Wiederaufnahmeverfahren Gustl Mollath. Psychiatrischer Gutachter: Norbert Nedopil.
Der Bayerische Rundfunk berichtete:
“Nedopil schätzte den Angeklagten als kompromisslos, penetrant, rigide und misstrauisch ein. Zudem sah er Zeichen von mangelnder Flexibilität, Rechthaberei und Selbstüberschätzung.”
In der Sozialpsychologie bezeichnet man die Neigung,
- aus Verhaltensweisen, die vollständig durch situative Faktoren erklärt werden können,
- einzigartige und überdauernde Persönlichkeitseigenschaften abzuleiten,
als Korrespondenzverzerrung (correspondence bias).
Es handelt sich bei diesem Bias um einen der am besten empirisch erhärteten Sachverhalte der experimentellen Psychologie (1).
Es stellt sich also die Frage, ob Nedopil einer Korrespondenzverzerrung unterlag, als er Gustl Mollaths Persönlichkeit mit den oben genannten Merkmalen ausstattete? Oder aber erlaubte es ihm sein psychiatrischer Blick, tief in die Seele des Angeklagten zu schauen und das verborgene Wirken von Kompromisslosigkeit, Penetranz, Rigidität, Misstrauen, mangelnder Flexibilität, Rechthaberei und Selbstüberschätzung zu beobachten?
Auch wenn wir ihm einen Blick für die Gründe und Abgründe der Seele nicht absprechen wollen, so kann dieser Begriff wohl doch nur metaphorisch gemeint sein. Denn selbst im Zeitalter der Computer und Tomographen, der so genannten bildgebenden Verfahren zur Beobachtung der Aktivität des Gehirns, ist es noch keinem Sterblichen gelungen, die Konstrukte (wie Charakter, Persönlichkeit etc.), mit denen wir menschliches Verhalten zu erklären versuchen, direkt zu beobachten. Wir meinen zwar, uns selbst zu kennen, aber wir können nun einmal nicht sehen, was sich hinter der Stirn eines anderen Menschen tatsächlich abspielt. Und dies ist natürlich die Grundlage der Korrespondenzverzerrung.
Während wir die Faktoren, die den Menschen in seinem Inneren zu bestimmten Verhaltensweise disponieren, nicht direkt wahrnehmen können, so sind doch die Faktoren in seiner Umwelt, die es beeinflussen, mitunter deutlich zu erkennen. Wir alle wissen aus eigener Erfahrung, dass wir Verhaltensweisen, die Erfolg bringen, zu wiederholen neigen und Verhaltensweisen, die mit Nachteilen verbunden waren, tendenziell meiden. Wenn wir aber das Verhalten anderer erklären sollen, dann haben wir eine deutliche Präferenz für innere Antriebe (Charakter, Einstellungen, Motive, Leidenschaften).
Daher muss Norbert Nedopil nicht fürchten, dass sein Charakterbild Gustl Mollaths auf allzu großen Widerstand stößt. Die meisten Menschen denken so wie er. Es mag ja sein, dass sie in diesem oder jenen Falle recht haben mit ihrer Spekulation, dass diese oder jene Verhaltensweise nicht situativen Einflüssen, sondern personalen Motiven geschuldet sei; allein, ob dies auch im Falle Gustl Mollaths immer zutrifft, müsste recht eigentlich zunächst einmal bewiesen werden.
Mehr als sieben Jahre war Gustl Mollath unter strenger Aufsicht, Tag und Nacht. Und danach richtete sich das öffentliche Interesse auf ihn, Unterstützer erwarteten, dass er sie bei Hofe empfange und ihre Huldigungen entgegennähme, auch danach also stand er, Tag und Nacht, unter ständiger Beobachtung. Eigentlich, so sollte man meinen, wirkten also starke situative Faktoren auf sein Verhalten ein; aber wir tendieren dennoch dazu, die personalen, die in seinem Inneren liegenden Einflussgrößen stärker zu gewichten. Wieso eigentlich?
