Auf dem Marktplatz der Psychiatrie werden viele verschiedene Definitionen des “Wahns” feilgeboten, so wie ja auch im Basar der Physik viele Definitionen des “Elektrons” im Angebot sind. Wer nun meint, dieser erste Satz sei reichlich polemisch und man könne nun einmal die Psychiatrie nicht mit der Physik vergleichen, möge sich Rechenschaft darüber ablegen, warum genau man die Psychiatrie nicht mit der Physik vergleichen können sollte. Hätte ich schreiben sollen: Auf dem Marktplatz der Psychiatrie werden viele Definitionen der “Schizophrenie” angeboten, wie ja auch im Basar der Chemie viele Definitionen des “chemischen Gleichgewichts” im Angebot sind? Das würde vielleicht besser passen, da ja der psychiatrische Mainstream immer noch behauptet, die “Schizophrenie” würde durch ein chemisches Ungleichgewicht im Gehirn verursacht.
Doch Scherz beiseite. Generell gilt, dass eine Disziplin, die den Anspruch erhebt, naturwissenschaftlich fundiert zu sein, sich auch an naturwissenschaftlichen Maßstäben messen lassen muss. Dass die Psychiatrie eigenem Anspruch nicht gerecht wird, zeigt sich besonders deutlich am Beispiel des “Wahns”. Zwar konkurrieren eine Reihe von Wahndefinitionen miteinander, aber immerhin lässt sich ein gemeinsamer Nenner erkennen, der sich, nach dem neuesten Stand, im Blick auf die aktuelle Version der Diagnose-Bibel DSM-5, wie folgt zusammenfassen lässt:
Ein Wahn ist
- eine verfestigte Überzeugung
- an der, trotz rationaler Gegenargumente, unkorrigierbar festgehalten wird
- und die nicht in der Kultur oder Subkultur des Betroffenen üblich ist.
Entscheidend ist nicht unbedingt, was geglaubt wird, sondern wie geglaubt wird. Nachdem beispielsweise herauskam, das Gustl Mollaths “Schwarzgeldwahn” durchaus einen realen Hintergrund hatte, meinten einige Psychiater, ihre Wahn-Diagnose beibehalten zu können, weil er verbohrt an seinen “Schwarzgeldgeschichten” festhalte und nicht bereit sei, sie im Gespräch mit vernünftigen Menschen zu relativieren. Dabei erwähnten diese Psychiater allerdings einen Sachverhalt nicht, der ihre Wahn-Diagnose zu Fall bringt. Es ist nämlich in unserer Kultur heutzutage üblich und weit verbreitet, Banken alle erdenklichen Schandtaten zuzutrauen und Schwarzgeldverschiebungen für gar nicht so selten zu halten.
Es ist natürlich klar, warum den Psychiatern die dritte Einschränkung so wichtig ist. Sie möchten nicht in Konflikt geraten beispielsweise mit den Frommen, die glauben, während der heiligen Kommunikation würde tatsächlich Brot und Wein in das Fleisch und Blut Jesu Christi verwandelt. Man kommt mit solchen Einschränkungen allerdings leicht in Schwierigkeiten. Was ist, wenn ein mutmaßlich Wahnsinniger glaubwürdig versichern kann, sein Glaube, Napoléon zu sein, werde in seinem Psychotiker-Café im Zentrum der Stadtmission (also in seiner Subkultur) mehrheitlich geteilt?
Eine unkorrigierbare Überzeugung zu diagnostizieren ist die eine Sache, eine andere ist es, diese als einen Wahn, also eine Krankheit zu deuten. Die Idee dahinter ist ja, dass ein Wahn Ausdruck einer Störung im Gehirn oder (was immer das sein mag) der Psyche des Betroffenen sei. Mit anderen Worten: Ein Ablauf im Inneren des Individuums bringt den Wahn ursächlich hervor. Äußere Einflüsse mögen den Wahn verstärken, abschwächen oder auslösen; erklärt werden kann er aber durch diese externen Faktoren nicht, sondern nur durch eine innere Pathologie.
Nehmen wir einmal an, ein Mensch lebe allein in seiner Wohnung. Er beginne, Stimmen zu hören, obwohl niemand da ist. Sein Psychiater sagt ihm, er habe akustische Halluzinationen und sei vermutlich schizophren. Er liest im Internet, dass es böse Menschen gebe, die solche Erfahrungen durch elektromagnetische Wellen mit Hilfe von umgebauten Mikrowellengeräten hervorrufen. Sein Psychiater sagt ihm, dass so etwas gar nicht möglich sei und es keine Beweise für die Existenz von Geräten gebe, die dergleichen könnten. Der Mensch liest aber im Internet, dass keine psychiatrische Theorie des Stimmenhörens und der Schizophrenie bisher empirisch erhärtet werden konnte. Er zieht seine eigene Ursachentheorie der psychiatrischen Lehre vor, weil sich die Diagnose einer “Schizophrenie” partout nicht mit seinem Selbstbild vertragen will. Und so entwickelt er eine verfestigte Überzeugung, die sich auch gegenüber rationalen Gegenargumenten als resistent erweist. Im Kulturkreis dieses Menschen halten die meisten Leute seine Überzeugung für verrückt.
