Quantcast
Channel: Lexikon der Psychiatriekritik »» Hans Ulrich Gresch
Viewing all articles
Browse latest Browse all 323

Norbert Nedopil: Ist Mollath gefährlich?

$
0
0

Ein Mann sitzt im Gerichtssaal. Er beobachtet den Angeklagten. Sein Name: Nedopil, Norbert Nedopil. Sein Aufgabe: Er soll sagen, ob Mollath gefährlich ist. Er ist Psychiater, Gerichtspsychiater. Er hat das, so sagt man, gelernt: zu entscheiden, ob einer gefährlich ist oder nicht. Damit er eine Grundlage für sein Urteil hat, sitzt er nun im Gerichtssaal und beobachtet den Angeklagten. Der will nicht mit ihm sprechen. Hin und wider stellt Norbert Nedopil den Zeugen Fragen. Diese antworten.

Viele Informationen strömen auf ihn ein. Kein Mensch kann alle Reize, die er wahrnimmt, auch verarbeiten. Zwar mag die Fähigkeit dazu beim einen größer sein als beim anderen, aber jeder stößt irgendwann einmal an seine Grenzen. Man wird dem Gelehrten sicher nichts unterstellen, wenn man voraussetzt, dass dies auch bei Norbert Nedopil der Fall ist. Da sitzt er im Gerichtssaal, mit offenen Augen und Ohren, hellwach, und sieht sich mit einer Fülle konfrontiert, die geordnet und auf das Wesentliche vermindert werden will. Aber das, so sagt man, hat Norbert Nedopil ja gelernt.

Welche Eindrücke soll er als unwesentlich ausmerzen, welche als bedeutsam im Gedächtnis behalten? Wir alle bedienen uns zum Zweck der Auswahl gewisser Faustregeln, die Daniel Kahneman und Amos Tversky als “Heuristiken” bezeichnet haben (1). Diese Heuristiken sind durchaus brauchbare Werkzeuge zur Orientierung im Dschungel sozialer Interaktionen, aber sie führen uns auch nicht selten in die Irre. Sie können mit charakteristischen Denkfehlern verbunden sein, die zu erforschen sich Wissenschaftler wie Daniel Kahneman zur Lebensaufgabe gemacht haben. Er erhielt dafür den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften und Amos Tversky hätte ihn wohl auch bekommen, wenn er nicht früh gestorben wäre. Einen guten Überblick über dieses Gebiet bietet das Spätwerk Kahnemans: “Thinking – Fast and Slow” (2).

  • Wenn wir das Verhalten eines Menschen vorhersagen sollen, stützen wir uns häufig auf Korrelationen zwischen menschlichen Merkmalen und dem zu prognostizierenden Handeln. Dies ist sicher keine schlechte Strategie, solange die Korrelationen auch tatsächlich existieren. Dass sich auch klinisch erfahrene Kliniker in ihrem Urteil zur Gefährlichkeit eines Menschen von illusionären Korrelationen leiten lassen, wird z. B. durch eine Studie von Quinsey & Maguire nahegelegt (3).
  • Eine zentrale Fehlerquelle der Risikoeinschätzung ist die unzureichende Berücksichtigung des Kontexts, in dem die Beurteilung stattfindet (4). Denn häufig wird ja die Bereitschaft zu gewalttätigem Verhalten durch situative Reize gesteigert, die in der Beurteilungssituation nicht gegeben sein mögen.
  • Die Ähnlichkeit eines Falles mit einem anderen Fall kann uns heftig in die Irre führen. Nehmen wir einmal an, ein Angeklagter neige zu Ausdrucksweisen, die man auch schon bei einem gewalttätigen Wiederholungstäter beobachtet hat, dessen Fall großes Aufsehen erregte. Wer könne sich von der unbewussten Neigung freisprechen, beide in einen Topf zu werfen, selbst wenn der Wiederholungstäter seine Taten stets in Situationen begangen hat, in die der Angeklagte nach menschlichem Ermessen niemals geraten wird?
  • Menschen neigen dazu, Informationen in einer Weise wahrzunehmen, die ihren Interessen entspricht, also selektiv (5). Wenn also beispielsweise ein Forensiker unter Druck steht, in die eine oder andere Richtung, dann könnte er, bewusst oder unbewusst, dazu tendieren, bevorzugt jene Reize wahrzunehmen, die für bzw. gegen die Gefährlichkeit eines Probanden sprechen.
  • Die Bestätigungsverzerrung (conformation bias) muss gerade im Fall Mollaths kaum noch erwähnt werden. Menschen stufen Informationen, die ihrem Vorurteil entsprechen, als zuverlässiger ein als solche, die ihm widersprechen. Und sie suchen gezielt nach solchen Informationen, die ins Konzept passen (6).