Mitunter allerdings weichen wir von der Regel ab und führen Verhaltensweisen nicht auf personale Faktoren, sondern auf äußeren Druck zurück. Und zwar genau dann, wenn die Umstände, die das Verhalten begünstigen, offensichtlich und stark sind (oder zu sein scheinen). Als Gustl Mollath den Maßregelvollzug endlich verlassen durfte, da klammerte er sich an eine Topfpflanze, die er während seiner Haft liebevoll betreut hatte. Vermutlich wird ihm niemand unterstellen, dass dafür ein Persönlichkeitsmerkmal, eine Topfpflanzen-Philie verantwortlich sei. Vielmehr wird man unterstellen, dass er in seiner Umgebung halt wenig Auswahl gehabt habe, um seine Liebe zu verschenken. Es mag ja sein, dass er tatsächlich eine Topfpflanzen-Philie hat; darum geht es nicht; hier geht es um uns, um die Ursachen unserer Neigungen zur Kausalattribution menschlichen Verhaltens.
Wenn man in einem Experiment Versuchspersonen zufällig die Aufgabe gibt, schlechte oder gute Nachrichten zu verlesen, dann werden die Leute mit den schlechten Nachrichten von Beobachtern tendenziell als eher chronisch depressiv eingestuft als die Leute mit den guten Nachrichten (2). Sogar wenn man den Beobachtern sagt, dass Äußerungen den Versuchspersonen zufällig zugeordnet wurden, bleibt die Tendenz bestehen, sie damit zu identifizieren (3). Norbert Nedopil schätzte Gustl Mollath als misstrauisch ein. Der Angeklagte mag Verhaltensweisen gezeigt haben, in denen sich Misstrauen bekundete. Allein, die Frage bleibt: Verhielt er sich so, weil ihn ein Persönlichkeitsmerkmal dazu trieb?
Eine kleine Abschweifung sei gestattet: Gustl Mollath hat viele Unterstützer, noch mehr Menschen betrachten sein Geschick mit Sympathie. Warum? Weil sie ein ihnen innewohnender Gerechtigkeitssinn antreibt? Oder weil sie der Medienrummel um die Person Gustl Mollaths in Bann geschlagen hat? Wie viele Unterstützer, wie viele Sympathisanten wird der Gerechtigkeitssinn dazu bringen, sich um andere Opfer psychiatrischer Willkür zu kümmern, wenn der Fall Gustl Mollath erst einmal zu den Akten gelegt wurde? Mir sind eine ganze Reihe von Leuten bekannt, die nie zuvor durch besonderen Gerechtigkeitssinn im Allgemeinen und durch die Sorge um Psychiatrieopfer im Besonderen aufgefallen sind, die nun aber mit großer Leidenschaft die These vertreten, Gustl Mollaths sei das Opfer einer Verschwörung von Politikern, Psychiatern und Steuerhinterziehern.
Nun könnte man sich natürlich die Frage stellen, ob Mollaths starker Widerstand gegen den situativen Druck während seiner psychiatrischen Haft nicht beweise, dass seine Persönlichkeit einen starken Einfluss auf sein Verhalten habe. Schließlich verweigerte er sich jeder Behandlung, gaukelte dem Personal auch keine “Krankheitseinsicht” vor, obwohl er sich dafür belohnt worden wäre, wenn er sich williger gezeigt hätte. Das mag sein. Es ist aber auch nicht auszuschließen, dass, warum auch immer, vom Personal nicht beabsichtigt, Mollaths widerständiges Verhalten verstärkt und angepasstes Verhalten bestraft wurde.
Wir können natürlich nur dann die Rolle von situativen Faktoren einschätzen, wenn wir sie wahrnehmen oder sonstwie von ihnen Kunde erhalten können. Wir wissen nicht, welche Reaktionen Gustl Mollaths Verhalten im Maßregelvollzug auf das Personal und seine Mitgefangenen hervorrief und deswegen sind wir geneigt, es auf personale Faktoren zurückzuführen. Hätte er sich rollenkonform verhalten, wäre er ein braver Patient gewesen, dann würden wir seine Persönlichkeit eher nicht zur Erklärung seines Verhaltens heranziehen. Wenn einer nicht aus der Rolle fällt, dann tendieren wir dazu anzunehmen, dass der den Erwartungen entspricht, die sich in einer gegebenen Umgebung an ihn richten.
