Die Mittelbayerische berichtete:
“Nedopil: ‘Wenn man das, was ich über Herrn Mollath weiß, zusammenfasst, ist es herzlich wenig.’”
Trotzdem war es Norbert Nedopil möglich, ein Gutachten über Gustl Mollath abzugeben. Dieses Gutachten kennen wir bisher nur auszugsweise aus Presseberichten, und schon allein deswegen verbieten sich Spekulationen darüber, wie der Psychiater zu seinen Einsichten zur Persönlichkeit Gustl Mollaths gelangte.
Beschränken wir uns im Folgenden also darauf, was uns die empirische Forschung darüber zu berichten weiß, wie Menschen sich ein Urteil über eine Person bilden, die ihnen (weitgehend) unbekannt ist, über die sie also, zusammengefasst, herzlich wenig wissen. Natürlich achtet der eine auf dieses, der andere auf jenes, der eine ist schnell mit einem Urteil bei der Hand, der andere prüft sorgfältig Hypothesen, bevor er sich ein Urteil erlaubt; allein es kristallisierten sich auch einige Merkmale der sozialen Wahrnehmung heraus, die Allgemeingültigkeit beanspruchen können.
Zu diesen Merkmalen zählt die “Automatik” (1). Ob wir wollen oder nicht: Wir können gar nicht anders, als uns ein Urteil über Menschen zu bilden, die uns begegnen. Und dieser Prozess entzieht sich, zumindest teilweise, der Reflexion, ist unter Umständen sogar unbewusst, steuert aber dennoch unser Verhalten.
Ein Beispiel: Sie begegnen im Aufzug einer ihnen unbekannten Person, die allerlei Gegenstände in den Händen balanciert und Sie bittet, vorübergehend einen Becher Kaffee für sie halten, damit sie ihre restlichen Utensilien besser fassen kann. Später werden Sie gebeten, die Persönlichkeit dieses Menschen einzuschätzen. Vermutlich werden Sie diese Person als wärmer, herzlicher etc. beurteilen, wenn der Kaffee warm war, als wenn es sich um einen Eiskaffee gehandelt hätte. Dies zeigte sich jedenfalls in einer experimentellen Studie. Keinem Versuchsteilnehmer war klar, welches simple Faktum seine Einschätzung beeinflusst hatte (2). Noch einmal: Die Temperatur des Kaffeebechers hat einen nachweisbaren und deutlichen Einfluss auf das Urteil über die Person.
Beobachter neigen dazu, Persönlichkeitsmerkmale bei Menschen zu entdecken, die dem allgemeinen Eindruck entsprechen, den man bereits gewonnen hat (3). Sie tendieren dazu, nicht alle wahrgenommenen Merkmale gleich zu gewichten, vielmehr haben einige zentrale Merkmale einen beherrschenden und häufig nicht gerechtfertigten Einfluss auf das Gesamturteil (4). Wir sind geneigt, Menschen, die uns ähnlich sind, positiver zu beurteilen (5). Leute, die zur eigenen Gruppe gehören, schneiden in unseren Augen besser ab als Mitglieder einer Fremdgruppe (6). Die ersten Informationen, die wir über einen Menschen erhalten, beeinflussen unser Urteil über ihn deutlich stärker als spätere (7). Häufig überschätzen wir auch die Korrelation zwischen Verhaltensmerkmalen (12), z. B. wenn wir meinen, dass ein physisch attraktiver Mensch auch ein freundliches Wesen habe.
Unser Urteil über Menschen kann also einer Vielzahl von Verzerrungen unterliegen; und wenn wir uns erst einmal eine Meinung gebildet haben, dann wird es schwer, sie wieder zu korrigieren. Wir haben nämlich eine ausgeprägte Neigung dazu, Informationen, die eine Meinung bestätigen, zu bevorzugen (confirmation bias (8)). Und wehe, es drängen sich uns widersprechende Informationen auf! Dann sind wir von unserem Urteil u. U. umso überzeugter (backfire effect (9)).
Ich möchte dieses Thema nicht weiter ausschlachten, zumal die einschlägige empirische Literatur im Lauf der Jahrzehnte ziemlich unübersichtlich geworden ist. Das Vorgetragene sollte ausreichen, um sich klarzumachen, dass sich kein Mensch anmaßen darf, frei zu sein von derartigen verzerrenden Einflüssen beim Urteil über Menschen, von denen er herzlich wenig weiß.
Man mag nun die Auffassung vertreten, dass sich Psychiater dank Ausbildung und Erfahrung vor solchen “Biases” gefeit wissen, allein der Beweis dafür steht noch aus. Vielmehr zeigt sich seit Jahrzehnten in der empirischen Forschung, dass psychiatrische Urteile, die mit klinischen Methoden (Exploration) gewonnen wurden, statistischen Prognosen im Allgemeinen unterlegen, in keinem Fall aber besser sind (10). Und diese auf mathematischen Modellen beruhenden Prognosen sind ebenfalls unzulänglich (11). Noch unzulänglicher sind die “klinischen Urteile”.
