikamente, sowohl für kurz- und langfristige Anwendungen, eingeschlossen.”

Hier muss zunächst geklärt werden, auf welche Art von Individuen die Behindertenrechtskonvention  angewendet werden kann. Sie bezieht sich auf Menschen mit folgenden Merkmalen:

“Personen mit Behinderungen schließen jene ein, die langfristige physische, geistige und sensorische Beeinträchtigungen aufweisen, die, im Zusammenspiel mit verschiedenen Barrieren ihre volle und effektive Partizipation am gesellschaftlichen Leben auf gleicher Ebene mit anderen hemmen können.”

Es stellt sich demgemäß die Frage, ob es sich bei den so genannten psychisch Kranken um Menschen handelt, die derartige Beeinträchtigungen aufweisen.

Reliabilität und Validität psychiatrischer Diagnosen

Grob gesprochen, ist die Validität eines diagnostischen Verfahrens ein Maß für die Genauigkeit, mit der es diagnostiziert, was es diagnostiziert – unabhängig davon, ob es dass diagnostiziert, was es zu diagnostizieren vorgibt. Demgegenüber versteht man unter der Validität ein Maß dafür, wie genau ein diagnostisches Verfahren auch das diagnostiziert, was es seinen Konzept gemäß diagnostizieren will. In der Praxis wird zur Ermittlung der Reliabilität überprüft, wie häufig zwei Diagnostiker hinsichtlich der Diagnose ein und desselben Menschen übereinstimmen. Die Validität wird durch die Korrelation zwischen den Diagnosen und externen Kriterien festgestellt. Diese externen Kriterien sind durch das Konzept vorgegeben.

Dies ergibt sich aus der Definition der Validität, die ja ein Maß dafür darstellt, wie genau ein diagnostisches Verfahren das misst, was es zu messen vorgibt. Wenn man beispielsweise psychische Krankheiten im Kern als Hirnerkrankungen auffasst, dann kann man das diagnostische Verfahren durch Korrelationen zwischen den Diagnosen und entsprechenden Parametern der Hirntätigkeit abschätzen.

Reliabilität

Eine Übersichtsarbeit aus dem Jahre 2006 stellt fest:

“The unreliability of psychiatric diagnosis has been and still is a major problem in psychiatry, especially at the clinician level (2).”

Die mangelnde Reliabilität der Diagnosen ist ein Hauptproblem der Psychiatrie; und daran hat sich auch durch die neue Version des amerikanischen Diagnose-Manuals DSM-5 nichts geändert. Im Gegenteil: Hier ist die Reliabilität so gering wie nie zuvor (7, 8). Angesichts der schwerwiegenden methodischen Mängel psychiatrischer Diagnostik (9) sind höhere Werte auch nicht zu erwarten. Die nebelhaften Krankheitskonstrukte und die unscharfen, vieldeutigen Kriterien lassen eine höhere Übereinstimmung der Urteile von Psychiatern (insbesondere außerhalb kontrollierter Forschung im klinischen Alltag) gar nicht zu.

Validität

Der Direktor des „National Institute of Mental Health“ (NIMH), Thomas Insel bezeichnete am 29. April 2013 in seinem „Director’s Blog“ das DSM als nicht valide. „Nicht valide“ bedeutet: Das DSM diagnostiziert nicht, was es zu diagnostizieren vorgibt. Insel schreibt:

