Wiederaufnahmeverfahren, Regensburg. Wir erinnern uns: Gustl Mollath bekundete, dass er unter Beklemmung und Angstzuständen leide, wie nach einem Kriegstrauma. Ausgelöst würde dies durch den Anblick des Psychiaters im Gerichtssaal. In dessen Anwesenheit sei er nicht verhandlungsfähig und müsse daher schweigen.
Nunmehr aber hat er sein Schweigen gebrochen. Anlass dazu war die Aussage seines ehemaligen Pflichtverteidigers. Dieser hatte u. a. behauptet, er habe immer noch Angst vor Mollath und insbesondere vor seinen Unterstützern. Die Mittelbayerische schreibt:
“Gustl Mollath bricht dann sein Schweigen, und meldet sich dann auf einmal doch zu Wort: ‘Ich versichere Ihnen, Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben. Ich habe Sie genau beobachtet während Ihrer Aussage. Ich habe das Gefühl, Sie brauchen Hilfe. Ich weiß bis heute nicht, wo Sie wohnen. (…) Ich weiß nicht wie, aber bauen Sie Ihre Ängste ab.’ Das Verhalten irgendwelcher Unterstützer verabscheue er. Er stehe immer für Deeskalation. Er könne sich auch nicht aussuchen, wer sich als ‘Unterstützer’ bezeichnet.”
Norbert Nedopil, der Gerichtsgutachter, beobachtet Gustl Mollath. Er soll sich, so die Aufgabe, die im das Gericht gab, ein Bild vom Angeklagten machen. Gustl Mollath beobachtet seinen ehemaligen Pflichtverteidiger; er beobachtet ihn genau. Und sagt also: “Ich habe das Gefühl, Sie brauchen Hilfe.” Vielleicht ermöglicht ihm die Erfahrung eigener Angstzustände ja, sich in die Lage des Geängstigten hineinzuversetzen. “Ich weiß nicht wie, aber bauen Sie Ihre Ängste ab.” Aus dem Zeitungsbericht ergibt sich nicht, ob Norbert Nedopil gerade auf dem Klo war, als Gustl Mollath dies sagte. Wenn nicht, dann ist es dem Angeklagten scheinbar selbst gelungen, seine Ängste gegenüber dem Psychiater abzubauen, zumindest vorübergehend.
Was mag sich der Psychiater bei dieser Szene gedacht haben, sofern er anwesend war? Auch er kennt, nach eigenem Bekunden, die Erfahrung ausgeprägter Angst, davor: “Dass ich mein Gesicht verliere. Dass jemand über mich sagen könnte, der war nicht professionell. Irren kann ich mich natürlich schon. Aber dass einer mir übertriebenen Eifer vorwirft oder dass ich ein Weichei bin, das will ich verhindern.” Offenbar wabert ein Gespinst der Angst im Gerichtssaal. Nedopil wird gehört haben, was Gustl Mollath zu seinem ehemaligen Pflichtverteidiger sagte: “Ich versichere Ihnen, Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben. Ich habe Sie genau beobachtet während Ihrer Aussage.” Genau beobachtet? Wie ist dies aus psychiatrischer Sicht zu interpretieren? Was steckt dahinter?
Ein Charakteristikum einer Phobie, also einer als krankhaft gewerteten Angst, ist, dass sie ausgeprägt, anhaltend, übertrieben und unbegründet erscheint. Es gibt natürlich keine objektiven Maßstäbe dafür, ob eine Angst sich durch derartige Merkmale auszeichnet. Die Psychiatrie kennt keine messbaren Grenzwerte, jenseits derer aus einer normalen eine irrationale und somit behandlungsbedürftige Angst wird. Sollen wir als Laien uns die Kühnheit anmaßen, über die Qualität der Ängste zu urteilen, die im Regensburger Gerichtssaal aufblitzen? Oder gar über jene, die im Verborgenen walten, hinter unverdächtig anmutender Stirn?
Kaum vorstellbar, dass jemals ein Rosenkrieg mit mutmaßlicher Handgreiflichkeit und angeblicher Reifenstecherei eine solche mediale Aufmerksamkeit erregt hat. Der Ruf der bayerischen Justiz habe Schaden genommen durch den Fall “Mollath”, heißt es in den Gazetten. Vom Wiederaufnahmeverfahren wird erwartet, dass es diesen nunmehr wiederherstelle. Das sind hohe Erwartungen, die auf den Schultern der Richterin und der Staatswanwaltschaft lasten. Vielleicht geht ja irgendetwas schief. Muss man sich Sorgen machen?
“Ich habe das Gefühl, Sie brauchen Hilfe.” Dies sagte Gustl Mollath zu seinem ehemaligen Pflichtverteidiger, dessen Angst ihm offenbar als ausgeprägt, anhaltend, übertrieben und unbegründet erscheint. Dies mag aus Mollaths Sicht eine klare Sache sein, aber wie soll Norbert Nedopil das Phänomen bewerten? Er ist ja auch dazu da einzuschätzen, ob vom Angeklagten weiterhin eine Gefahr ausgehe. Nach eigenem Bekunden sind 60 Prozent aller Gerichtsgutachten falsch, zuungunsten des Angeklagten. Mollath und sein Verteidiger werden nicht müde, ihn mit diesen Worten zu zitieren. Da ist es nicht so leicht, kein Weichei zu sein.
Fassen wir zusammen: Ein Angeklagter fürchtet sich vor einem Gutachter, ein Zeuge fürchtet sich vor dem Angeklagten, der Gutachter fürchtet sich vor Gesichtsverlust und das hohe Gericht muss fürchten, dass der Prozess im grellen Licht der Medien zur Farce entartet (oder zu Schlimmerem). Nun sind Gerichte in der Tat ein Ort, wo man das Fürchten lernen kann; dies liegt in der Natur der Sache. Doch in diesem Falle scheinen die Quellen von Angst und Furcht nicht in den üblichen Gründen zu sprudeln.
Man bedenke: Die öffentliche Meinung sagt, Mollath habe im Maßregelvollzug gesessen, obwohl er unschuldig war. Psychiatrie und Justiz meinten, Mollath habe ich Maßregelvollzug gesessen, weil er unschuldig, nämlich schuldunfähig war. Nun müsste also, nach all den Jahren, geklärt werden, ob er die ihm angelasteten Taten begangen oder nicht begangen hat und ob er zum Zeitpunkt der Tat schuldfähig oder nicht schuldfähig war. Manch einer mag dies für absurd halten. Wie auch immer man dieses Verfahren beurteilen mag; es ist eine Inszenierung von Ängsten.
Man bedenke auch: Es gibt keine objektiven Verfahren, mit denen man das Vorliegen einer psychischen Krankheit feststellen kann; psychiatrische Diagnosen beruhen auf Mutmaßungen. Es gibt auch keine treffsicheren Methoden, um die Neigung zu Gewalttaten zu prognostizieren. Unwägbarkeiten wie diese sind der Quellgrund von Furcht und Angst.
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