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Pommrenke: Logik der Macht

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In einem Beitrag für sein Blog “humana conditio” analysiert der Sozialwissenschaftler Sascha Pommrenke die forensische Psychiatrie am Beispiel der Gutachtertätigkeit in Sachen Gustl Mollath. Er gelangt zu dem Resultat, dass diese Gutachten teilweise haarsträubend seien. Dies haben vor ihm auch schon andere geschrieben; aber, immerhin, die rhetorische Brillanz macht den Artikel lesenswert. Allein, deswegen schreibe ich diesen Beitrag nicht. Vielmehr geht es mir um eine Aussage, die Pommrenke seinem Beitrag (“Die Logik der Macht”) voranstellt. Sie lautet:

“Solange Psychiater keine Krankheitseinsicht, also kritische Selbstreflexion der Grenzen und Möglichkeiten der eigenen Profession zeigen, solange muss die Psychiatrie als willkürlich und dadurch gefährlich gelten.”

Stellen wir uns vor, der Kraftfahrer Willibald hätte einen Lastkraftwagen, bei dem Bremsen und Steuerung nur eingeschränkt funktionsfähig sind. Dennoch fährt er bedenken- und gedankenlos damit herum. Nun sagen wir über Willibald:

“Solange Willibald keine Krankheitseinsicht, also kritische Selbstreflexion der Grenzen und Möglichkeiten seines Fahrzeugs zeigt, solange muss es als unberechenbar und gefährlich gelten.”

Wer nun meint, man könne die Psychiatrie nicht mit Willibalds Laster vergleichen, der irrt sich gewaltig. Denn:

Psychiatrische Diagnosen sind nicht reliabel und nicht valide. Sie diagnostizieren nicht, was sie zu diagnostizieren vorgeben: psychische Krankheiten. Dies habe ich ausführlich u. a. in folgenden Beiträgen begründet:

- Die psychiatrische Diagnostik

- Psychiatrische Diagnostik – Brett vorm Kopf

- Psychiatrie – Diagnostik – Fehlerquellen

- Noch einmal Diagnostik: Der Blei-Standard

- Was taugen psychiatrische Diagnosen

- Psychiatrische Gutachten

- Psychiatrie – Diagnostik – Symptom – Phänomen

- Abkehr vom medizinischen Modell der Diagnostik

- Da ist schon was: F99

Psychiatrische Prognosen sind – allenfalls – nicht nennenswert besser als eine Glaskugelschau. Auch dies habe ich bereits wiederholt in der Pflasterritzenflora thematisiert:

- Mollath und die Gutachter

- Klinische und statistische Vorhersagen

- Psychiatrie und Justiz

- Gutachten in der Psychiatrie

- Gute und schlechte Gutachten

- Ist Mollath immer noch gefährlich

- Mollath zu Recht hinter Gittern?

Man kann die Psychiatrie also durchaus mit einem nicht mehr verkehrssicheren Lastkraftwagen vergleichen. Und wenn man die Psychiatrie in diesem Licht betrachtet, dann muss Pommrenkes Einlassung widersinnig erscheinen:

“Solange Psychiater keine Krankheitseinsicht, also kritische Selbstreflexion der Grenzen und Möglichkeiten der eigenen Profession zeigen, solange muss die Psychiatrie als willkürlich und dadurch gefährlich gelten.”

Willibalds Fahrzeug würde nicht sicherer, wenn der Fahrer die Möglichkeiten und Grenzen seines Transporters kritisch reflektierte. Er müsste ihn von Grund auf erneuern und ausrangieren.

Pommrenke schreibt:

“Dass die psychiatrische Begutachtung keineswegs wissenschaftlichen Standards genügt, soll im Folgenden anhand zentraler Beispiele des Falles Mollath aufgezeigt werden. Damit einher geht die Erkenntnis, dass psychiatrische Gutachten sehr wohl einen erheblichen Spielraum für Willkür zulassen.”

Fakt ist:

  • Es gibt keine objektiven Verfahren, um “psychisch Kranke” von “psychisch Gesunden” zu unterscheiden.
  • Menschliches Verhalten in komplexen Situationen, deren Bedingungen steter Änderung unterliegen, kann nur in engen Grenzen vorhergesagt werden.

Deswegen beruhen psychiatrische Urteile stets auf Mutmaßungen. Deswegen zeichnen sich psychiatrische Gutachten nicht durch einen erheblichen Spielraum für Willkür aus. Sie sind Willkür. Kritische Selbstreflexion könnte genau nur dies ans Licht bringen. Willibald müsste seinen Laster nicht nur verschrotten; er müsste auf ein für den angestrebten Zweck besser geeignetes Fahrzeug umsteigen.

Doch halt: Welcher Zweck wird eigentlich angestrebt. Wenn der eigentliche, aber heimliche Zweck darin besteht, Menschen zu kontrollieren, die stören, dann mag die Psychiatrie durchaus diesen Zweck mehr schlecht als recht erfüllen, wenn man von unvermeidlichen Kollateralschäden einmal absieht. Allein, wenn es darum geht, Menschen mit Problemen des Verhaltens und Erlebens Wege zu einem erfüllteren Leben zu ebnen, dann versagt die Psychiatrie kläglich. Auch dafür finden sich zahllose empirische Belege in der Pflasterritzenflora.

Und sie muss versagen, weil sie von falschen Voraussetzungen ausgeht. Wer behauptet, es gäbe psychisch Kranke, muss zumindest eine Person vorweisen können, auf die diese Behauptung zutrifft. Es gibt aber keine objektiven Verfahren, um psychisch Kranke von psychisch Gesunden zu unterscheiden. Dieser Existenzbeweis steht aus, solange die Psychiatrie als medizinische Spezialdisziplin existiert.

Da die Psychiatrie behauptet, psychische Krankheiten würden im Kern durch Störungen im Nervensystem hervorgerufen (wobei soziale Faktoren als Auslöser bzw. verstärkend oder abschwächend eine Rolle spielen können), müsste sie auch zeigen können, dass zumindest einer ihrer Patienten tatsächlich eine solche Störung hat. Ja, sicher, es gibt bekannte neurologische Störungen mit Auswirkungen auf das Verhalten und Erleben, aber die sind ein Fall für den Neurologen, nicht für den Psychiater. Bei den eigentlichen so genannten psychischen Krankheiten, wie Schizophrenie, Depression, Persönlichkeitsstörungen etc., sind keine körperlichen Ursachen bekannt. Entsprechend gibt es auch keine Biomarker, keine Laborbefunde, keine Brain Scans, mit denen man eine psychiatrische Diagnose erhärten könnte. Was also haben Ärzte in diesem Bereich zu suchen?

The post Pommrenke: Logik der Macht appeared first on Pflasterritzenflora.


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