Die Frage lautet: Wurde Gustl Mollath während des Maßregelvollzugs systematisch anders behandelt, hatte sein Verhalten andere Konsequenzen als das Verhalten seiner Mitgefangenen, die sich dem Regime des psychiatrischen Gefängnisses unterwarfen? Man kann diese Grundfrage durchaus auch auf sein momentanes Verhalten vor Gericht übertragen: Führt sein Verhalten zu Reaktionen im und außerhalb des Gerichts, die zu seiner Aufrechterhaltung und Ausformung beitragen? Derartige Fragen sollte man zumindest gestellt und mögliche Antworten bedacht haben, bevor man zu Spekulationen über Persönlichkeitsmerkmale ansetzt, die sein Verhalten antreiben könnten.
Es ist durchaus denkbar, dass Mollaths Weigerung, im Maßregelvollzug die Krankenrolle zu spielen, heute zu Kausalattributionen animiert, die sein Verhalten generell eher auf Persönlichkeitsmerkmale zurückführen und nicht auf die Einflussgrößen seiner Umwelt. Rufen wir uns noch einmal ins Gedächtnis, mit welchen Attributen Nedopil ihn belegte:
“Nedopil schätzte den Angeklagten als kompromisslos, penetrant, rigide und misstrauisch ein. Zudem sah er Zeichen von mangelnder Flexibilität, Rechthaberei und Selbstüberschätzung.”
Würde man sich sehr wundern, wenn ein Arzt oder Pfleger ihn im Rückblick auf seine Zeit in psychiatrischem Gewahrsam so beschriebe? Man wird wohl kaum behaupten wollen, dass es sich in diesem Falle um eine objektive, neutrale Beschreibung seines Verhaltens handelte, sondern eher um eine Bewertung – eine Bewertung, die voraussetzt, dass das Normale, die Rollenkonformität nämlich, auch das Gute für alle Beteiligten sei.
Erwarten wir allen Ernstes, dass Gustl Mollath sich nun seinem Wiederaufnahmeverfahren kompromissbereit, zurückhaltend, flexibel und vertrauensvoll stellt. Dass er stets im Auge hat, dass auch andere Recht haben könnten und dass seine eigenen Fähigkeiten Grenzen haben. Wenn wir all dies erwarten, wenn wir meinen, dass er die Rolle eines mustergültigen, zu Unrecht beschuldigten Angeklagten spielen müsse, dann freilich liegt es nahe, sein reales Verhalten als Ausdruck der von Nedopil genannten Persönlichkeitsmerkmale zu deuten.
Die Frage ist nur, ob ihm dieses Verfahren im Scheinwerferlicht des öffentlichen Interesses Gelegenheit dazu gibt, diese Rolle zu spielen.
- Wäre es für die Medien nicht viel interessanter, wenn er aus der Rolle fiele, als wenn er sie spielte?
- Käme es nicht einer zumindest teilweisen Ehrenrettung für Justiz und Psychiatrie gleich, wenn er nicht ein wenig “auffällig” würde?
Solche Fragen verweisen auf mögliche Bereitschaften, selektiv verstärkend auf Mollaths Verhalten zu reagieren. Einzelne Akteure könnten, selbst wenn dies nicht ihre bewusste Absicht ist, in diesem Sinn selektiv operieren. Aufgrund der bekannten Neigung zur Korrespondenzverzerrung hätten viele dann eine Erklärung parat, die den tatsächlichen Sachverhalt auf den Kopf stellt. Der Prozess, der aus vielen Gründen Gefahr läuft, zur Farce zu entarten, stellt für alle Beteiligten eine große Herausforderung dar, nicht nur für Gustl Mollath.
Anmerkungen
(1) Gilbert, D. T. & Malone, P. S. (1995). The Correspondence Bias. Psychological Bulletin, January 1995 Vol. 117, No. 1, 21-38
(2) Gilbert, D. T., Pelham, B. W. & Krull, D. S. (1988). On cognitive busyness: When person perceivers meet persons perceived. Journal of Personality and Social Psychology, 54, 733—740
(3) Jones, E. E. & Harris, V. A. (1967). The attribution of attitudes. Journal of Experimental Social Psychology, 3, 1—24
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