“Das Ziel dieses neuen Handbuchs, wie aller vorherigen Ausgaben, ist es, eine gemeinsame Sprache zur Beschreibung der Psychopathologie bereitzustellen. Obwohl das DSM als “Bibel” für dieses Gebiet beschrieben wurde, ist es, bestenfalls, ein Lexikon, das eine Menge von Etiketten kreiert und sie definiert. Die Stärke jeder dieser Ausgaben des DSM war “Reliabilität” – jede Edition stellte sicher, dass Kliniker dieselben Begriffe in derselben Weise benutzten. Seine Schwäche ist sein Mangel an Validität. Anders als bei unseren Definitionen der Ischämischen Herzkrankheit, des Lymphoms oder von AIDS, beruhen die DSM-Diagnosen auf dem Konsens über Muster klinischer Symptome, nicht auf irgendwelchen objektiven Labor-Daten. In der übrigen Medizin entspräche dies dem Kreieren diagnostischer Systeme auf Basis der Natur von Brustschmerzen oder der Qualität des Fiebers. In der Tat, symptom-basierte Diagnosen, die einst in anderen Gebieten der Medizin üblich waren, wurden im letzten halben Jahrhundert weitgehend ersetzt, weil wir verstanden haben, dass Symptome selten die beste Wahl der Behandlung anzeigen. Patienten mit psychischen Störungen haben Besseres verdient (3).“

Insels Einschätzung, dass psychiatrische Diagnosen nicht valide seien, schlug in den USA wie eine Bombe ein; das NIMH untersteht schließlich dem US-Gesundheitsministerium und sein Direktor ist einer der einflussreichsten Psychiater der Vereinigten Staaten. Das NIMH ist das mit Abstand größte psychiatrische Forschungszentrum weltweit. Es kostet den amerikanischen Steuerzahler jährlich 1,5 Milliarden Dollar, also rund 1,16 Milliarden Euro.

Insel steht mit seiner Auffassung nicht allein:

“… es gibt immer noch keine objektiven Tests, mit denen man die Validität irgend einer psychiatrischen Diagnose bestätigen kann – eine Tatsache, die durch die fortgesetzt niedrigen Reliabilitäts-Raten noch unterstrichen wird…”

schreibt beispielsweise der britische Psychologe James Davies in seinem Buch “Cracked” (4).

Die Kritik an der psychiatrischen Diagnostik stammt heute nicht mehr nur aus den Reihen psychiatriekritischer Außenseiter, sondern sie wird auch von Vertretern des psychiatrischen Mainstreams wie Thomas Insel, Allen Frances oder Robert L. Spitzer vorgetragen.

Folgerungen

Da die Psychiatrie die so genannten psychischen Krankheiten nicht reliabel und valide zu diagnostizieren vermag, kann sie auch niemanden treffsicher den einzelnen psychiatrischen “Krankheitsbildern” zuordnen; selbst wenn man von der Existenz psychischer Krankheiten überzeugt ist, kann man demgemäß nicht bestreiten, dass die Raten der falsch positiv und falsch negativ Eingestuften unter diesen Bedingungen immens sein müssen.

Daraus ergibt sich zweierlei:

  1. Selbst wenn wir einräumen, dass “psychische Krankheiten” existieren und dass sie eine “Behinderung” darstellen, ist es, angesichts mangelhafter Reliabilität und Validität der einschlägigen diagnostischen Instrumente nicht möglich zu entscheiden, ob ein Mensch psychisch krank und somit behindert ist oder nicht. Wir können daher auch nicht wissen, ob die Behindertenrechtskonvention auf ihn zutrifft.
  2. Gleichermaßen können wir aber auch nicht wissen, ob eine Zwangsunterbringung und Zwangsbehandlung sich als Folge gesetzeskonformer Sanktionen ergibt, denn diese entsprechen nur dem Gesetz, wenn der zwangsweise Untergebrachte und Behandelte auch tatsächlich “psychisch Krank” ist, was wir aber aufgrund der beschriebenen Mängel der einschlägigen diagnostischen Verfahren nicht wissen können.

An dieser Stelle des Argumentationsganges könnte man also zu der Schlussfolgerung geneigt sein, dass es sich bei der Zwangsunterbringung und Zwangsbehandlung “psychisch Kranker” tatsächlich um Folter handeln könnte, da nämlich, unabhängig von der Frage, ob psychische Krankheiten überhaupt existieren, im Einzelfall nicht auf wissenschaftlich solider Basis entschieden werden kann, ob es sich bei dem Betroffenen überhaupt um einen “psychisch Kranken” handelt.

