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EX-IN. Experienced Involvement. Evidence-based Psychiatry. Evidenz-basiert?

Die evidenz-basierte Medizin stützt sich auf empirisch erhärtetes Wissen. Dabei werden drei Qualitätsstufen unterschieden:

Grad A: Randomisierte klinische Studien, homogene Stichproben, placebo-kontrolliert

Grad B: Randomisierte klinische Studien, heterogene Stichproben, nicht placebo-kontrolliert

Grad C: Beobachtungsstudien, Fallsammlungen, offene klinische Versuche (Gray 2002).

Die Evidenz-Basis in der Medizin im Allgemeinen ist, trotz einer unüberschaubaren Fülle von Studien auch hohen Grades, nicht besonders solide. Dies zeigte John Ioannidis ist seinem viel diskutierten Artikel: Why Most Published Research Findings Are False. Warum die meisten veröffentlichten Forschungsergebnisse falsch sind.

Dennoch ist die Evidenz-Basierung heute zum Motor, zwar nicht der Medizin, so doch des Medizin-Marketings geworden. Die Forschungslandschaft wird, folgt man dem Mediziner und Mitbegründer der Cochrane Collaboration, Peter Gøtzsche (Gøtzsche 2013), vom organisierten Verbrechen beherrscht und gnadenlos im Interesse der Pharmaindustrie manipuliert.

Auch die Psychiatrie hat sich die Evidenz-Basierung auf ihre Fahnen geschrieben. In keinem Teilgebiet der Medizin ist die Evidenz-Basis jedoch fragwürdiger als dort. Dazu habe ich mich ausführlich in einem Lexikon-Eintrag geäußert (Gresch 2014a). Die fehlenden wissenschaftlichen Grundlagen machen sich natürlich auch in der Praxis bemerkbar. EX-IN?

In einem Positionspapier zum Experienced Involvement heißt es:

“Mehr und mehr wird das, was als gute psychiatrische Praxis gilt durch evidenz-basierte Behandlung definiert. Viele Aspekte, die Menschen dabei unterstützen, wieder zu genesen, werden von einem evidenz-basierten Versorgungssystem jedoch nicht berücksichtigt und viele Nutzer sind unzufrieden mit den Angeboten. In ihrem Bemühen um Genesung nutzen Betroffene viele unterschiedliche soziale und individuelle Ressourcen. Viele dieser Möglichkeiten gelten in der wissenschaftlichen Psychiatrie sicherlich nicht als evidenz-basiert, aber außerhalb dieses Fachgebietes gibt es dennoch wissenschaftliche Anerkennung, insbesondere in Bereichen, die Erfahrungswissen einbeziehen. Menschen, die psychische Krisen durchleben, die psychiatrische Dienste nutzen, verfügen über ein umfangreiches Wissen über unterstützende Haltungen, Methoden und Strukturen, dem im traditionellen Versorgungssystem kaum Beachtung geschenkt wird.”

Dieses Statement findet sich in der Website von EX-IN Ostwestfalen-Lippe (EX-IN-OWL). Diese Organisation gehört zum EX-IN-Netzwerk in Deutschland. Das Web-Angebot dieses Netzwerks definiert EX-IN wie folgt:

“Ex-In ist ein Pilotprojekt, das aus dem europäischen Programm Leonardo da Vinci gefördert wird. Ziel des Projektes ist die Qualifizierung von Psychiatrie Erfahrenen, um als DozentIn oder als MitarbeiterIn in psychiatrischen Diensten tätig zu werden. Im Rahmen des Projektes arbeiten Psychiatrie-Erfahrene, psychiatrische Fachkräfte und Ausbilder aus 6 europäischen Ländern zusammen, um eine spezifische Ausbildung zu entwickeln, die auf dem Erfahrungswissen der TeilnehmerInnen basiert.”

Der folgenden Satz aus dem Papier von EX-IN-OWL gibt zu denken:

“Viele Aspekte, die Menschen dabei unterstützen, wieder zu genesen, werden von einem evidenz-basierten Versorgungssystem jedoch nicht berücksichtigt und viele Nutzer sind unzufrieden mit den Angeboten.”