Die Liste solcher Beurteilungsfehler ist lang. Der  ausgezeichnete Aufsatz von Jennifer Murray und Jenny E. Thomson bietet einen schnellen Überblick (7). Wer nach Erklärungen für das schlechte Abschneiden auch erfahrener Forensiker bei der Vorhersage von Gewalt sucht, wird im Bereich der empirisch gut erforschten und bestätigten Urteilsfehler fündig werden.

Zurück in den Gerichtssaal. Mit den vorangestellten Ausführungen habe ich mir bisher die Zeit vertrieben, während ich gespannt auf das Gutachten Norbert Nedopils warte, das er heute vor Gericht in Sachen Mollath vortragen soll. Wohlwollend setze ich voraus, dass der Psychiater all die genannten und viele andere Einflüsse kennt, die das klinische Urteil zur Gefährlichkeit eines Angeklagten verzerren können. Dank seiner profunden Ausbildung und Erfahrung, so dürfen wir hoffen, ist er vor ihnen gewappnet. Ob diese Hoffnung im Licht der empirischen Forschung (8, 9) gerechtfertigt ist, soll hier nicht weiter vertieft werden. Er ist ja auch ein Star der Gerichtsgutachterszene, und solche Menschen sind bekanntlich Lichtjahre von den Niederungen der Wald-Wiesen-Feld-Psychiatrie entfernt.

Die Spannung steigt. Laut Pressemeldungen beginnt Nedopil um 9 Uhr  mit dem Vortrag seines Gutachtens. Leider kann ich nicht dabei sein und muss warten, bis die Mittelbayerische mit ihrer Life-Berichterstattung aus dem Gerichtssaal meine Fantasien bestätigt oder widerlegt. Wenn ich mir mein Wissen über Entscheidungsheuristiken durch den Kopf gehen lasse, fällt es mir schwer zu glauben, dass der Professor Gustl Mollath als gefährlich einstufen wird.

Die Aufgabe Nedopils ist nicht leicht. Fußend auf diagnostische Verfahren, die sämtlich nicht reliabel und valide sind, muss er eine Prognose wagen, die im Allgemeinen selbst unter Verwendung der besten Instrumente mit einer atemberaubend hohen Zahl falsch negativer und falsch positiver Einstufungen verbunden ist. Dennoch darf er sich im Vertrauen des Volkes und des in seinem Namen urteilenden Gerichts geborgen fühlen.

Er weiß, was das Volk in seiner großen Mehrheit denkt und erwartet, dass Mollath nämlich grundlos in der Psychiatrie war, dass er natürlich nicht gefährlich ist und daher rehabilitiert werden sollte. Dies allerdings betrifft nur den Einzelfall, den Fall Mollath. Im Allgemeinen glaubt das Volk mehrheitlich schon, dass bestimmte Menschen weggesperrt gehören und dass Psychiater in der Regel auch entscheiden können, wer dazu zählt und wer nicht. Das haben die Psychiater schließlich ja auch gelernt. Nur eben im Falle Mollath hat man schiefgelegen. Und nun soll Nedopil den guten Ruf der Psychiatrie wiederherstellen – im Rahmen eines Gerichtsprozesses, dessen heimliches Ziel wohl in einer ähnlichen Mission besteht, nämlich in Sachen bayerische Justiz.