Schmerzen oder Leiden

Doch diese Schlussfolgerung wäre voreilig, denn Folter im Sinne der UN-Folterkonvention setzt ja voraus, dass einer Person

“vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden.”

Es muss, um zu einem abschließenden Urteil gelangen zu können, geklärt werden, ob psychiatrische Maßnahmen, die gegen den Willen des Betroffenen verwirklicht werden, große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden hervorrufen.

Dass die Gefangenschaft an sich Leiden verursacht, muss nicht weiter diskutiert werden. Dass Einzelhaft und Fixierung an Betten eine verschärfte Form des Leidens durch Gefangenschaft auszulösen vermögen, bedarf kaum der Erwähnung. Wenden wir uns also den psychiatrischen Behandlungen zu: Es genügt ein Blick auf die Beipackzettel der gängigen Neuroleptika, um sich davon zu überzeugen, dass diese häufig, teilweise sogar sehr häufig mit höchst unangenehmen Nebenwirkungen verbunden sind. Aber auch die Psychotherapie ist nicht nebenwirkungsfrei (5).

Selbst bei wohlwollender Betrachtung des Effekts psychiatrischer Maßnahmen muss man also einräumen, dass bei diesen aversive Effekte, teilweise sogar erhebliche und irreversible Schadwirkungen in Kauf genommen werden müssen. Insgesamt also bergen psychiatrische Maßnahmen ein beachtliches Risiko, dass den davon Betroffenen große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden. Auch wenn die Betroffenen vor diesen Maßnahmen nicht durch die Behindertenkonvention geschützt werden (da man eine “psychische Krankheit” bei ihnen nicht mit hinlänglicher Gewissheit feststellen kann), sind diese Leiden jedoch auch nicht als Folge gesetzmäßiger Sanktionen gerechtfertigt (da nicht mit vertretbarer Sicherheit diagnostiziert werden kann, dass sie die Voraussetzung einer “psychischen Krankheit” erfüllen).

Fazit

In einem umfassenden Werk zur Geschichte der Folter gelangt Darius Regali zu einem Schluss, der umso erschütternder ist, weil man sich ihm angesichts der Fülle des vom Verfasser dokumentierten Materials nicht entziehen kann:

“Nichts davon besagt, dass Demokratien eine schlechtere Bilanz haben als autoritäre Staaten. Diktaturen verdienen ihren Ruf wegen größerer Gewalt und Grausamkeit, wie dieses Buch reichlich dokumentierte. Doch dieses Buch hat ebenso festgestellt, dass Demokratien eine andere Geschichte der Folter haben und nicht durch Abwesenheit von Folter gekennzeichnet sind. Demokratien foltern, doch sie foltern anders, bevorzugen die saubereren Techniken, um Skandale zu vermeiden und um ihre Gesetzmäßigkeit zu betonen. Die Geschichte der modernen demokratischen Folter ist Teil der Geschichte heimlicher Folter (stealth torture) (1).”

Handelt es sich bei den Maßnahmen der Zwangspsychiatrie um “stealth torture”, die unter dem Deckmantel einer medizinischen Behandlung verabreicht wird? Meines Erachtens kann man diese Frage grundlegend nicht mit Bezug auf die Behindertenrechtskonvention diskutieren, weil dieser Bezug bereits anerkennt, was noch zu beweisen wäre, dass es sich nämlich bei dem betroffenen Personenkreis um “psychisch Kranke” und deswegen Behinderte handele. Akzeptiert man dies, so kommt man meines Erachtens nicht umhin, schlussendlich einzuräumen, dass manche dieser “psychisch Kranken” aufgrund einer Beeinträchtigung ihres kognitiven Vermögens unter Umständen nicht mehr in der Lage sind zu entscheiden, ob eine Unterbringung und Behandlung für sie sinnvoll sei oder nicht. Dies würde dann eine entsprechende Entscheidung durch andere legitimieren.

