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Ist es unmoralisch, in der Zwangspsychiatrie zu arbeiten?

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Menschen, die gegen ihren Willen psychiatrisch behandelt wurden, wissen Schreckliches zu berichten: Sie wurden gewaltsam aus ihrer Wohnung geholt, während die Nachbarsfrauen aus geöffneten Fenstern zuschauten und über Hinterhöfe keiften. Sie wurden in Häuser mit vergitterten Luken gebracht, an Pritschen geschnallt, erhielten Injektionen mit gefährlichen Nervengiften. Diese Gifte machten sie apathisch und riefen die Symptome neurologischer Erkrankungen hervor. Sie wurden einer rabiaten Dressur unterworfen: Die Willfährigkeit gegenüber Ärzten und Hilfspersonal wurde belohnt, jede Äußerung eines Eigenwillens wurde bestraft.

Ist es unmoralisch, in der Zwangspsychiatrie tätig zu sein? Auf Fragen wie diese ernte ich meist reflexhafte Antworten: Die Mehrheit sagt, wie aus der Pistole geschossen: “Zwangsmaßnahmen sind ein notwendiges Übel, was will man denn sonst mit diesen Leuten tun.” Eine Minderheit bekundet, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken: “Wer in der Zwangspsychiatrie arbeitet, ist ein Verbrecher; es gibt keine psychischen Krankheiten und daher sind Zwangsmaßnahmen Folter.”

Spontane Antworten sind häufig wahr und genießen zudem den Vorzug atemberaubender Geschwindigkeit. Im vorliegenden Fall – allein: Welche der beiden gegensätzlichen Antworten trifft denn zu? Sind die Mitarbeiter der Zwangspsychiatrie Verbrecher oder sind sie Nothelfer für Menschen, die anders nicht zu retten sind?

Eine Bewertung dieser beiden Antworten kann nicht spontan erfolgen. Vielmehr muss man sich zunächst überlegen, was die Frage eigentlich bedeutet. Was wollen wir unter Moral verstehen? Hier ist nicht der Ort, die Philosophie, Theologie, Biologie, Psychologie und Soziologie der Moral grundlegend zu erörtern. Es genügt, auf zwei elementare, einander entgegengesetzte Positionen zu verweisen.

  1. Die Moral ist der Inbegriff von Normen menschlichen Verhaltens, bezogen auf die Dimensionen des Guten und des Bösen, und diese Normen wurden von Menschen erdacht. Sie unterscheiden sich von Geschichtsepoche zu Geschichtsepoche, von Kultur zu Kultur. Zur Moral werden dadurch, dass sie von der Mehrheit der Menschen in ihrem Geltungsbereich akzeptiert werden, sogar von den Moralbrechern, die durchaus wünschen, dass sich andere an die Normen halten, über die sie selbst sich hinwegsetzen.
  2. Die Moral ist der Inbegriff von Normen menschlichen Verhaltens, bezogen auf die Dimensionen des Guten und des Bösen, die nicht von Menschen erdacht wurden. Vielmehr beruht die Moral auf einer objektiven, höheren Wertordnung, die unabhängig von Geschichtsepochen und Kulturen universell gültig ist. Jedes vernunftbegabte Wesen ist fähig, diese Normen und ihre Berechtigung zu erkennen – unabhängig davon, ob er in einer Gemeinschaft lebt, die sich der Moral verpflichtet fühlt oder sie verhöhnt.

Wenn wir die zweite Position einnehmen, können wir erwägen, ob die Zwangseinweisung und Zwangsbehandlung der so genannten psychisch Kranken unter bestimmten Bedingungen moralisch vertretbar oder sogar geboten sein könnte. Wer sich jedoch auf den ersten Standpunkt stellt, hat damit die hier verhandelte Frage bereits beantwortet: Nein, aus diesem Blickwinkel ist es nicht unmoralisch, in der Zwangspsychiatrie zu arbeiten. Denn dies verstößt nicht gegen irgendeine moralische Norm, die irgendwo in der Welt allgemein anerkannt wäre. Zwangseinweisungen sind überall in der Welt üblich und die Mehrheit der Bevölkerung hält sie für erforderlich. Man mag Missstände und Einzelschicksale beklagen, aber an der grundsätzlichen Berechtigung von Zwangsmaßnahmen wird von einer Mehrheit nicht gezweifelt.