Nun endlich: Paukenschlag. Die Mittelbayerische berichtet:

“Nedopil: ‘Wenn man das, was ich über Herrn Mollath weiß, zusammenfasst, ist es herzlich wenig.’”

So geht das weiter: Einerseits dieses, andererseits jenes. Und abschließend:

“Eine begründete Gefährlichkeit könne nicht nachgewiesen werden, daher sei die Voraussetzung einer Unterbringung nach Paragraf 63 (verminderte Schuldfähigkeit) nicht anzunehmen.”

Zwischendurch Äußerungen wie diese:

“Eine Persönlichkeitsstörung sei aus seiner Sicht zum jetzigen Zeitpunkt nicht zu begründen, aber auch nicht auszuschließen.”

“Eine verminderte Steuerungsfähigkeit können ebenfalls nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden, aber keinesfalls positiv angenommen werden.”

Wenn man bedenkt, dass angesichts der, gerade in diesem Bereich, offensichtlichen Mängel psychiatrischer Diagnostik Persönlichkeitsstörungen bei niemandem zu keinem Zeitpunkt zu begründen oder auszuschließen sind, so erscheint diese Aussage bei näherer Betrachtung nicht so gewagt zu sein, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag. Und was die verminderte Steuerungsfähigkeit betrifft, so ist eins ganz sicher: Bei keinem “psychisch Kranken” ist es bisher gelungen, irgendeinen Mechanismus im Gehirn nachweisen, der die Steuerungsfähigkeit vermindert.

Meine Prognose, wie das Gutachten ausfallen wird, war also gar nicht so schlecht. Wieder einmal bin ich selbst überrascht von der Wucht meiner präkognitiven Gabe.

Allein: Warum nicht immer so?

“Nedopil: ‘Wenn man das, was ich über Herrn Mollath weiß, zusammenfasst, ist es herzlich wenig.’”

Könnte, ja müsste nicht jeder forensische Psychiater so etwas über jeden seiner Probanden formulieren?

PS: Nach dem Gutachten Nedopils geht das Gericht in die Pause. Danach soll der Gutachter befragt werden. Ich gehe derweil in die Küche und versuche, einen Pudding an die Wand zu nageln. Es will mir nicht gelingen. Nachdem die Pause vorüber ist, schaue ich mir wieder den Life-Blog an. Es gibt darüber hinaus nichts mehr zu kommentieren.

Anmerkungen

(1) Kahneman, D. & Tversky, A. (1973). On the Psychology of Prediction. Psychological Review, 80, 273 – 251

(2) Kahneman, D. (1911). Thinking – Fast and Slow. London: Macmillan

(3) Quinsey, V. L. & Maguire, A. (1986). Maximum security psychiatric patients: Actuarial and clinical predictions of dangerousness. Journal of Interpersonal Violence, 1, 143 – 171

(4) Borum, R. (2000). Assessing violence risk among youth. Journal of Clinical Psychology, 56 (10), 1263 – 1288

(5) Salemik, E. et al. (2007). Selctive attention and threat: Quick orienteering versus slow disengagement and two versions of the dot probe test. Behavior and Research Therapy, 45 (3), 607 – 615

(6) Ask, K. et al. (2008). The ‘elasticity’ of criminal evidence: A moderator of investigator bias. Applied Cognitive Psychology, 22, 1259 – 1255

(7) Murray, J. & Thomson, J. E. (2010). Applying decision making theory to clinical judgments in violence risk assessments. Europe’s Journal of Psychology, 2, 150 – 171

(8) Gottfredson, S. D. & Moriarty, L. J. (2006). Clinical Versus Actuarial Judgments in Criminal Justice Decisions: Should One replace the Other? Federal Probation, Volume 70 Number 2

(9) Dawes, R. (1996). House of Cards. Psychology and Psychotherapy Built on Myth. New York: Free Press

The post Norbert Nedopil: Ist Mollath gefährlich? appeared first on Pflasterritzenflora.


Viewing all articles
Browse latest Browse all 323