Hier gilt es zunächst einmal zu konstatieren, wie die Evidenz-Basis der Psychiatrie aussieht: Die psychiatrischen Diagnosen sind nicht hinlänglich reliabel und valide (Gresch 2014b); die Effizienz der Psychotherapie beruht vor allem auf dem Glauben daran (Gresch 2014c);  die medikamentöse Behandlung schadet oft mehr als sie nutzt (Gresch 2014d).

Worauf, wenn nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, beruht die evidenz-basierte Psychiatrie? Warum macht ihr Angebot viele Nutzer unzufrieden? Vielleicht fußt sie ja auf gar nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern auf Interessen, die außer Peter Gøtzsche (2013) (organisiertes Verbrechen) beispielsweise auch Ben Goldacre (2013) (Bad Pharma) herausgearbeitet hat.

Mir stellt sich die Frage, warum unter diesen Bedingungen Psychiatrie-Erfahrene ausgebildet werden müssen, um als Helfer in das vorhandene psychiatrische System integriert zu werden. Bei EX-IN-OWL heißt es:

“Menschen, die psychische Krisen durchleben, die psychiatrische Dienste nutzen, verfügen über ein umfangreiches Wissen über unterstützende Haltungen, Methoden und Strukturen, dem im traditionellen Versorgungssystem kaum Beachtung geschenkt wird.”

Warum also baut man nicht ein neues, ein nicht-psychiatrisches System auf, das sich nicht auf psychiatrisches Nicht-Wissen, sondern auf das umfangreiche Wissen der Betroffenen über unterstützende Haltungen, Methoden und Strukturen  stützt?

Als in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die ersten Zentren für Drogenabhängige ins Leben gerufen wurden, spielten die so genannten Ex-User, also abstinente ehemals Drogenabhängige eine wesentliche, eine mitunter entscheidende Rolle. Wenige Jahre später war dieser Einfluss zurückgedrängt worden, Diplom-Psychologen, vor allem aber Mediziner hatten nun das Heft fest in der Hand.

Ein Psychiater sagte mir damals, anfangs habe man die Ex-User noch gebraucht, weil man ohne sie nicht gewusst hätte, wie man das Haus drogenfrei halten solle. Nun aber wisse man alles Wesentliche. Dieser Psychiater war folgerichtig die treibende Kraft, um Ex-User aus der “medizinischen Rehabilitation” Drogenabhängiger zu verdrängen.

Man mag ja gegen die evidenz-basierte Psychiatrie einwenden, was man will, aber man kann nun wirklich nicht bestreiten, dass sie lernfähig ist.

Literatur

Goldacre, B. (2012). Bad Pharma. London: Fourth Estate

Gøtzsche, P. (2013). Deadly Medicines and Organised Crime: How Big Pharma has Corrupted Healthcare. Radcliffe

Gray G. E. (2002). The philosophy and methods of evidence-based medicine: an introduction for psychiatrists. Dir Psychiatry, 22:165-173

Gresch, H. U. (2014a). Grundfragen der biologischen Psychiatrie. Pflasterritzenflora

Gresch, H. U. (2014b). Grundfragen der psychiatrischen Diagnostik. Pflasterritzenflora

Gresch, H. U. (2014c). Grundfragen der Psychotherapie. Pflasterritzenflora

Gresch, H. U. (2014d). Rat für evidenz-basierte Psychiatrie. Pflasterritzenflora

Ioannidis J. P. A. (2005) Why Most Published Research Findings Are False. PLoS Med 2(8): e124. doi:10.1371/journal.pmed.0020124

Gray GE. The philosophy and methods of evidence-based medicine: an introduction for psychiatrists. Dir Psychiatry. 2002;22:165-173 – See more at: http://www.psychiatrictimes.com/articles/why-evidence-based-medicine-cannot-be-applied-psychiatry/page/0/2#sthash.9OMiuN3N.dpuf
Gray GE. The philosophy and methods of evidence-based medicine: an introduction for psychiatrists. Dir Psychiatry. 2002;22:165-173 – See more at: http://www.psychiatrictimes.com/articles/why-evidence-based-medicine-cannot-be-applied-psychiatry/page/0/2#sthash.ZBPoVBLQ.dpuf
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