Setzen wir einmal voraus, dass die umgebaute Mikrowelle in der Tat nicht existiert oder, falls sie existiert, nicht in der Lage ist, die akustische Halluzination bei diesem Menschen hervorzurufen. Hat er dann einen Wahn? Oder befindet er sich nur in einem Irrtum, der durch das Phänomen des Stimmenhörens und durch seine bisherige Selbsteinschätzung (Selbstbild) vollständig erklärt werden kann? Falls ja, bliebe die Frage offen, warum er Stimmen hört, die sonst niemand hört. Doch dies ist kein Wahn, sondern eine mutmaßliche Halluzination, um die es hier nicht geht.
Man kann das verallgemeinern: Eine Überzeugung wird aufrechterhalten, wenn dies positive Wirkungen hat oder negative Wirkungen vermeidet. Im vorliegenden Fall hätte ein Wandel der Überzeugung hin zur psychiatrischen Sichtweise die negative Auswirkung einer Verringerung der Selbstachtung. Da glaubt der Mensch dann lieber, dass der böse Nachbar oder der Geheimdienst an seiner Misere schuld sei. Um solche Denkfehler zu begehen, muss man kein gestörtes Hirn und auch keine gestörte Psyche haben. Uns allen wohnt leider die Tendenz inne, eigene Fehler anderen in die Schuhe zu schieben.
Es fällt uns Menschen schwer, Rätsel zu ertragen. Wir wollen die Lösung. Darum sind Kriminalromane so beliebt. Darum ist für viele eine unzulängliche Erklärung besser als gar keine, und je weniger eine wirklich gute in Sicht ist, desto eher ist man bereit, sich mit einer mäßigen abzufinden, diese sogar überzubewerten, mit der Zeit. Menschen, die von schwer verständlichen Lebensbedingungen überwältigt werden, sind demgemäß gefährdet, einen “Wahn” zu entwickeln. Man kann natürlich auch Erklärungen von der Stange kaufen, indem man sich einer Kirche oder Sekte bzw. einer Partei oder weltanschaulichen Vereinigung anschließt. Dann ist man wegen der dritten Bedingung vor einem “Wahn” im psychiatrischen Sinne gefeit. Doch Leute mit einem “Wahn” sind oft sozial isolierte Leute, keine Kirchgänger oder Sektenjünger. Sind sie sozial isoliert, weil sie einen “Wahn” haben? Oder haben sie einen “Wahn”, weil sie sozial isoliert sind?
Wenn die Psychiatrie ihrem Anspruch gerecht werden will, eine naturwissenschaftlich fundierte Disziplin zu sein, dann müsste sich sich auf das konzentrieren, was sich beobachten lässt, nämlich Lebensbedingungen, Verhalten, Konsequenzen von Verhalten. Natürlich lässt sich nicht alles direkt beobachten, was hier eine Rolle spielen könnte. Beispielsweise entziehen sich Selbstbild und Selbstachtung der Beobachtung. Deswegen darf man solche Begriffe auch nur als hypothetische Konstrukte betrachten, mit denen man keine empirischen Zusammenhänge erhärten kann. Sie haben aber eine heuristische Funktion, die den Blick auf Beobachtbares lenkt. Man kann beispielsweise beobachten, dass Leute mit einem “Wahn” dazu neigen, diesen in der Hoffnung mitzuteilen, dass andere ihn für wahr befinden. Warum sollte das so wichtig sein, wenn es nicht um die Selbstachtung ginge?
Was man im Prinzip beobachten kann, ist eine Nicht-Übereinstimmung zwischen einer Aussage und einem realen Sachverhalt oder den Gesetzen der Logik. Auf der Beobachtungsebene kann man also einen Wahn von einem Irrtum nicht unterscheiden. Ein Irrtum aber ist nichts Pathologisches, selbst dann nicht, wenn “unkorrigierbar” an ihm festgehalten wird. Dazu neigen wir nämlich alle. Wir alle tendieren dazu, nach Informationen zu suchen, die unsere Überzeugungen stützen und solche zu ignorieren oder abzuwerten, die ihnen widersprechen. Davor sind auch jene Leute nicht gefeit, zu deren beruflichen Obliegenheiten die Diagnose des Wahns gehört.
The post Wahn appeared first on Pflasterritzenflora.