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Rat für evidenzbasierte Psychiatrie

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Als mir zum ersten Mal dieser Name begegnete,

The Council of Evidence-Based Psychiatry,

vermutete ich, dass sich dahinter eine der vielen Organisationen verbergen würde, die, mit offener oder versteckter finanzieller Unterstützung durch die Pharmaindustrie, die Steigerung der Gewinne dieser Unternehmen zu ihrem Anliegen gemacht haben. Denn nach meiner Erfahrung sprudeln nicht weit entfernt die Geldtöpfe der Pharmaindustrie, wenn irgendwo der Ruf “evidence-based” im Zusammenhang mit einer medizinischen Teildisziplin erklingt.

Und so suchte ich zunächst nach Hinweisen auf Verbindungen mit der Pharma-Industrie, als ich die Website des “Council of Evidence-Based Psychiatry” zum ersten Mal in Augenschein nahm. Es hat sich meist als zielführend erwiesen, sich zu diesem Zweck die Mitgliederliste solcher Räte, Gremien etc. anzuschauen. Betrachtet man die formalen Qualifikationen der hier aufgeführten Persönlichkeiten, so könnte man durchaus den Verdacht in sich nähren, dass ein vertrauensvoller Umgang mit den Größen der Wirtschaft für diese Leute zum Alltag gehört.

Wir finden hier u. a.:

  • James Davies, Senior Lecturer für Soziale Anthropologie und Psychotherapie an der Universität von Roehampton
  • Peter C. Gøtzsche, Professor für Klinisches Forschungsdesign und Analyse der Universität von Copenhagen
  • Peter Kinderman, Professor für Klinische Psychologie und Vorstand des psychologischen Instituts der Universität von Liverpool
  • Joanna Moncrieff, Senior Lecturer für  Psychiatrie des University College in London
  • Sami Timimi, Gastprofessor für Psychiatrie der Kinder und Heranwachsenden der Universität von Lincoln
  • John Sandwich (Earl of Sandwich), Mitglied des Oberhauses Großbritanniens

Nur wer sich in der britischen und internationalen Psycho-Szene ein wenig auskennt, weiß, dass hier der erste Eindruck täuscht. Und da dies auf mich zutrifft, war ich auch nicht mehr sehr überrascht, als ich auf der Homepage folgenden Hinweis fand:

“Bitte zu beachten, dass der CEP keine externen Finanzmittel für seine Website und Aktivität erhalten hat. Er hat minimale Auslagen, und diese wurden durch Mitgliedsbeiträge ausgeglichen. Die Mitglieder verausgaben ihre Zeit und Energie auf freiwilliger Basis.”

(“Please note that CEP hasn’t received any external funding for its website and activities.  It has minimal out-of-pocket costs and these have been met by member contributions. Members give their time and energy on a voluntary basis.”)

Ja, wer sollte denen auch etwas geben? – Wenn sie gleich auf der ersten Seite schreiben:

Der CEP existiert, um Menschen und Institutionen im UK auf die Evidenz für die potenziell schädlichen Wirkungen psychiatrischer Medikamente, die etwas bewegen kann, aufmerksam zu machen. Die wissenschaftliche Erfahrung zeigt klar, dass psychiatrische Medikamente, die von Teilen der medizinischen Profession als sicher und effektiv dargestellt werden, häufig bei vielen Patienten zu schlechteren Ergebnissen führen, insbesondere, wenn sie langfristig eingenommen werden.”

(“CEP exists to communicate evidence of the potentially harmful effects of psychiatric drugs to the people and institutions in the UK that can make a difference. The scientific record clearly shows that psychiatric medications, portrayed as safe and effective by areas of the medical profession, often lead to worse outcomes for many patients, particularly when taken long term.”)

Evidenzbasierung steht hier also nicht nur drauf, sondern ist auch drin.

Denn, was in der Rubrik “Unrecognized Facts” behauptet wird, entspricht uneingeschränkt den Tatsachen:

“Die meisten Menschen nehmen an, dass die Psychiatrie wie jeder andere Zweig der Medizin sei, mit objektiven Tests für Diagnosen und medikamentösen Therapien, die reale Krankheiten behandeln. In Wirklichkeit jedoch unterscheiden sich psychiatrische Diagnosen und Therapien enorm von Diagnosen und Therapien beispielsweise für Krebs oder Diabetes, da es bei den psychischen Störungen keine bekannten biologischen ‘Krankheiten’ mit psychiatrischen Medikamenten zu behandeln gibt.”

“Most people assume that psychiatry is just like any other branch of medicine, with objective tests for diagnoses and drug treatments that cure real diseases.  In reality, however, psychiatric diagnoses and treatments differ enormously from diagnoses and treatments for say cancer or diabetes, since, for mental disorders, there are no known biological ‘diseases’ for psychiatric drugs to ‘treat’.”

In Deutschland ist man geneigt, bei solchen Auffassungen den Scientology-Verdacht als Gewissheit auszusprechen – aber nein, es handelt sich hier nicht um eine Gruppe von Hollywood-Schauspielern, sondern der Rat für evidenzbasierte Psychiatrie besteht aus einer Reihe von Persönlichkeiten, deren Namen in der internationalen Fachwelt einen guten Klang haben.