Aus meiner Sicht muss die Frage anders gestellt werden. Sie lautet nicht: Kann der “psychisch Kranke” den Schutz der Behindertenrechtskonvention für sich beanspruchen? Sie heißt vielmehr: Kann einem Menschen mit hinlänglicher Gewissheit nachgewiesen werden, psychisch krank zu sein und deswegen sich selbst oder andere zu gefährden? Könnte dies mit objektiven Verfahren gezeigt werden, so würde es nicht gegen Buchstaben und Geist der UN-Antifolterkonvention verstoßen, ihn gegen seinen Willen unterzubringen und zu behandeln. Denn:

“Der Ausdruck (Folter, HUG) umfasst nicht Schmerzen oder Leiden, die sich lediglich aus gesetzlich zulässigen Sanktionen ergeben, dazu gehören oder damit verbunden sind.”

Die Sondergesetze für “psychisch Kranke” sind geltendes Recht und ihre Anwendung kann daher laut UN-Antifolterkonvention keine Folter in ihrem Sinne sein. Es ist selbstverständlich legitim, die Existenz psychischer Krankheiten zu unterstellen, damit eine gegebenenfalls gesteigerte Selbst- und Fremdgefährdung zu verbinden und auf dieser Grundlage die Anwendung der entsprechenden Sondergesetze für rechtmäßig zu halten. Allein, und das ist der entscheidende Punkt, auch dann dürfte man nur “psychisch Kranke” zwangsbehandeln, nicht aber Leute, die nur verdächtigt werden, “psychisch krank” zu sein. Auf Basis schierer Mutmaßung wird psychiatrischer Zwang zur “sauberen Technik” der Folter, durch die Skandale vermieden werden sollen.

Über psychiatrischen Zwang entscheiden Gerichte. Dass sie dabei häufig den Gutachten von Psychiatern folgen, steht auf einem anderen Blatt. Richter entscheiden, ob ein Mensch psychiatrischem Zwang unterworfen werden soll oder nicht. Es liegt in ihrer Hand, ob einer Person

“… um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen, um sie für eine tatsächlich oder mutmaßlich von ihr oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafen oder um sie oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen, oder aus einem anderen, auf irgendeiner Art von Diskriminierung beruhenden Grund… ”

“… vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden.”

Ein Richter, der die Anwendung psychiatrischen Zwangs anordnet, sollte also, redliches Bemühen um Gerechtigkeit vorausgesetzt, ausreichend sicher sein, dass die Sondergesetze für “psychisch Kranke” mit hinlänglicher Gewissheit im jeweils vorliegendem Fall auch angewendet werden können. Und es fragt sich: Was sind die Quellen dieser Gewissheit?

Anmerkungen

(1) Rejali, D. (2007). Torture and Democracy. Princeton and Oxford: Princeton University Press, Seite 398

(2) Greenberg, G. (2013). The Book of Woe. The DSM and the Unmaking of Psychiatry. New York: Penguin Books

(3) Thomas Insel, Director’s Blog: Transforming Diagnosis

(4) Davies, J. (2013). Cracked. Why Psychiatry is Doing More Harm Than Good. London: Icon Books

(5) Barlow, D.H. (2010). Negative effects from psychological treatments. American Psychologist, 65, 13-19

(7) Greenberg, G. (2013). The Book of Woe. The DSM and the Unmaking of Psychiatry. New York: Penguin Books

(8) Frances, A. (2012). Newsflash From APA Meeting: DSM-5 Has Flunked Its Reliability Tests. Huffington Post, 05/08

(9) Gresch, H. U. (2014). Was taugen psychiatrische Diagnosen. Pflasterritzenflora

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