Doch selbstverständlich könnte im Falle Norbert Nedopils alles ganz anders sein. Wir kennen ja sein Gutachten noch nicht. Ausschnitte finden sich in Rudolf Sponsels Website unter dem Titel:
“Methodenkritische Erst-Analyse ‘vorläufige, wissenschaftlich begründete psychiatrische Stellungnahme’ durch Prof. Dr. Nedopil vom 23.7.2014 über Gustl F. Mollath im Wiederaufnahmeverfahren”
Allein, über diese Ausarbeitung sagt die Krimiautorin und ehemalige Oberstaatsanwältin Gabriele Wolff:
“Sponsel zitiert aus einem von Nedopil in der Hauptverhandlung vom 25.7.2014 verteilten schriftlichen Vorgutachten, in das die Erkenntnisse aus der Hauptverhandlung noch nicht eingeflossen sind. Letzteres hat Sponsel nicht erwähnt, was ich typisch für seine Arbeitsweise finde. Er greift Einzelpunkte auf, die ihm kritikwürdig erscheinen. Leider verzettelt er sich ständig in herausgepickten Details, an denen er seine Agenda beweisen will. Entsprechend konfus ist seine Website gestaltet. Es ist ein Glückstreffer, wenn man mal ein Zitat erwischt, mit dem man etwas anfangen kann, angesichts der Erbsenzählerei, die er veranstaltet!
Zu erwarten sei, so Wolff, demnächst eine
“… komplette Veröffentlichung des vorbereitenden schriftlichen Gutachtens von Prof. Dr. Nedopil sowie eine Mitschrift des 13. Hauptverhandlungstages, an dem Nedopil mündlich vortrug und angegriffen wurde.”
Man darf gespannt sein. Um ehrlich zu sein, habe ich in psychologischen Fragen eine erhebliche Abneigung gegen rhetorische Brillanz. Argumente, die sich nicht stringent auf empirische Studien und Meta-Analysen solcher Untersuchungen beziehen, sind mir suspekt. Was ich bisher über Nedopils Gutachten gelesen habe, lässt mich auf Zahlenmaterial nicht hoffen. Es mag also sein, dass mich auch das schriftliche Gutachten und die Mitschrift des Verhandlungstages von meinem bisherigen Urteil nicht abbringen können. Vielleicht unterliege ich ja dabei der menschlich-allzumenschlichen Tendenz, nur auf Informationen zu achten, die mein Vorurteil bestätigen.
Anmerkungen
(1) Bargh, J.A., & Chartrand, T.L. (1999). The unbearable automaticity of being. American Psychologist, 54(7), 462-479
(2) Williams, L. & Bargh, J. A. (2008). Experiencing Physical Warmth Promotes Interpersonal Warmth. Science. Oct 24, ; 322(5901): 606–607
(3) Felipe, A.I. (1970). Evaluative versus descriptive consistency in trait inferences. Journal of Personality and Social Psychology, 16(4), 627-638
(4) Asch, S.E. (1946). Forming impressions of personality. Journal of Abnormal and Social Psychology, 41(3), 258-290
(5) Benedetti, D.T., & Joseph, G.H. (1960). A determiner of the centrality of a trait in impression formation. Journal of Abnormal and Social Psychology, 60(2), 278-280
(6) Hewstone, M., Rubin, M., & Willis, H. (2002). Intergroup bias. Annual Review of Psychology, 53, 575-604
(7) Luchins, A. S. (1958). Definitiveness of impression and primacy-recency in communications. The Journal of Social Psychology, 48 (2), 275-290
(8) Nickerson, Raymond S. (1998), Confirmation Bias; A Ubiquitous Phenomenon in Many Guises. Review of General Psychology (Educational Publishing Foundation) 2 (2): 175–220
(9) Lawrence J. S. et al. (2002). When debiasing backfires: Accessible content and accessibility experiences in debiasing hindsight. Journal of Experimental Psychology: Learning, Memory, and Cognition 28 (3): 497–502
(10) Gottfredson, S. D. & Moriarty, L. J. (2006). Clinical Versus Actuarial Judgments in Criminal Justice Decisions: Should One replace the Other? Federal Probation, Volume 70 Number 2
(11) Buchanan, A. (2008). Risk of Violence by Psychiatric Patients: Beyond the “Actuarial Versus Clinical” Assessment Debate, Psychiatric Services 2008; doi: 10.1176/appi.ps.59.2.184
(12) Murphy, K.R., & Jako, R. (1989). Under what conditions are observed intercorrelations greater or smaller than true intercorrelations? Journal of Applied Psychology, 74 (5), 827-830
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