Peter C. Gøtzsche beispielsweise, dessen radikale Abrechnung mit der Pharmaindustrie (1) viel Kritik von interessierter Seite, verbunden mit Zweifeln an seiner Qualifikation, auf sich zog, darf von sich sagen:

“Als Beispiel: Ich habe mehr als fünfzig Fachartikel in den “Big Five” (BMJ, Lancet, JAMA, NEJM, Annals) publiziert, was nur sehr wenige Leute in der Welt geschafft haben. Ich glaube deshalb, dass meine Zeugnisse in Ordnung sind.”

“As an example, I have published more than 50 papers in the big five (BMJ, Lancet, JAMA, NEJM, Annals), which very few people in the world have done. So I think my credentials and my centre are okay.”

Und Gøtzsche steht nun wirklich nicht allein mit seiner Einschätzung, dass große Teile der Pharmaindustrie die empirische Forschung massiv zu ihren Gunsten verfälscht haben; ich erwähne nur Bücher von Goldacre, Healy und Whitaker (2, 3, 4); andere, gleichwertige, würden eine lange Liste ergeben. Und sie bliebe auch lang, wenn man die Spinner aussortierte und nur die Werke renommierter Hochschullehrer und anerkannter Spezialisten in sie aufnähme.

Ich möchte mich hier nicht im Detail mit der Fülle empirischer Studien auseinandersetzen, auf die sich diese Autoren stützen. Es zeigt sich, dass Studien mit Sponsoren aus der Pharma-Industrie systematisch ein anderes Bild ergeben als Untersuchungen, die mit staatlichen Mitteln finanziert wurden (5). Es gibt zum Glück genügend unabhängige Forschungen, um eine seriöse Beurteilung der Effizienz, der Risiken und “Nebenwirkungen” vieler gängiger Medikamente, nicht nur im psychiatrischen Bereich, zu gestatten. Wer einen schnellen Überblick über die Medikamente im psychiatrischen Bereich sowie über die Rahmenbedingungen ihres Einsatzes sucht, sei auf die Sparte “Unrecognised Facts” der Website des Councils verwiesen.

Die Schlussfolgerungen, die hier aus den vorliegenden seriösen Studien gezogen werden, sind aus meiner Sicht verhältnismäßig moderat; mir käme es beispielsweise nicht in den Sinn zu behaupten, dass Antidepressiva bei schweren Depressionen, zumindest kurzfristig, einigermaßen nützlich seien (“provide some benefit for severe depression, at least in the short term”). Aber ich muss anerkennen, dass solche abwiegelnden Formulierungen zumindest einen gewissen Schutz vor den allerschlimmsten Stürmen der Entrüstung bieten könnten.

Die Unter-Rubriken der “Unrecognised Facts” sind im Übrigen zweigeteilt; hier ein Beispiel: Negative Facts are often misdiagnosed. Unter dem linken Reiter findet der Interessierte ein Video, in dem ein Mitglied des Rats die wichtigsten Sachverhalte zusammenfasst. Klickt man den rechten Reiter an, erscheint ein ausführlicher Text mit Quellenangaben.

Leider gibt es meines Wissens nichts Vergleichbares auf Deutsch. Die Pflasterritzenflora bemüht sich zwar, ähnliche Gedanken zu kommunizieren, aber erstens bin ich nur einer, zweitens nicht berühmt und drittens produziere ich keine Videos. Renommierte Fachleute im deutschen Sprachraum denken entweder nicht evidenzbasiert (sondern vielleicht eher evidence-biased) oder sie halten sich (nicht nur im Internet) vornehm zurück. Auch im englischen Sprachraum stellen Leute wie die Mitglieder des Counsils eine Minderheit dar, keine Frage, aber sie bilden eine sichtbare und sprachgewaltige Minorität respektabler Leute.

Es bleibt zu betonen, dass die Ratsmitglieder keineswegs Gegner der Psychiatrie insgesamt oder Antipsychiater sind, die für die Abschaffung der Psychiatrie plädieren. Vielmehr sehe ich sie als Menschen an, die den Schaden begrenzen wollen, der von Teilen der Pharmaindustrie in dieser Disziplin angerichtet wurde. Sie beschränken sich dabei aber nicht nur auf eine Kritik der einschlägigen Produkte, sondern sie stellen das medizinische Modell psychischer Krankheiten und die damit verbundene Diagnostik in Frage, wohl auch, weil sie erkannt haben, dass dieses Modell zwangsläufig zu einer nicht gerechtfertigten Bevorzugung des medikamentösen Ansatzes führt.

Anmerkungen

(1) Gøtzsche, P. C. (2013). Deadly Medicines and Organised Crime: How Big Pharma Has Corrupted Healthcare. London: Radcliffe Medical Press Ltd.

(2) Goldacre, B. (2012). Bad Pharma. London: Fourth Estate

(3) Whitaker, R. (2010). Anatomy of an Epidemic. New York: Broadway Paperbacks

(4) Healy, D. (2013). Pharmaggedon. Oakland: University of California Press

(5) Lexchin, J. et al. (2003). Pharmaceutical industry sponsorship and research outcome and quality: systematic review. BMJ, 326:1167

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