Wohin in der Welt ein Mitarbeiter der Zwangspsychiatrie immer auch schaut, nirgendwo wird er Verhältnisse entdecken, die prinzipielle Zweifel an der Legitimität seiner Tätigkeit begründen könnten. Ist aber die Allgemeinverbindlichkeit der Moral durch Konsens, nicht jedoch durch eine objektive, höhere Wertordnung gesichert, dann befindet sich der Mitarbeiter in der Zwangspsychiatrie eindeutig moralisch auf der sicheren Seite. Dies mag dem einen oder anderen Kritiker der Zwangspsychiatrie ganz und gar nicht schmecken, aber er wird nicht umhinkommen, sich zu entscheiden: Wenn er Mitarbeiter der Zwangspsychiatrie moralisch verurteilen will, so ist dies nur möglich, sofern in der Moralfrage die zweite Postion einzunehmen gewillt ist.

Da ich nicht in die Existenz einer höheren Wertordnung glaube, verzichte ich darauf, Mitarbeiter der Zwangspsychiatrie moralisch zu kritisieren. Es ist aus meiner Sicht nicht auszuschließen, dass sie aufrichtig davon überzeugt sind, gut zu handeln und sich im Einklang mit der Moral wissen. Zwar mag es den einen oder anderen geben, dessen Verhalten auch gemessen an vorherrschenden Moralvorstellungen nicht einwandfrei ist, doch dies erlaubt, vom ersten Standpunkt in der Moralfrage betrachtet, nicht den Schluss, dass Zwangseinweisung und Zwangsbehandlung prinzipiell unmoralisch seien.

Meine Kritik der Zwangspsychiatrie fußt also nicht auf moralischen Grundlagen. Aus meiner Sicht kann sie mit vernünftigen Argumenten nicht moralisch kritisiert werden. Daher ist es auch nicht unmoralisch, in der Zwangspsychiatrie zu arbeiten. Meine Kritik ruht vielmehr auf einer empirischen Basis: Da psychiatrische Diagnoseverfahren nicht reliabel und valide, da Prognosen der Gefährlichkeit eines Menschen für sich und andere nicht nennenswert besser sind als die Glaskugelschau, da die Therapien gleich welcher Art für diese mutmaßlichen Krankheiten höchst unzulänglich und teilweise mit erheblichen, irreversiblen Schadwirkungen verbunden sind, gibt es auch keinen vernünftigen Grund für Zwangseinweisungen und Zwangsbehandlungen so genannter psychisch Kranker, die angeblich für sich selbst oder andere gefährlich sind.

Wäre es anders, wären die Diagnosen reliabel und valide, wären die Prognosen pragmatisch betrachtet hinlänglich treffsicher, würden die Therapien etwas taugen, dann könnte man unabhängig von Moralfragen über die Berechtigung der Zwangspsychiatrie nachdenken. Aber so ist es nun einmal nicht. Und darum handeln die Mitarbeiter in der Zwangspsychiatrie aus meiner Sicht durchaus moralisch einwandfrei, im gesellschaftlichen Sinn aber unvernünftig. Dass es, individuell gesehen, rational sein mag, auf diese Weise sein Brot zu verdienen, steht natürlich auf einem anderen Blatt.

Natürlich könnte man, gleichsam von höherer Warte aus betrachtet, argumentieren, es sei unmoralisch, unvernünftig zu handeln. Diesen Gesichtspunkt will ich nicht von der Hand weisen – zumindest in unserer Kultur besteht eine starke Tendenz zur moralischen Aufwertung vernünftigen Handelns. Allerdings setzt die moralische Verurteilung des Arbeitens in der Zwangspsychiatrie aus dieser Sicht voraus, dass den dort Tätigen die Unvernunft ihres Handelns auch bewusst ist. Dies mag im Einzelfall so sein. Im Allgemeinen halte ich dies aber für eher unwahrscheinlich.

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